Entscheidungsstichwort (Thema)
Beitragsnachentrichtung und Einbürgerung
Orientierungssatz
1. Das Nachentrichtungsrecht nach AnVNG Art 2 § 49a Abs 2 (ArVNG Art 2 § 51a Abs 2) setzt voraus, daß die Versicherungsberechtigung nach AVG § 10 (RVO § 1233) im Zeitpunkt der Antragstellung besteht oder bis zum Ablauf der Antragsfrist am 1975-12-31 eingetreten ist. Zur Nachentrichtung nach AnVNG Art 2 § 49a iVm AVG § 10 sind daher nur Deutsche berechtigt - auch solche, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort im Ausland haben (AVG § 10 Abs 1 S 2) -, die die deutsche Staatsangehörigkeit bei der Antragstellung besessen oder spätestens bis zum 1975-12-31 erworben haben. Es genügt nicht, daß sie erst im Zeitpunkt der Entscheidung über den Nachentrichtungsantrag im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit gewesen sind (vgl Urteil des BSG vom 1980-03-27 12 RK 6/80 = unveröffentlicht).
2. Auch die Einbürgerung nach StAngRegG § 9 Abs 1 wird - wie im Regelfall (RuStAG § 16) - erst mit der Aushändigung der Einbürgerungsurkunde wirksam.
Normenkette
AnVNG Art 2 § 49a Abs 2 Fassung: 1972-10-16; GG Art 116 Abs 2 Fassung: 1949-05-23; AnVNG Art 2 § 49a Abs 3 S 1 Fassung: 1972-10-16; AVG § 10 Abs 1 S 2 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1233 Abs 1 S 2 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art 2 § 51a Abs 2 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art 2 § 51a Abs 3 S 1 Fassung: 1972-10-16; RuStAG § 16 Fassung: 1913-07-22; StAngRegG § 9 Abs 1 Fassung: 1955-02-22
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin berechtigt ist, freiwillige Beiträge zur Rentenversicherung der Angestellten nach Art 2 § 49 a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) nachzuentrichten.
Die 1904 in Veselicko/Sudetenland als Tochter jüdischer Eltern geborene Klägerin war 1939 aus Verfolgungsgründen von Neusattl bei Karlsbad/Sudetenland nach Prag geflüchtet und von dort aus über Frankreich nach Chile ausgewandert. Seit 1954 ist sie chilenische Staatsangehörige.
Die Klägerin bezieht von der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, für die ua 125 Kalendermonate verfolgungsbedingter Ersatzzeit berücksichtigt worden sind.
Die Klägerin hat am 14. Juli 1975 beim Bundesverwaltungsamt die Wiedereinbürgerung gemäß Art 116 Abs 2 des Grundgesetzes (GG) beantragt. Das Bundesverwaltungsamt hat der Klägerin im Wiedereinbürgerungsverfahren mitgeteilt, in ihrem Falle komme die Wiedereinbürgerung nach Art 116 Abs 2 GG nicht in Betracht, jedoch bestehe die Möglichkeit der Einbürgerung nach § 9 des Gesetzes zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit (StAngRegG) vom 22. Februar 1955 (BGBl I 65). Auf den entsprechend geänderten Antrag der Klägerin verlieh das Bundesverwaltungsamt der Klägerin mit der ihr am 8. November 1976 ausgehändigten Einbürgerungsurkunde vom 16. August 1976 die deutsche Staatsangehörigkeit.
Den Antrag der Klägerin vom 31. Dezember 1975 auf Zulassung der Beitragsnachentrichtung nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG hat die Beklagte durch Bescheid vom 25. April 1978 und Widerspruchsbescheid vom 6. September 1978 mit der Begründung abgelehnt, die Klägerin habe die deutsche Staatsangehörigkeit, die Voraussetzung für den Antrag auf Zulassung der Nachentrichtung sei, erst nach Ablauf der Antragsfrist am 31. Dezember 1975 erworben.
Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 6. März 1979 die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Es hat die Stellung des Wiedereinbürgerungsantrages vor Ablauf der Antragsfrist des Art 2 § 49a Abs 3 Satz 1 AnVNG als ausreichend angesehen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 30. August 1979 zurückgewiesen: Die Klägerin sei zwar bei Ablauf der Antragsfrist noch nicht Deutsche iS des Art 116 Abs 1 GG gewesen. Für ihre Antragsberechtigung habe es aber genügt, daß sie die Wiedereinbürgerung vor dem 31. Dezember 1975 beantragt und die deutsche Staatsangehörigkeit bis zum Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten über den Nachentrichtungsantrag erworben habe.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die unrichtige Anwendung des Art 2 § 49a Abs 2 und Abs 3 Satz 1 AnVNG. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß sämtliche Antragsvoraussetzungen im Zeitpunkt der Antragstellung oder bis zum Ablauf der Antragsfrist erfüllt sein müßten. Dieser Grundsatz gelte auch für die Eigenschaft als Deutscher iS des Art 116 Abs 1 GG.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG Berlin vom 30. August 1979
und des SG Berlin vom 6. März 1979 aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben, und der Rechtsstreit ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Wie der erkennende Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden hat (vgl Urteil vom 23. Februar 1977 - 12/11 RK 88/75 - DAngVers 1977, 297; Urteil vom 23. November 1979 - 12 RK 29/78 - SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 31; Urteil vom 22. Februar 1980 - 12 RK 25/79 -, zur Veröffentlichung bestimmt), setzt das Nachentrichtungsrecht nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG voraus, daß die Versicherungsberechtigung nach § 10 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) im Zeitpunkt der Antragstellung besteht oder bis zum Ablauf der Antragsfrist am 31. Dezember 1975 eingetreten ist. Zur Nachentrichtung nach Art 2 § 49a AnVNG iVm § 10 AVG sind daher nur Deutsche berechtigt - auch solche, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort im Ausland haben (§ 10 Abs 1 Satz 2 AVG) -, die die deutsche Staatsangehörigkeit bei der Antragstellung besessen oder spätestens bis zum 31. Dezember 1975 erworben haben. Entgegen der Ansicht des LSG genügt es nicht, daß sie erst im Zeitpunkt der Entscheidung über den Nachentrichtungsantrag im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit gewesen sind (vgl Urteil des Senats vom 27. März 1980 - 12 RK 6/80 -).
Die tatsächlichen Feststellungen des LSG lassen nicht hinreichend klar erkennen, ob die Klägerin schon vor der Auswanderung nach Chile die deutsche Staatsangehörigkeit besaß oder ob sie als deutsche Volkszugehörige mit tschechoslowakischer Staatsangehörigkeit das Vertreibungsgebiet aus Verfolgungsgründen verlassen hat, um ihren Wohnsitz außerhalb des Deutschen Reiches zu begründen.
Von der Klärung dieser Frage hängt jedoch die rechtliche Beurteilung des vorliegenden Falles ab. War die Klägerin bis zu ihrer Auswanderung deutsche Volkszugehörige mit tschechoslowakischer Staatsangehörigkeit, so gehört sie zu der in § 9 Abs 2 StAngRegG erfaßten besonderen Personengruppe deutscher Volkszugehöriger, die zugleich Vertriebene oder Aussiedler sind, ohne zuvor im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit gewesen zu sein. Nach den Feststellungen des LSG könnte die Klägerin zu diesem Personenkreis gehören, da sie ihren Wohnsitz in dem in § 1 Abs 1 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) vom 19. Mai 1953 (BGBl I 201) genannten Vertreibungsgebiet nach dem 20. Januar 1933 aus Verfolgungsgründen verlassen hat, um ihren Wohnsitz außerhalb des Deutschen Reiches zu nehmen (§ 1 Abs 2 Nr 1 BVFG). Dafür spricht auch die weitere Feststellung des LSG, daß die Klägerin nach § 9 StAngRegG eingebürgert worden sei. Die Regelung des § 9 Abs 1 StAngRegG erweitert jedoch nur den Personenkreis, der Anspruch auf die Einbürgerung hat. Sie läßt hingegen die Vorschriften über den Zeitpunkt des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung unberührt. Deshalb wird auch die Einbürgerung nach § 9 Abs 1 StAngRegG - wie im Regelfall (§ 16 des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes -RuStAG-) - erst mit der Aushändigung der Einbürgerungsurkunde wirksam. Da der Klägerin die Einbürgerungsurkunde erst im November 1976 ausgehändigt worden ist, hat sie die deutsche Staatsangehörigkeit auch erst nach Ablauf der Antragsfrist des Art 2 § 49a Abs 3 Satz 1 AnVNG erworben; das Nachentrichtungsrecht hat ihr in diesem Fall nicht zugestanden.
Die Rechtslage könnte jedoch anders zu beurteilen sein, wenn die Klägerin aufgrund des Vertrages zwischen dem Deutschen Reich und der Tschechoslowakischen Republik über Staatsangehörigkeits- und Optionsfragen vom 20. November 1938 (RGBl II 895) die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat oder wenn sie von der Verordnung über den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch frühere tschechoslowakische Staatsangehörige deutscher Volkszugehörigkeit vom 20. April 1939 (RGBl I 815) erfaßt worden ist. Sie hätte die so erworbene deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch die späteren nationalsozialistischen Ausbürgerungsvorschriften verloren, weil diese nichtig waren (BVerfGE 23, 89; erkennender Senat, Urteil vom 22. Februar 1980 aaO). Nach § 25 Abs 1 RuStAG verliert jedoch ein Deutscher, der im Inland weder seinen Wohnsitz noch seinen dauernden Aufenthalt hat, seine Staatsangehörigkeit mit dem Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit, wenn dieser Erwerb auf seinen Antrag oder auf den Antrag des gesetzlichen Vertreters erfolgt. Hat die Klägerin also die chilenische Staatsangehörigkeit auf Antrag erworben, so hat sie ihre - durch die "Ausbürgerung" aufgrund der nichtigen nationalsozialistischen Ausbürgerungsbestimmungen nicht verlorengegangene - deutsche Staatsbürgerschaft aus einem anderen Rechtsgrunde verloren; in diesem Falle konnte sie die deutsche Staatsangehörigkeit nur durch Wiedereinbürgerung erlangen, die mit der Aushändigung der Einbürgerungsurkunde und damit nach Fristablauf erfolgt wäre (erkennender Senat, Urteil vom 22. Februar 1980 aaO).
Die verhältnismäßig lange Dauer des Einbürgerungsverfahrens rechtfertigt es nicht, den Zeitpunkt des Erwerbes der deutschen Staatsangehörigkeit auf den Tag der Antragstellung oder den Zeitpunkt zu fingieren, zu dem die Klägerin bei normalem Verlauf des Einbürgerungsverfahrens mit der Aushändigung der Urkunde hätte rechnen können. Auch in dieser Sache konnte der Senat - wie bereits in dem Urteil vom 22. Februar 1980 - 12 RK 25/79 - offen lassen, ob anders zu entscheiden wäre, wenn sich das mit der Aushändigung der Einbürgerungsurkunde abgeschlossene Einbürgerungsverfahren der Klägerin unangemessen lange verzögert hätte. Das könnte allenfalls entscheidungserheblich sein, wenn die Verzögerung auf eine unsachgemäße Behandlung des Antrags durch die Einbürgerungsbehörde zurückzuführen wäre. Dafür fehlt im Falle der Klägerin jedoch jeder Anhalt.
Da das LSG weder die Staatsangehörigkeit der Klägerin vor ihrer Auswanderung ermittelt noch festgestellt hat, ob die Klägerin die chilenische Staatsangehörigkeit auf eigenen Antrag erworben hat und das Revisionsgericht diese Feststellungen selbst nicht treffen kann, ist die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG erforderlich (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen