Entscheidungsstichwort (Thema)
Hinterbliebenenrente aus der Unfallversicherung. Kausalzusammenhang zwischen Berufskrankheit und Todesursache
Orientierungssatz
Die Voraussetzungen des Begriffs "offenkundig" im Sinne des § 589 Abs 2 Satz 2 RVO liegen dann vor, wenn die Silikose mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit den Tod des Versicherten in medizinischem Sinne nicht erheblich mitverursacht und ihn mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit auch nicht wenigstens um ein Jahr beschleunigt hat (vgl BSG 1968-03-14 5 RKn 92/66 = SozR RVO § 589 Nr 4).
Normenkette
RVO § 589 Abs. 2 Sätze 1-2
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 14.12.1967) |
SG München (Entscheidung vom 26.10.1966) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 14. Dezember 1967 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Klägerin begehrt von der Beklagten an Stelle der ihr zuerkannten einmaligen Witwenbeihilfe Hinterbliebenenrente mit der Behauptung, der Tod ihres 1896 geborenen und am 16. Oktober 1964 verstorbenen Ehemanns, des früheren Hauers O Sch, sei die Folge der zuletzt mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. als Berufskrankheit (BK) anerkannt gewesenen Staublungenerkrankung (Silikose).
Nach einer Mitteilung des Leitenden Arztes des Kreiskrankenhauses B, Facharzt für Chirurgie Dr. H, vom 24. Oktober 1964 an die Beklagte verstarb der Ehemann der Klägerin an den Folgen eines Rectumcarzinoms mit Lebermetastasen.
Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 16. Dezember 1964 die Gewährung von Hinterbliebenenrente ab, bewilligte aber eine einmalige Witwenbeihilfe. Sie verneinte den Anspruch auf Witwenrente, weil der Tod nicht die Folge der anerkannten BK sei.
Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben, die das Sozialgericht (SG) nach Einholung eines Gutachtens von Dr. H abgewiesen hat. Die hiergegen eingelegte Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen, nachdem es noch den Lungenfacharzt bei der Tbc-Fürsorgestelle M Dr. Sch in der mündlichen Verhandlung gehört hatte. Das LSG hat zur Begründung seines Urteils ausgeführt, zu Recht habe das SG auf Grund des Gutachtens von Dr. H das Vorliegen des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Tod des Ehemanns der Klägerin und seiner BK, einer tumorösen Silikose beider Lungen mit Lungenemphysem und eines damit zusammenhängenden Herzleidens verneint; es habe vielmehr der Mastdarmkrebs mit Lymphdrüsen- und Lebermetastasen den Tod verursacht. Auch § 589 Abs. 2 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) führe zu keinem für die Klägerin günstigeren Ergebnis. Es sei eindeutig, daß es sich bei dem Tod des Ehemanns der Klägerin an Mastdarmkrebs durch Herz- und Kreislaufversagen um einen typischen Geschehensablauf handele. Auch bestehe die Möglichkeit, daß sich die Folgen der BK wesentlich auf den Krankheitsverlauf und den Zeitpunkt des Todes ausgewirkt haben, insbesondere unter Berücksichtigung der Ausführungen des Sachverständigen Dr. Sch nicht. Bei dem Krebsleiden des Ehemanns der Klägerin mit seinen Auswirkungen habe es sich um eine von der BK völlig unabhängige Erkrankung gehandelt, die auch andere Bereiche des Körpers, insbesondere die Lymphbahnen und die Leber, betroffen und in keiner Beziehung zu der BK gestanden habe. Daß der Krebs nicht mehr vollständig zu operieren gewesen sei, habe andere Ursachen als die BK und ihre Folgen, insbesondere deren Auswirkungen auf das Herz. Eine allgemeine Minderung der Widerstandskraft des Körpers und vor allen Dingen eine nicht unerhebliche Schädigung des Herzens des Ehemanns der Klägerin habe zwar bestanden und möglicherweise hätte ein nicht vorgeschädigtes Herz den Verlauf der Krebskrankheit höchstens ein paar Wochen länger Widerstand leisten können. Eine solche Überlebensaussicht sei aber ohne rechtliche Bedeutung, da nur eine Überlebensaussicht von etwa einem Jahr den Hinterbliebenenanspruch begründen könnte. Dieser nach dem Gutachten von Dr. Sch offenkundige und keinem Zweifel unterliegende medizinische Sachverhalt führe dazu, daß die Klägerin gemäß § 589 Abs. 2 Satz 1 RVO keinen Anspruch auf die Hinterbliebenenbezüge habe, weil der Tod des Ehemanns der Klägerin offenkundig mit seiner BK nicht in ursächlichem Zusammenhang stehe. Das LSG hat die Revision zugelassen. Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Revision eingelegt.
