Leitsatz (amtlich)

1. Der Bezirksberufungsausschuß des Sozialversicherungsamts Berlin war kein Gericht im Sinne der GG Art 92, GG Art 97 Abs 2.

2. Ist ein beim Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes anhängiger Rechtsstreit auf das Landessozialgericht übergegangen, so sind die Vorschriften über den Ausschluß der Berufung (SGG §§ 144 bis 149) nicht anzuwenden, wenn die angefochtene Entscheidung von einem Gremium erlassen worden war, das kein Gericht im Sinne der GG Art. 92, GG Art 97 Abs 2 war und dessen Anrufbarkeit darum den Begriff des Rechtswegs nach GG Art. 19 Abs.4 nicht erfüllte. In einem solchen Falle hat nach GG Art. 19 Abs 4 die Zuständigkeit der Sozialgerichte den Vorrang vor der subsidiären Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte.

 

Normenkette

SGG § 51 Fassung: 1953-09-03, § 144 Fassung: 1953-09-03, § 145 Fassung: 1958-06-25, § 146 Fassung: 1958-06-25, § 147 Fassung: 1958-06-25, § 148 Fassung: 1958-06-25, § 149 Fassung: 1958-06-25, § 218 Abs. 6 Fassung: 1958-06-25; GG Art. 19 Abs. 4 Fassung: 1949-05-23, Art. 92 Fassung: 1949-05-23, Art. 96 Abs. 1 Fassung: 1956-03-19, Art. 97 Abs. 2 Fassung: 1949-05-23

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 7. Februar 1958 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Landesversicherungsanstalt (LVA) Berlin, die damals für ihren Bezirk die Aufgaben der Angestelltenversicherung (AV) wahrnahm, bewilligte durch Bescheid vom 28. Januar 1952 der Klägerin Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit vom 11. Februar 1951 an. Dabei behielt sie zum Ausgleich für etwaige Ersatzansprüche des Bezirksfürsorgeverbandes Kreis W einen Teilbetrag des auf die Zeit bis 29. Februar 1952 entfallenden Ruhegeldes vorsorglich ein. Die Beschwerde der Klägerin hiergegen blieb erfolglos (Entscheidung des Beschwerdeausschusses vom 9.5.1952). Dagegen verurteilte der Bezirksberufungsausschuß beim Sozialversicherungsamt Berlin die LVA, der Klägerin den einbehaltenen Betrag auszuzahlen (Entscheidung vom 12.2.1953). Gegen diese Entscheidung legte die LVA Berlin weitere Beschwerde an den Spruchausschuß des Sozialversicherungsamts Berlin ein; dieser zog den Bezirksfürsorgeverband Kreis W und die Krankenversicherungsanstalt Berlin zum Verfahren zu. Nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) befaßte sich mit dem Rechtsstreit zunächst das Landessozialgericht (LSG) Berlin; es gab die Sache später zuständigkeitshalber an das LSG Niedersachsen ab. In das Verfahren trat anstelle der LVA die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte als neue Beklagte ein. Die Beklagte und der beigeladene Bezirksfürsorgeverband beantragten, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen; die Klägerin beantragte, die Berufung zurückzuweisen.

Das LSG Niedersachsen verwarf die Berufung als unzulässig (Urteil vom 7.2.1958). Zur Begründung führt es aus, der am 1. Januar 1954 beim Spruchausschuß des Sozialversicherungsamts Berlin anhängige Streitfall sei nach § 218 Abs. 6 SGG als Berufung auf das zuständige LSG übergegangen. Die Klägerin habe schon seit November 1952 ihren Wohnsitz im Bezirk des LSG Niedersachsen gehabt, so daß dieses zuständig sei. Die angefochtene Entscheidung betreffe aber das Ruhegeld der Klägerin für die Zeit vom 11. Februar 1951 bis 29. Februar 1952, mithin eine Rente für einen bereits abgelaufenen Zeitraum; die Berufung sei daher ausgeschlossen (§ 146 SGG). Die Rechtssache habe auch keine grundsätzliche Bedeutung, weil nur tatsächliche Gesichtspunkte zur Entscheidung ständen, so daß eine nachträgliche Zulassung der Berufung durch das LSG in entsprechender Anwendung des § 150 Abs. 1 SGG nicht in Frage komme. Das LSG ließ die Revision nicht zu.

Gegen das am 29. März 1958 zugestellte Urteil legte der beigeladene Bezirksfürsorgeverband am 24. April 1958 Revision ein und begründete das Rechtsmittel am 21. Mai 1958. Er rügte, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel, weil das Gericht die Berufung der Beklagten zu Unrecht als unzulässig verworfen habe. Die Auslegung, die das LSG den §§ 218 Abs. 6 und 146 SGG gegeben habe, führe dazu, daß den Beteiligten eine gerichtliche Überprüfung der Entscheidung des Sozialversicherungsamts Berlin unmöglich gemacht werde. Das sei ein Verstoß gegen das Grundgesetz (GG), denn das Sozialversicherungsamt Berlin könne nicht als eine Instanz mit gerichtlichen Qualitäten angesehen werden. Das LSG hätte deswegen nicht als Berufungsgericht, sondern als erste Instanz entscheiden müssen; es habe auch den § 146 SGG nicht anwenden dürfen, weil nicht die Rente der Klägerin, sondern der Rückgriff des Beigeladenen auf die Rente im Streit sei.

Der Beigeladene beantragte,

das Urteil des LSG Niedersachsen vom 7. Februar 1958 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragte,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Die Beklagte stellte keinen Antrag.

II

Die Revision ist statthaft und begründet.

Der Beigeladene war berechtigt, selbständig Revision einzulegen, denn er hat sich dabei in den Grenzen gehalten, die durch die Anträge der anderen Beteiligten im Berufungsverfahren gezogen worden waren (BSG Bd. 8 S. 291 ff., Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 2. Aufl., 6. Nachtrag, Anm. 7 a zu § 75 SGG). Weil das LSG die Revision nicht zugelassen hat, ist sie nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens in der im Gesetz vorgeschriebenen Form gerügt worden ist und wenn dieser Mangel auch tatsächlich vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2, § 164 Abs. 2 SGG; BSG Bd. 1 S. 150). Dies ist der Fall.

Das LSG durfte, wie der Beigeladene mit Recht rügt, die Berufung der Beklagten nicht als unzulässig verwerfen, sondern mußte in der Sache entscheiden. Insofern leidet das Verfahren an einem wesentlichen Mangel (BSG Bd. 1 S. 283).

Über die nach § 218 Abs. 6 SGG auf das zuständige LSG übergegangenen Fälle hat dieses - anders als der Beigeladene meint - als Berufungsgericht zu entscheiden, dabei sind die Vorschriften der §§ 143 bis 159 SGG anzuwenden (BSG Bd. 1 S. 78; SozR. § 218 S. Da 2 Nr. 5 mit weiteren Nachweisen). Da es sich in dem vorliegenden Verfahren um den Rentenanspruch der Klägerin handelt, dessen teilweise Ablehnung für einen schon abgelaufenen Zeitraum die Beklagte beantragt hatte, wäre die Berufung nach dem Wortlaut des § 146 SGG - diesen für sich genommen - unzulässig gewesen. Diese Vorschrift - wie auch die übrigen Vorschriften über den Ausschluß und die Zulassung der Berufung - ist aber in Übergangsfällen nicht anwendbar, wenn dadurch wesentliche Ziele des Gesetzes vereitelt würden. Es ist vielmehr zu prüfen, ob der Gesetzgeber die Vorschriften über den Ausschluß und die Zulassung des Rechtsmittels für Übergangsfälle vernünftigerweise so geordnet hätte, wenn die Folgen von ihm erkannt oder bedacht worden wären. So hat das Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß in allen Übergangsfällen, in denen noch kein Sozialgericht (SG) entschieden hatte, das Berufungsgericht selbst über die Zulassung der Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG statt der ersten Instanz entscheiden müsse (BSG 1 S. 62, S. 67 ff.). Es widerspräche dem Sinnzusammenhang, in den die Vorschriften über den Ausschluß und die Zulassung der Berufung hineingestellt sind, wenn eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung der Entscheidung des Berufungsgerichts nur deswegen entzogen bliebe, weil in erster Instanz vor dem Inkrafttreten des SGG entschieden worden war und darum die Berufung nicht nach § 150 Nr. 1 SGG zugelassen werden konnte.

Die Anwendung des § 146 SGG im vorliegenden Falle würde aber - wie die Anwendung der §§ 144 bis 149 SGG in allen Fällen, in denen eine weitere Beschwerde gegen eine Entscheidung des Bezirksberufungsausschusses beim Spruchausschuß des Sozialversicherungsamts Berlin anhängig und nach § 218 Abs. 6 SGG auf das zuständige LSG übergegangen war - dazu führen, daß der angefochtene Verwaltungsakt des Versicherungsträgers der gerichtlichen Nachprüfung überhaupt entzogen bliebe. Denn dem Bezirksberufungsausschuß des Sozialversicherungsamts Berlin fehlen wesentliche Merkmale eines Gerichts. Das auf Grund der Anordnung der Alliierten Kommandatura Berlin vom 8. April 1946 (VOBl. Berlin S. 159) errichtete Sozialversicherungsamt war zwar von der Abteilung für Sozialwesen und von der Versicherungsanstalt unabhängig, der Vorsitzende seines Bezirksberufungsausschusses war aber nur ein Vertreter des Versicherungsamts, der - im Gegensatz zum Vorsitzenden des Spruchausschusses - weder eine bestimmte Qualifikation besitzen mußte noch dem Versicherungsamt ständig anzugehören noch ständig mit der Funktion des Vorsitzenden betraut zu sein brauchte. Er konnte vielmehr von Fall zu Fall bestimmt und jederzeit abgelöst werden. Dem Vorsitzenden des Bezirksberufungsausschusses fehlte daher die institutionelle Garantie persönlicher Unabhängigkeit, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 9. November 1955 als eine wesentliche Voraussetzung dafür bezeichnet hat, daß dem Gremium, dem er angehört, die Eigenschaft als Gericht (Art. 97 Abs. 2 GG) zuerkannt werden könne, und daß das Verfahren vor diesem Gremium dem Begriff des Rechtsweges im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG genüge (BVerfG-Entsch. Bd. 4 S. 331, S. 344 ff.). Diese Folge hat der Gesetzgeber allem Anschein nach nicht bedacht, denn sie widerspricht dem Sinn des Sozialgerichtsgesetzes als Ganzem und dem seiner Übergangsvorschriften. Das Sozialgerichtsgesetz als Ganzes gewährleistet den vollen und ausschließlichen Rechtsschutz auf den nach § 51 SGG den Sozialgerichten zugewiesenen Gebieten. Die Übergangsvorschriften der §§ 214 bis 218 SGG verfolgen den besonderen Zweck, alle bisher bei anderen Instanzen aus diesen Gebieten anhängigen Streitsachen und sogar bestimmte schon abgeschlossene Verfahren nun den Sozialgerichten zur Entscheidung zuzuweisen. Die Vorschriften der §§ 144 bis 149 SGG fügen sich im allgemeinen ohne weiteres in diesen Zusammenhang ein, denn sie wollen nichts anderes, als die gerichtliche Nachprüfung der Verwaltungsakte in weniger bedeutsamen Fällen auf eine einzige Instanz beschränken. Sie setzen also voraus, daß mindestens ein Gericht schon entschieden hat. Ist das nicht der Fall, dann können sie nicht angewendet werden.

Hätte der Gesetzgeber erkannt, daß durch das Zusammentreffen von Übergangsvorschriften und von Vorschriften über den Ausschluß von Rechtsmitteln in Ausnahmefällen Verwaltungsakte aus den nach § 51 SGG den Sozialgerichten zugewiesenen Gebieten der Nachprüfung durch ein Gericht entzogen würden, dann hätte er vernünftigerweise durch besondere Vorschriften diese Folge ausgeschlossen. Es widerspräche der Ordnung, die das Grundgesetz und die Gesetze über die einzelnen Zweige der Gerichtsbarkeit für die rechtsprechende Gewalt geschaffen haben, wenn wegen des Fehlens solcher Vorschriften statt des in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG angesprochenen Gerichtszweiges nun nach Art. 19 Abs. 4 Satz 2 des GG die ordentlichen Gerichte zur Entscheidung berufen wären. Das LSG hätte darum den § 146 SGG im vorliegenden Falle nicht anwenden dürfen, sondern in der Sache selbst entscheiden müssen (vgl. auch die zu ähnlichen Problemen ergangenen Urteile des Bundesfinanzhofs in NJW 1954 S. 1422, 1955 S. 967 und 1958 S. 846).

Mit dieser Auffassung setzt sich der Senat nicht in Widerspruch zu dem Urteil des 8. Senats vom 16. Juni 1955 (BSG 1 S. 78), in dem es sich ebenfalls um das Zusammentreffen der Übergangsvorschrift des § 218 Abs. 6 SGG mit einer die Berufung ausschließenden Vorschrift gehandelt hat. Denn in jenem Rechtsstreit war dem Urteil des LSG keine Entscheidung des Bezirksberufungsausschusses des Sozialversicherungsamts Berlin vorausgegangen, sondern des Versorgungsgerichts Berlin - eines Gremiums mit Gerichtseigenschaft (vgl. §§ 44, 45 des Gesetzes über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstbeschädigten sowie ihrer Hinterbliebenen vom 24.7.1950 - VOBl. für Berlin I S. 318 -). Eine Notwendigkeit, den Großen Senat des BSG nach § 42 SGG anzurufen, bestand also nicht.

Das Verfahren des LSG leidet daher an dem von dem Beigeladenen in der Revisionsbegründung gerügten Mangel. Die Revision ist deswegen zulässig. Sie ist aber auch begründet, da nicht ausgeschlossen ist, daß das LSG bei einer Nachprüfung der Sache selbst zu einer für den beigeladenen Bezirksfürsorgeverband günstigeren Entscheidung gekommen wäre.

Der Senat hat in der Sache nicht selbst entschieden, sondern den Rechtsstreit nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.

Dem LSG wird auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324099

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