Orientierungssatz

Anfechtungsbescheid - Einleitung der erneuten Prüfung innerhalb der Sechsmonatsfrist - Kenntnis des Anfechtungsgrundes - Nachweis der Prüfungseinleitung.

Hat die Verwaltungsbehörde Tatsachen in Erfahrung gebracht, die einen Anfechtungsgrund iS des KOVVfG § 42 darstellen können, ist für die Sechsmonatsfrist des KOVVfG § 43 Abs 1 S 2 die Kenntnisnahme ausreichend.

 

Normenkette

KOVVfG § 42 Abs 1 Nr 3 Fassung: 1974-03-02, § 43 Abs 1 S 2 Fassung: 1966-12-28

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 19.12.1978; Aktenzeichen L 4 V 66/78)

SG Trier (Entscheidung vom 14.04.1978; Aktenzeichen S 5 V 188/77)

 

Tatbestand

Die Klägerin bezieht neben der Witwenrente einkommensabhängige Versorgungsleistungen (Ausgleichsrente, Schadensausgleich). Das 1962 erworbene Hausgrundstück fand wegen des geringen Einheitswerts einkommensmäßig keine Berücksichtigung. Im November 1973 übergab die Klägerin das Hausgrundstück ihrer Tochter. Als Gegenleistung ließ sie sich ein freies Wohnrecht einräumen. Anläßlich einer Einkommensüberprüfung leitete die Klägerin dem Versorgungsamt den Einkommensfragebogen mit dem notariellen Übergabevertrag zu; beide gingen nach dem Eingangsstempel am 18. Dezember 1975 ein. Auf den Fragebogen ist handschriftlich gesetzt "Akten bei Kassenanweisung f 1976-02-01; 19. Dezember 1975". Auf der Rückseite des notariellen Vertrages ist folgender handschriftlicher Vermerk angebracht: "Bisher kein anzurechnendes Einkommen Blatt 253, 254, jetzt freies Wohnrecht, T für 1976-03-01 not 30. Januar 1976 (Handzeichen); T 1976-04-10 not 15. März 1976 (Handzeichen)". In einer Aktenentscheidung vom 28. Juli 1976 meinte das Versorgungsamt, die Voraussetzungen für eine Anfechtung gemäß § 42 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung vom 2. Mai 1955 in der Fassung der Bekanntmachung vom 6. Mai 1976 (BGBl I S 1169 -KOVVfG-) seien gegeben; die Anfechtungsfrist von 6 Monaten (gemäß § 43 Abs 1 Satz 2 KOVVfG) sei gewahrt. Nach Anhörung der Klägerin erteilte das Versorgungsamt den Anfechtungsbescheid. Es hob die zwischenzeitlich ergangenen Bescheide auf und stellte fest, daß ab 1. November 1973 neu über den Anspruch zu entscheiden sei. Gleichzeitig forderte es die seines Erachtens zuviel gezahlten Bezüge zurück und bezog sich wegen der zustehenden Versorgungsbezüge auf den beigefügten maschinellen Bescheid. Darin sind die einkommensabhängigen Versorgungsleistungen mit Wirkung ab 1. November 1973 festgestellt und eine Überzahlung von 850,-- DM errechnet (Bescheide vom 5. Januar 1977 und 2. Februar 1977). Der hiergegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG sowie die angefochtenen Verwaltungsbescheide aufgehoben. Es hat ausgeführt, die sechsmonatige Anfechtungsfrist (§ 43 Abs 1 Satz 2 KOVVfG), die mit der Kenntnisnahme des Anfechtungsgrundes am 18. Dezember 1975 begonnen habe, sei verstrichen gewesen. Die Versorgungsbehörde habe nicht schon mit dem auf die notarielle Urkunde gesetzten handschriftlichen Vermerk, sondern erst mit der Aktenentscheidung am 28. Juli 1976 die erneute Prüfung iS des § 43 Abs 1 Satz 2 KOVVfG eingeleitet.

Der Beklagte hat die zugelassene Revision eingelegt. Er rügt die Verletzung des § 43 Abs 1 Satz 2 KOVVfG. Nach seiner Auffassung hat die Verwaltung die erneute Prüfung rechtzeitig begonnen. Aus der Tatsache, daß die Aktenunterlagen zunächst nicht zur Verfügung gestanden hätten sowie auch wegen der Terminierungen zum 1976-03-01 bzw 1976-04-10 könne geschlossen werden, daß spätestens zu dem vorgemerkten Zeitpunkt eine Prüfung erfolgen sollte. Deren Ergebnis habe zu der fraglichen Aktenentscheidung geführt.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben.

Der Kläger beantragt,

die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Der Revision des Beklagten ist der Erfolg zu versagen.

Zutreffend hat das LSG angenommen, die Berufung sei auch wegen der Rückforderung von 850,-- DM zulässig, obgleich der Beschwerdewert von 1.000,-- DM bei diesem Streit um die Rückerstattung von Leistungen nicht erreicht war (§ 149 SGG). Zwar ist bei mehreren in einer Klage zusammengefaßten selbständigen Ansprüchen die Statthaftigkeit der Berufung für jeden Anspruch gesondert zu beurteilen (BSGE 3, 135; 6, 11; 10, 264). Das hat jedoch dann nicht zu gelten, wenn mehrere Ansprüche, die in einer Klage zusammengefaßt sind, derart voneinander abhängig sind, daß der eine Anspruch präjudiziell für den anderen ist. Ist in einem solchen Fall wie diesem, nämlich soweit rückwirkend das Versorgungsverhältnis auf eine neue Rechtsgrundlage gestellt wird, das Rechtsmittel für diesen präjudiziellen Anspruch statthaft, so ist die Statthaftigkeit auch für den von ihm abhängigen Anspruch - die Rückerstattung - gegeben (BSGE 14, 280; BSG SozR Nr 14 zu § 149 SGG).

Der Beklagte stützt den Anfechtungsbescheid auf § 42 Abs 1 Nr 3 KOVVfG. Danach hat die Verwaltungsbehörde auf Antrag oder von Amts wegen erneut zu entscheiden, wenn Tatsachen, die für die Entscheidung von wesentlicher Bedeutung waren, wissentlich falsch angegeben oder verschwiegen worden sind. Jedoch hat bei einem solchen Verfahren, das wie hier von Amts wegen durchgeführt wurde, die Verwaltungsbehörde die erneute Prüfung innerhalb einer Frist von sechs Monaten einzuleiten. Daraus folgt, daß bei Verstreichen dieser Frist der Anfechtungsbescheid rechtswidrig ist.

Das Berufungsgericht ist zu Recht von der Nichteinhaltung dieser Sechsmonatsfrist ausgegangen. Die Verwaltungsbehörde hatte mit Eingang der Einkommenserklärung sowie der notariellen Urkunde am 18. Dezember 1975 von den neuen Vermögens- und Einkommensverhältnissen der Klägerin Kenntnis erhalten. Damit hatte sie Tatsachen in Erfahrung gebracht, die einen Anfechtungsgrund iS des § 42 KOVVfG darstellen konnten. Darauf, daß deren rechtliche Bedeutung und Tragweite zunächst nicht voll zu erkennen und welche Gründe im einzelnen hierfür maßgebend waren, hat es nicht anzukommen. Allein die Kenntnisnahme ist ausreichend. Somit hatte die Anfechtungsfrist am 18. Dezember 1975 begonnen und am 18. Juni 1976 geendet (§ 38 Abs 1 KOVVfG). Mithin wäre diese Frist nur gewahrt gewesen, wenn die erneute Prüfung des Versorgungsanspruchs spätestens am 18. Juni 1976 eingeleitet worden wäre. Dies ist nicht geschehen. Die Versorgungsbehörde erließ erst am 28. Juli 1976 und damit verspätet diejenige Aktenentscheidung, die - nach Anhörung der Klägerin gemäß § 34 Abs 1 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB 1) - Grundlage für die Anfechtungsentscheidung war.

Das Berufungsgericht hat den Rechtsbegriff "Einleitung der Prüfung" iS des § 43 Abs 1 Satz 2 KOVVfG richtig angewandt. Darunter ist jede auf die Überprüfung des Versorgungsverhältnisses gezielte und geeignete Maßnahme anzusehen, um aufkommende Zweifel der Versorgungsverwaltung über die Rechtmäßigkeit bereits erteilter Verwaltungsakte in tatsächlicher oder rechtlicher Beziehung zu beseitigen (BSG BVBl 1966 S 137). Das Verwaltungshandeln muß also erkennbar der Klärung aufkommender Verdachtsmomente dienen, wobei es unschädlich ist, daß deren Zweckbestimmung erst aus späteren Umständen deutlich wird.

Der auf der Rückseite der notariellen Urkunde gesetzte Aktenvermerk erfüllt vorgenannte Voraussetzungen nicht. Er enthält lediglich die Feststellung, daß bisher kein anzurechnendes Einkommen bestanden hatte und nunmehr freies Wohnrecht gewährt wird, sowie Verfügungen mit dem Ziele der Wiedervorlage der Akten an den Sachbearbeiter zu den dort notierten Terminen. Offenbar war eine solche Terminierung notwendig, weil bei Eingang des Einkommensfragebogens sowie der notariellen Urkunde dem Sachbearbeiter die Versorgungsakten nicht zugänglich waren. Darauf deuten der am 1975-12-19 gefertigte handschriftliche Passus "Akten bei Kassenanweisung f 1976-02-01" sowie die Wiedervorlagetermine zum 1976-03-01 und 1976-04-10 hin. Jedoch ist daraus lediglich zu schließen, daß zu diesen Terminen die Akten dem Sachbearbeiter vorgelegt werden sollten. Ob dieser Ermittlungen für erforderlich erachtet hat und wann diese sodann eingeleitet wurden, ist den Aktenunterlagen nicht zu entnehmen. Darin ist namentlich nicht der Nachweis enthalten, daß die Versorgungsverwaltung die ihr durch das Verfahrensgesetz vorgeschriebenen Fristen beachtet hat. Dieser Beweis kann zwar auch auf andere Weise geführt werden (Urteil des 11. Senats vom 1961-02-24 - 11 RV 332/60 - und BSG BVBl 1963, 36). Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, an die das Revisionsgericht gebunden ist (§ 163 SGG), ergeben aber dafür nichts. Die Revision trägt dazu vor, die Fristwahrung sei aus der Tatsache der Wiedervorlageverfügungen, der sodann am 28. Juli 1976 ergangenen Aktenentscheidung sowie der darin enthaltenen Erklärung des Sachbearbeiters über die Fristwahrung nach § 43 KOVVfG zu folgern. Eine solche Schlußfolgerung ist indessen nicht angezeigt. Die Wiedervorlage der Akten besagt nichts darüber, wann schließlich mit der Bearbeitung der hier interessierenden Angelegenheit begonnen wurde. Deshalb können aus der Vorlage der Akten weder gesicherte Erkenntnisse gewonnen werden, wann die Überprüfung eingeleitet noch wann sie durchgeführt wurde; infolgedessen ist es nicht zu beanstanden, wenn das LSG erst mit der "Aktenentscheidung" den Beweis für die Einleitung der Überprüfungsmaßnahmen als erbracht angesehen hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654396

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