Sie rügt, das LSG habe § 589 Abs. 2 RVO fehlerhaft ausgelegt und außerdem die §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - verletzt. Der Begriff "offenkundig" in § 589 Abs. 2 RVO könne nur dahin verstanden werden, daß jeder im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne am Tode beteiligten Mitursache - möge sie auch in einer noch so entfernten Beziehung zum konkreten Todesereignis stehen - die Bedeutung eines die Feststellung des Nichtbestehens des Kausalzusammenhangs ausschließenden Umstandes zukomme. Nur wenn solche Mitursachen fehlen, sei offenkundig, daß der Tod mit der BK nicht in ursächlichem Zusammenhang stehe. Aber selbst bei anderer Rechtsauffassung müsse die Offenkundigkeit zumindest dann entfallen, wenn auch nur die geringste Möglichkeit dafür bestehe, daß andere Ursachen für den Tod maßgeblich gewesen seien. Das sei der Fall, wenn der Tod infolge solcher Umstände mindestens ein Jahr früher eingetreten sei. Diese Voraussetzung müsse hier als erfüllt angesehen werden. Die zu dieser Frage gehörten ärztlichen Sachverständigen hätten in ihren Gutachten eine solche Möglichkeit jedenfalls nicht überzeugend und schlüssig verneint. Das habe das LSG erkennen müssen. Seine gegenteilige Handlungsweise verletze § 128 SGG. Außerdem habe das LSG nach der Fassung seines Beweisbeschlusses vom 23. November 1967 die Auslegung des Begriffs "offenkundig" dem gehörten ärztlichen Sachverständigen überlassen und dadurch eine fehlerhafte Sachaufklärung (§ 103 SGG) vorgenommen.
Mit der Revision beantragt die Klägerin
das Urteil des Bayerischen LSG vom 14. Dezember 1967 und das Urteil des SG München vom 26. Oktober 1966 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 16. Dezember 1964 zu verurteilen, der Klägerin die gesetzliche Witwenrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.
Der Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung hängt davon ab, ob die entschädigungspflichtige Silikose ihres Ehemanns mit einer MdE von zuletzt 100 v.H. rechtlich wesentliche Ursache seines Todes gewesen ist. Nach § 589 Abs. 2 Satz 1 RVO wird das Vorliegen des Kausalzusammenhangs vermutet. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen vor, weil die Erwerbsfähigkeit des Versicherten durch die Folgen seiner entschädigungspflichtigen Silikose mit einer MdE von mindestens 50 v.H. gemindert war. Diese Vermutung ist allerdings nach Satz 2 des § 589 Abs. 2 RVO als widerlegt anzusehen, wenn "offenkundig" ist, daß die Silikose nicht rechtlich wesentliche Ursache des Todes des Versicherten ist. Die Voraussetzungen des Begriffs "offenkundig" im Sinne des § 589 Abs. 2 Satz 2 RVO liegen dann vor, wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 14. März 1968 - 5 RKn 92/66, SozR RVO § 589 Nr. 4 - entschieden hat, wenn die Silikose mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit den Tod des Versicherten in medizinischem Sinn nicht erheblich mitverursacht und ihn mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit auch nicht wenigstens um ein Jahr beschleunigt hat. Es bestehen keine Bedenken, wenn aus dem Umstand, daß nur eine ganz entfernte, d.h. eine lediglich theoretische Möglichkeit besteht, daß die Silikose den Tod des Versicherten in dem o.a. Sinne verursacht hat, geschlossen wird, daß der Tod des Versicherten ohne jeden ernsthaften Zweifel nicht durch die Silikose in dem o.a. Sinn verursacht ist. Die Vorschrift des § 589 Abs. 2 RVO hat den Zweck, daß in den Fällen, in welchen die Silikose mit einer MdE von mindestens 50 v.H. und ein anderes Leiden vorgelegen haben, und die Silikose den Tod des Versicherten mittelbar oder unmittelbar rechtlich wesentlich verursacht haben könnte, die Hinterbliebenenrente grundsätzlich gewährt werden soll. Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen ist von der Gewährung der Hinterbliebenenrente abzusehen.
Es läßt sich nicht mit genügender Sicherheit erkennen, ob das LSG diesen Grundsätzen entsprechend entschieden hat. Der Umstand, daß dem Mastdarmkrebs mit Lymphdrüsen- und Lebermetastasen die überragende Bedeutung für den Tod des Ehemanns zukommt, kann nicht allein als ausschlaggebend angesehen werden. Denn dies allein könnte allenfalls zusammen mit der Entscheidung, ob die Silikose den Tod des Versicherten zumindest um ein Jahr beschleunigt hat dazu führen, den rechtlich wesentlichen Kausalzusammenhang zwischen Silikose und Tod des Ehemanns der Klägerin zu verneinen. Für die Frage, ob dies "offenkundig" ist, bedarf es aber eines weitergehenden Grundes, nämlich ob nach den derzeitigen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft keine ernstlich ins Gewicht fallenden Zweifel daran bestehen, daß die Silikose des Ehemanns seinen Tod in medizinischem Sinne nicht in erheblichem Maße mitverursacht und sein Leben auch nicht um mindestens ein Jahr verkürzt hat. Die bisher vorliegenden ärztlichen Unterlagen enthalten keine ausreichende Stellungnahme insbesondere zu der letzten Frage. Da deshalb auch die Feststellungen des Berufungsgerichts nicht ausreichen, um die Entscheidung in der Sache durch den Senat selbst treffen zu können, wird der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen