Leitsatz (amtlich)
Unter den Begriff "behördliche Maßnahmen" iS des BVG § 5 Abs 1 Buchst b fällt ein hoheitliches Handeln der Behörde in Ausübung der öffentlichen Gewalt, ohne daß stets die Merkmale eines im verwaltungsgerichtlichen Verfahren anfechtbaren Verwaltungsakts vorzuliegen brauchen.
Bei einem Fliegeralarm ist behördliche Maßnahme im Sinne des BVG § 5 Abs 1 Buchst b nicht nur das Ertönen der Sirenen, sondern alles, was nach den damaligen gesetzlichen Vorschriften und Verwaltungsanordnungen nach Abgabe des Alarmzeichens von der Bevölkerung als Verhalten erwartet wurde, zB der Transport des sogenannten Luftschutzgepäcks in den Luftschutzraum.
Normenkette
BVG § 5 Abs. 1 Buchst. b Fassung: 1953-08-07
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 4. Mai 1956 aufgehoben. Die Sache wird an dieses Gericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die am 2. Februar 1903 geborene Klägerin beantragte im Dezember 1950 die Gewährung von Versorgung wegen einer Arthrosis deformans des rechten Hüftgelenks. Sie machte geltend, mit 4 1/2 Jahren sei bei ihr eine Hüftgelenksluxation durch fachärztliche Behandlung behoben worden; etwa 1940 habe sie erstmalig schmerzhafte Beschwerden durch dieses Leiden bemerkt, die sich durch häufige stundenlange Aufenthalte im ungeheizten Luftschutzraum und dadurch verursachte starke Erkältungen verschlimmert hätten. Gestützt auf eine Bescheinigung des Facharztes für Orthopädie Dr. H. vom 10. Juni 1951 und auf ein Versorgungszeugnis des Vertragsarztes Dr. W. vom 10. September 1951 lehnte das Versorgungsamt durch Bescheid vom 10. Februar 1952 auf Grund des (Berliner) Gesetzes über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstbeschädigten sowie ihrer Hinterbliebenen vom 24. Juli 1950 (VOBl. für Groß Berlin S. 318) - KVG - und des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) die Gewährung von Versorgung ab, weil es sich um die schicksalsmäßige Verschlimmerung einer angeborenen Entwicklungsstörung des Hüftgelenks ohne ursächlichen Zusammenhang mit einer unmittelbaren Kriegseinwirkung handele. Der Einspruch der Klägerin blieb nach Heranziehung von Untersuchungsbefunden des Dr. H. vom 16. Mai 1947 und 12. Januar 1949 sowie einer Stellungnahme des Dr. Sch. vom 30. Juni 1953 erfolglos, weil die Arthrosis deformans ein angeborenes Leiden sei und sich durch die von der Klägerin angegebenen Umstände nicht verschlimmert habe.
Die Klägerin hat Klage erhoben und eine ärztliche Bescheinigung des praktischen Arztes Dr. H. vom 2. Dezember 1953 vorgelegt. Das Sozialgericht hat von dem Facharzt für Orthopädie Dr. H. das Gutachten vom 4. Januar 1955 erstatten lassen und hat durch Urteil vom 24. März 1955 unter Aufhebung des Bescheides des Versorgungsamts den Beklagten verurteilt, das Hüftgelenksleiden als Folge der Kriegseinwirkung als Versorgungsleiden im Sinne der Verschlimmerung anzuerkennen und eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 30 v.H. ab 1. Juli 1950 zu gewähren. Es hat unter Berücksichtigung einer vom Beklagten beigebrachten Äußerung des Facharztes für Chirurgie Dr. F. vom 22. Januar 1955 ausgeführt, das Leiden der Klägerin sei nach dem Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. H. durch den Aufenthalt im Luftschutzraum verschlimmert worden. Der Klägerin stehe nach § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG eine Entschädigung zu. Die MdE. für die eingetretene Verschlimmerung betrage nach ärztlichem Gutachten 30 v.H.
Der Beklagte hat Berufung eingelegt und ausgeführt, das Leiden der Klägerin sei durch die Kriegsverhältnisse nicht verschlimmert worden. Insoweit hat er sich auf eine Stellungnahme des Ober-Reg.Med.Rats Dr. F. vom 16. April 1955 bezogen. Durch Urteil vom 4. Mai 1956 hat das Landessozialgericht das angefochtene Urteil abgeändert, die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen. Es hat festgestellt, unmittelbare Einwirkungen von Kampfhandlungen auf die Gesundheit der Klägerin, z.B. Verwundungen durch Bomben oder Flakgeschoßsplitter, lägen nicht vor. Im übrigen hat es geprüft, ob die Klägerin nach den Vorschriften des KVG und nach § 1 Abs. 2 Buchst. a in Verbindung mit § 5 Abs. 1 BVG ihre Ansprüche schlüssig geltend gemacht habe. Das Berufungsgericht hat diese Frage unter Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 15. November 1955 (abgedruckt BSG. 2 S. 29 ff.) verneint, weil keine unmittelbare Einwirkung von Kampfhandlungen oder von behördlichen Maßnahmen vorgelegen habe. Zwei Badekuren in Teplitz seien keine behördlichen Maßnahmen im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG gewesen, ebensowenig treffe dies auf die Aufenthalte bei ihrer Mutter und bei Verwandten in Herrnstadt im Jahre 1940 und in Fraustadt in den Jahren 1942 und 1944 zu. Auch liege insoweit keine Flucht vor einer aus kriegerischen Vorgängen unmittelbaren drohenden Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. c BVG vor. Da das Vorbringen der Klägerin nicht schlüssig sei, brauche der ursächliche Zusammenhang des Leidens mit etwaigen Einwirkungen durch Kriegsereignisse nicht nachgeprüft zu werden.
Die Klägerin hat Revision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Berlin vom 4. Mai 1956 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. März 1955 als unbegründet zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache unter Aufhebung des vorderen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückzuverweisen.
Sie rügt mit näherer Begründung eine unrichtige Anwendung des § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG.
Der Beklagte hat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die Revision ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Daher ist sie zulässig.
Soweit die Prozeßvoraussetzungen für das Klage- und Berufungsverfahren von Amts wegen zu prüfen sind (BSG. 2 S. 225; 4 S. 70 (72)), hat das Landessozialgericht zu Recht entschieden, daß ein wirksames Urteil erster Instanz vorliegt, das dem weiteren Verfahren in der Berufungs- und auch in der Revisionsinstanz als Grundlage dienen kann. Aus dem Urteil des Berufungsgerichts ergibt sich, daß der Vorsitzende der Kammer des Sozialgerichts zunächst wirksam zum Richter bestellt worden ist. Wenn auch der Bestellung Mängel angehaftet haben mögen, die zu der Abberufung des Kammervorsitzenden geführt haben, so wird hierdurch die Gültigkeit der Entscheidung, an denen der betreffende Richter mitgewirkt hat, nicht berührt (vgl. BSG. 2 S. 202 ff. (210)). Die Urteile sind vielmehr gültig und wirksam. Sie mögen im Einzelfall anfechtbar sein, jedenfalls liegt eine Nichtigkeit der Entscheidungen nicht vor. Infolgedessen konnte das Landessozialgericht in der Sache selbst entscheiden und brauchte den Rechtsstreit nicht an das Sozialgericht zurückzuverweisen. Ein von Amts wegen zu berücksichtigender Verfahrensverstoß liegt somit nicht vor. Die vom Senat zu treffende Entscheidung hängt daher von dem Ergebnis der materiellen Nachprüfung des Berufungsurteils ab.
Das Landessozialgericht hat die Revision zugelassen, weil es sich hinsichtlich der Frage, ob bestimmte Einwirkungen als "unmittelbare" Kriegseinwirkung im Sinne des KVG wie des BVG anzusehen seien, um Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung handele. Mithin bezieht sich die Zulassung auf Vorschriften aus beiden Gesetzen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG. 2 S. 106 ff.) sind jedoch die materiell-rechtlichen Vorschriften des KVG nicht revisibles Recht im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG. Infolgedessen kann die Revision nicht darauf gestützt werden, daß die angefochtene Entscheidung auf der Nichtanwendung oder einer unrichtigen Anwendung von Vorschriften des KVG beruhe. Daran ändert auch die Zulassung der Revision durch das Landessozialgericht nichts. Denn es ist rechtlich unmöglich, daß eine gemäß § 162 Abs. 2 SGG im Revisionsverfahren nicht nachprüfbare Rechtsnorm durch den Ausspruch der Zulassung revisibel wird (So für den Fall der Unzulässigkeit der Revision gemäß § 214 Abs. 5 SGG: BSG. 1 S. 104 ff. (106), SozR. SGG § 214 Da 3 ff. Nr. 8). Daher ist die Revision hinsichtlich der Ansprüche nach dem KVG nicht begründet (Haueisen in NJW. 1955 S. 1857; Peters-Sautter-Wolff § 162 SGG, Erläuterung 5). Hierdurch wird aber das zugelassene Rechtsmittel, soweit es sich um die Nachprüfung der Anwendung der revisiblen Vorschriften des BVG handelt, nicht berührt. Denn die Klägerin hat zwei selbständige Ansprüche geltend gemacht, und zwar den Anspruch nach dem KVG und den nach dem BVG. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist es möglich, die Zulassung auf nur einen Anspruch zu beschränken (BSG. 3 S. 135 ff.). Die Zulassung der Revision ist somit hinsichtlich der begehrten Nachprüfung der Gesetzesanwendung aus dem BVG wirksam. Das nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte und zulässige Rechtsmittel ist auch begründet.
Die Klägerin rügt zwar nur, daß § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG zu eng ausgelegt und damit unrichtig angewandt worden sei. Der Senat ist aber nicht auf diese Rüge beschränkt, sondern ist zu einer Nachprüfung des angefochtenen Urteils im vollen Umfange berechtigt und verpflichtet. Das Berufungsgericht hat das Vorbringen der Klägerin darauf geprüft, ob es nach § 1 Abs. 2 Buchst. a in Verb. mit § 5 Abs. 1 Buchst. a, b und c BVG einen Anspruch auf Versorgung begründen kann. Nach seinen nicht angefochtenen, mithin gemäß § 163 SGG das Revisionsgericht bindenden Feststellungen hat eine Schädigung der Klägerin durch unmittelbare Einwirkungen von Kampfhandlungen, wie z.B. Verwundungen durch Bomben oder Flakgeschoßsplitter nicht vorgelegen, so daß das Landessozialgericht im Anschluß an die in BSG. 2 S. 29 ff. abgedruckte Entscheidung vom 15. November 1955 zutreffend den § 5 Abs. 1 Buchst. a BVG als Anspruchsgrundlage ausgeschlossen hat. Auch die weiteren, von der Revision nicht angegriffenen Ausführungen im angefochtenen Urteil sind insoweit bedenkenfrei, als sie sich auf
die Strapazen bei den verschiedenen Verschickungen und der Evakuierung der Klägerin, auf die Belastungen mit schwerem Gepäck, langem Stehen bei den langen Fahrten in überfüllten Zügen, langem Warten auf den Bahnhöfen bei windigem und schlechtem Wetter,
die ungünstigen Wohnverhältnisse am Evakuierungsort in Schlesien und
die Unmöglichkeit, während der Kriegs- und Nachkriegsjahre die ärztlichen Heilverordnungen planmäßig und damit erfolgreich durchzuführen
beziehen und als das Urteil des Landessozialgerichts eine Anwendbarkeit der Vorschriften des § 5 Abs. 1 Buchst. b und c BVG auf diese Vorgänge verneint.
Demgegenüber ist die Auffassung des Berufungsgerichts, daß
die Erkältungen infolge des Aufenthaltes im feuchten und unzulänglichen Luftschutzraum des Hauses während der Fliegeralarme und
die Belastungen durch das Verbringen der beiden Kinder und des notwendigen Luftschutzgepäcks von der im I. Stock gelegenen Wohnung über den Hof in den unter dem Hinterhaus befindlichen Luftschutzraum
als Anspruchsgrundlagen nach § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG nicht in Betracht kämen, nicht frei von Rechtsirrtum. Das angefochtene Urteil hat die durch Mitnahme von sogenanntem Luftschutzgepäck und durch den feuchten Luftschutzraum verursachten Einwirkungen deshalb nicht als unmittelbare Auswirkungen der behördlichen Maßnahmen des Fliegeralarms angesehen, weil der Begriff "Fliegeralarm" eng auszulegen sei und nicht Zustände erfasse, denen alle Bevölkerungsteile für längere Zeit ausgesetzt waren. Zwar hat das frühere Bayerische Landesversicherungsamt im Urteil vom 17. Dezember 1951 (Amtsbl. des Bayer. Arbeits- und Sozialministeriums 1952 Teil B S. 63 a.E., 64) einen Anspruch wegen Schädigungen durch den Aufenthalt im Luftschutzkeller mit der gleichen Begründung abgelehnt. Nach dem o.a. Urteil des Bundessozialgerichts vom 15. November 1955 (BSG. 2 S. 35) kann ein derartiger allgemeiner Rechtssatz jedoch nicht den Vorschriften des BVG oder dem Willen des Gesetzgebers entnommen werden. Vielmehr müssen die Anspruchsvoraussetzungen für jeden Einzelfall geprüft werden.
Der Senat hatte daher von § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG auszugehen, wonach einer Schädigung im Sinne des Abs. 1 Schädigungen gleich stehen, die durch unmittelbare Kriegseinwirkungen herbeigeführt sind. Da für den hier zu entscheidenden Rechtsstreit Einwirkungen gemäß § 5 Abs. 1 Buchst. a und c BVG entfallen, kommen lediglich unmittelbare Kriegseinwirkungen gemäß § 5 Abs. 1 Buchst. b in Betracht. Nach dieser Vorschrift gelten als unmittelbare Kriegseinwirkungen, wenn sie im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege stehen, behördliche Maßnahmen in unmittelbarem Zusammenhang mit Kampfhandlungen oder ihrer Vorbereitung mit Ausnahme der allgemeinen Verdunklungsmaßnahmen.
Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 20. März 1956 (BSG. 2 S. 265 ff.) bereits entschieden, daß das Auslösen des Fliegeralarms durch das Ertönen der Sirene eine behördliche Maßnahme in unmittelbarem Zusammenhang mit Kampfhandlungen darstellt. Die Klägerin ist - im Gegensatz zu diesem früheren Rechtsstreit - durch das Ertönen der Sirene nicht zu Schaden gekommen. Sie hat dadurch keinen Schock und auch keine Verletzung erlitten. Es liegt also keine unmittelbare Einwirkung durch das Auslösen des Fliegeralarms vor. Vielmehr stützt sie ihren Anspruch auf Schädigungstatbestände, die nach dem Verstummen der Sirenen liegen. Der Senat hatte daher die in seiner früheren Entscheidung nicht behandelte Frage zu prüfen, ob und welche behördlichen Maßnahmen im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG neben der Abgabe des Alarmzeichens bei einem Fliegeralarm vorgelegen haben. Unter den gesetzlichen Begriff einer behördlichen Maßnahme fällt allgemein ein hoheitliches Handeln der Behörde in Ausübung der öffentlichen Gewalt, ohne daß stets die Merkmale eines im verwaltungsgerichtlichen Verfahren anfechtbaren Verwaltungsakts vorzuliegen brauchten. Bei einem Fliegeralarm, der nach § 2 der 10. Durchführungsverordnung (DVO) zum Luftschutzgesetz vom 1. September 1939 (RGBl. I S. 1570) durch Großalarmanlagen (Heulton) ausgelöst wurde, ist die Sirenenwarnung die von der Luftschutzpolizei ausgehende Aufforderung an die Bevölkerung gewesen, wegen eines zu erwartenden oder kurz bevorstehenden Fliegerangriffs sich luftschutzmäßig zu verhalten. Über das luftschutzmäßige Verhalten bei Fliegeralarm, - soweit es für den hier zu entscheidenden Rechtsstreit in Betracht kommt - schrieb § 2 der 10. DVO zum Luftschutzgesetz u.a. vor, daß Personen, die sich in Wohnungen befanden, sich sofort in die vorhandenen Luftschutzräume zu begeben hatten. Nach § 3 der 10. DVO wurde der Fliegeralarm für die Bevölkerung durch die Entwarnung aufgehoben. Nach der Entwarnung waren gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 1 a.a.O. der Luftschutzraum auf Anordnung ... zu verlassen. Wenn auch das Aufsuchen eines Luftschutzkellers nicht erzwingbar war (§ 10 Abs. 4 der 10. DVO vom 1.9.1939), war es doch zum luftschutzmäßigen Verhalten ebenso zu rechnen wie der Aufenthalt im Luftschutzraum und auch das Verlassen des Raumes bei der Entwarnung. Aber nicht nur dieses gesetzlich vorgeschriebene Handeln zur Sicherung des Lebens gehörte zu dem mit der Sirenenwarnung von den Behörden geforderten luftschutzmäßigen Verhalten der Bevölkerung; darunter fielen auch nach Auslösung des Fliegeralarms Maßnahmen der Betroffenen zur Vorbereitung für den Fall, daß durch die später folgenden tatsächlichen Kampfhandlungen die Wohnung mit der in ihr befindlichen Habe zerstört würde. Hierzu zählt u.a. die Mitnahme der notwendigen Kleidungs- und Wäschestücke, der Ausweis- und sonstigen wichtigen Papiere, von Decken (die ja schon im Luftschutzraum benötigt wurden) und auch eines gewissen Proviants. Hinsichtlich des Umfanges des Gepäcks muß berücksichtigt werden, daß alle diese Dinge damals bewirtschaftet und den Totalfliegergeschädigten nur in sehr begrenztem Umfang zur Neuanschaffung zugänglich waren und daß die zuständigen staatlichen Verwaltungsstellen die Mitnahme dieser für den täglichen Lebensbedarf notwendigen Gegenstände häufig empfohlen hatten. Insoweit lagen Handlungen der betroffenen Bevölkerung vor, die von vornherein behördlich gewollt waren und durch das Alarmzeichen herbeigeführt werden sollten; mit ihnen wurde eine behördliche Aufforderung - ein hoheitliches Handeln der Behörde in Ausübung der öffentlichen Gewalt - befolgt. Sie müssen daher als Auswirkung einer behördlichen Maßnahme im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG angesehen werden. Infolgedessen stellen die durch den Transport des notwendigen Gepäcks und durch den Aufenthalt im Luftschutzraum unmittelbar herbeigeführten Einwirkungen unmittelbare Kriegseinwirkungen im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG dar.
Entgegen dieser Rechtsauffassung hat das Landessozialgericht die Anwendbarkeit des § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG unter Bezugnahme auf die Verwaltungsvorschrift Nr. 1 Abs. 2 zu § 5 BVG deshalb verneint, weil der Begriff Fliegeralarm eng auszulegen sei und es daher an der unmittelbaren Einwirkung fehle. Hierzu hat der Senat in seinem bereits angeführten Urteil vom 20. März 1956 (BSG. 2 S. 269) ausgeführt, daß das Gesetz keineswegs Einwirkungen, denen weite Bevölkerungskreise ausgesetzt waren, als Schädigungstatbestand hat ausschließen wollen. Der Hinweis auf die erwähnte Verwaltungsvorschrift, die nur eine Anweisung an die Verwaltungsbehörde darstellt, greift nicht durch. Denn Einwirkungen durch allgemeine Mangelzustände usw. werden nicht etwa durch einen allgemein gültigen Rechtssatz ausgeschlossen, sondern sind nur deshalb keine unmittelbaren Kriegseinwirkungen, weil sie keine unmittelbaren Einwirkungen durch die in § 5 Abs. 1 BVG aufgeführten Tatbestände darstellen. Nur solche "nicht unmittelbaren" Einwirkungen sollten aber ausgeschlossen werden. Auch der Bezugnahme des Landessozialgerichts auf die enge Auslegung des Begriffs der unmittelbaren Kriegseinwirkung kann nicht gefolgt werden. Selbst nach den Verwaltungsvorschriften soll die enge Auslegung nur bei der Prüfung der Frage Platz greifen, ob ein Tatbestand die Annahme einer unmittelbaren Kriegseinwirkung rechtfertigt. Ist diese Frage aber entschieden, und das ist hinsichtlich des Fliegeralarms mit der hier getroffenen Entscheidung des Senats der Fall, dann ist für eine enge Auslegung kein Raum mehr. Das Landessozialgericht hat daher den Umfang des Begriffs des Fliegeralarms als eine behördliche Maßnahme im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG verkannt. Das Urteil beruht darauf und war schon aus diesem Grunde aufzuheben.
Die Klägerin hat neben den Einwirkungen durch die Beförderung des Luftschutzgepäcks weiter geltend gemacht, daß sich ihr Leiden durch den Aufenthalt im ungeeigneten Luftschutzraum verschlimmert habe. Wie bereits oben dargelegt, umfaßt die behördliche Maßnahme des "Fliegeralarms" auch den Aufenthalt im Luftschutzkeller sowie das Verlassen dieses Kellers. Infolgedessen können auch Schäden durch den Aufenthalt in dem Luftschutzraum, in den sich die Klägerin zwangsläufig begeben mußte, den Tatbestand des § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG erfüllen (so auch Schönleiter, Bundesversorgungsgesetz, § 5 Nr. 12; Thannheiser-Wende-Zech, Teil I § 5 S. 62 bei Abs. 1b). Da es sich offenbar um den Schutzraum in einem Berliner Mietshaus gehandelt hat, dürfte die Möglichkeit außer Betracht bleiben, daß ein unzureichender Luftschutzkeller durch die Geschädigte selbst mangelhaft hergerichtet worden ist. Damit dürfte auch die Folgerung entfallen, daß etwaige schädigende Einwirkungen des Luftschutzraumes nicht mehr als unmittelbare Einwirkung des Fliegeralarms anzusehen sind. Das Landessozialgericht hat daher auch insoweit § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG nicht richtig angewandt, so daß das Urteil auch aus diesem Grunde aufzuheben war.
Das Berufungsgericht hat wegen seiner anderen Rechtsauffassung zu diesen Fragen keine Feststellung getroffen. Der Senat konnte daher nicht in der Sache selbst entscheiden und mußte den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverweisen. Erst wenn das Berufungsgericht die hiernach noch erforderlichen tatsächlichen Feststellungen getroffen haben wird, wird es weiter den ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem Geschehen und der vorgebrachten Verschlimmerung des Leidens durch die Einholung ärztlicher Gutachten zu ermitteln haben.
Da die Voraussetzungen der §§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG erfüllt waren, war daher ohne mündliche Verhandlung wie geschehen zu erkennen. Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen