Leitsatz (amtlich)

Das Recht auf Berichtigung eines infolge eines Rechenfehlers oder in ähnlicher Weise offenbar unrichtigen Rentenbescheides kann verwirkt werden.

 

Orientierungssatz

Zur Frage der Rechtswirkungen eines Bescheides, der im Rahmen der Wanderversicherung von einem unzuständigen Versicherungsträger erteilt wird.

 

Normenkette

SGG § 138 Fassung: 1953-09-03; BGB § 242 Fassung: 1896-08-18

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Februar 1964 und das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 25. Mai 1960 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, den mit Bescheid vom 15. Juni 1959 festgestellten Rentenzahlbetrag von 437,20 DM so lange zu zahlen, bis durch Rentenanpassung dieser Betrag überschritten wird.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Gründe

Mit Bescheid vom 5. Januar 1960 eröffnete die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) dem Kläger, daß ihr bei der Feststellung der Rente am 30. April 1947 ein Rechenfehler unterlaufen sei. Für 80 Wochenbeiträge mit einem Steigerungssatz von je 0,38 RM hatte sie damals als Steigerungsbetrag 304,- RM statt 30,40 RM angesetzt. In den Erläuterungen des Bescheides aus dem Jahre 1947 waren aber sowohl der Wert als auch die Beitragsklasse und die Anzahl der Beiträge neben dem unrichtigen Steigerungsbetrag angegeben worden. - Das Versehen blieb zunächst unbemerkt. Daran änderte sich auch nichts, als die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) im Jahre 1954 die Zahlung der Rente, die Leistungsanteile aus der Arbeiterrentenversicherung (ArV) und der Angestelltenversicherung (AV) enthielt, übernahm. Die BfA erhöhte noch, nachdem der Kläger das 65. Lebensjahr vollendet hatte, den Zahlbetrag der nach der Rentenversicherungsreform des Jahres 1957 umgestellten Rente auf 15/13 (Art. 2 § 37 Abs. 3 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - AnVNG -) und teilte dem Kläger durch Bescheid vom 15. Juni 1959 mit, daß der Monatsbetrag seiner Rente vom 1. Juni 1959 an 437,20 DM betrage. Bei Erteilung dieses Bescheides ließ die BfA außer acht, daß der Kläger nach dem Inkrafttreten der Rentenreformgesetze für mehr als 12 Monate Beiträge, und zwar zur ArV, entrichtet hatte. Nachdem die BfA auf diese Tatsache gestoßen war, gab sie die Akten an die Beklagte ab, weil diese nunmehr nach den Vorschriften über die Zuständigkeit bei Wanderversicherten mit der Angelegenheit betraut sei (§ 90 Abs. 1 Satz 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -; § 1311 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Ein halbes Jahr später entdeckte die Beklagte das eingangs erwähnte Versehen, als sie die Rente nach den Vorschriften der §§ 1254 bis 1262 RVO errechnete. Sie kam - bei fehlerfreier Berechnung - auf einen Monatsbetrag der Rente von nur 329,90 DM (statt bisher 437,20 DM). Dieser Betrag blieb noch hinter dem Rechenergebnis zurück, das sich nach Anwendung der neuen Rentenformel ergab. Deshalb erkannte die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid vom 5. Januar 1960 eine monatliche Rentenverpflichtung von 336,- DM an.

Die Klage ist in den ersten beiden Rechtszügen abgewiesen worden (Urteil des Sozialgerichts - SG - Duisburg vom 25. Mai 1960; Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein-Westfalen vom 14. Februar 1964). Das LSG hat die Beklagte für befugt gehalten, das Ruhegeld des Klägers auf das ihm nach der Anzahl und Höhe der geleisteten Beiträge zustehende Maß herabzusetzen. Die Ermächtigung zur Richtigstellung entnahm das Berufungsgericht dem § 25 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung und § 138 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG): Beide Vorschriften seien im Verwaltungsverfahren der Rentenversicherungsträger entsprechend anwendbar und erlaubten die Berichtigung offenbarer Unrichtigkeiten in deren Bescheiden. Die Unrichtigkeit des Bescheides vom 1947 sei aus dessen Inhalt zu erkennen und damit offenkundig gewesen. In dem Bescheid der BfA vom 15. Juni 1959 sah das Berufungsgericht kein Hindernis für die Korrektur, weil dieser Bescheid keine selbständige Feststellung der Rentengrundlagen enthalten, sondern den bisherigen Rentenzahlbetrag nur übernommen habe. Geändert worden sei mithin nicht der Bescheid der BfA, sondern der Bescheid der Beklagten aus dem Jahre 1947.

Das LSG hat die Revision zugelassen, der Kläger das Rechtsmittel eingelegt. Er beantragt, die vorinstanzlichen Urteile und den angefochtenen Bescheid der Beklagten aufzuheben und diese zur Zahlung der Rente in Höhe von monatlich 437,20 DM so lange zu verpflichten, bis durch Rentenanpassung dieser Betrag erreicht oder überschritten wird. Die Revision weist darauf hin, daß das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung über die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte eine abschließende Regelung enthalte, deren Voraussetzungen aber nicht gegeben seien; eine Berichtigung sei bislang nur in Fällen fehlerhafter Rentenanpassungen zugelassen worden. Das sei auch verständlich, weil die Rentenanpassungen massenweise in einem auf schnelle Erledigung eingestellten, aber nicht durch zureichende Kontrollen gesicherten Verfahren vorzunehmen gewesen seien. Eine Berichtigung sei sonst allenfalls bei Offenkundigkeit des Fehlers angängig. Dem Kläger habe aber die unzutreffende Rentenberechnung nicht auffallen müssen. Schließlich stehe auch die Länge der inzwischen - seit der fehlerhaften Rentenfeststellung - abgelaufenen Zeit der Maßnahme der Beklagten entgegen. Dazu hätte eine Möglichkeit nach § 7 des Ersten Rentenanpassungsgesetzes noch bis zum 31. Dezember 1959 bestanden. Doch hätten die Versicherungsträger auch bereits früher wiederholt Gelegenheit und Anlaß zur Überprüfung der Rentenhöhe gehabt.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision hat Erfolg.

Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, daß Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten in einem Verwaltungsakt jederzeit berichtigt werden können. Dem LSG ist aber nicht darin zu folgen, daß dem Verhalten der mit der Rentenangelegenheit befaßten Versicherungsträger in der Zeit nach Erlaß des unrichtigen Bescheides keine Bedeutung für das Recht auf Fehlerbeseitigung zukomme.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat wiederholt ausgesprochen, daß die Versicherungsträger die Rentenbescheide zum Nachteil des Versicherten regelmäßig nur aus den Wiederaufnahme- oder Entziehungsgründen der §§ 1744, 1286 RVO zurücknehmen oder ändern dürfen. Neben diesen positiven Gesetzesregeln ist für die Anwendung der Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts über Rücknahme und Widerruf gesetzwidriger Verwaltungsakte kein Raum (BSG 14, 10, 157 und ständige Rechtsprechung). Wohl aber darf der Versicherungsträger die Rentenfeststellung - ähnlich wie ein Richter sein Urteil (§ 138 SGG, § 319 ZPO) - in dem Umfange berichtigen, in dem sich seine Entscheidung als offenbar nicht gewollt ergibt (vgl. BSG 15, 96; dazu neuerdings § 32 des Musterentwurfs eines Verwaltungsverfahrensgesetzes).

In dem Bescheid vom 30. April 1947 findet sich in der Tat ein Versehen, das einen Rechenfehler darstellt, jedenfalls ihm gleichzusetzen ist. Bei der Multiplikation von 80 x 0,38 ist das Komma fälschlicherweise hinter 304 und nicht hinter 30 gesetzt worden. Diese Unstimmigkeit und die Abhängigkeit der gesamten Rentenberechnung von ihr sind offenbar. Jeder Verständige vermochte und vermag sie ohne besondere Sachkenntnis sofort aus dem Inhalt des Bescheides zu erkennen. Mit der Korrektur der Rentenberechnung wurde lediglich auf die aus den Erläuterungen des Bescheides selbst abzulesenden Rechenansätze zurückgegriffen. Es wurde also nicht etwa nachträglich eine durch mangelhafte Tatsachenbewertung oder durch Rechtsirrtum beeinflußte Entscheidung geändert. Das ist für die Berichtigung wesentlich. Diese entbehrt der sachlichen Selbständigkeit und dient bloß dazu, dem Bescheid eine Fassung zu geben, die seinem wahren Inhalt von Anfang an entsprochen hätte. Aus dieser Natur der Berichtigung folgt, daß sie - wie es in den einschlägigen Vorschriften heißt - "jederzeit" vorgenommen werden darf. Niemand kann sich also darauf verlassen, daß eine Rentenberechnung nicht "offenbar unrichtig" sein kann. Eine solche - offenbar unrichtige - Rentenfeststellung ist keine ausreichende Vertrauensbasis für die Entstehung eines schutzwürdigen guten Glaubens (BSG 18, 270).

Gleichwohl können zwischenzeitlich Rechtspositionen erworben worden sein, die einer Berichtigung entgegenstehen. Die Berichtigungsmöglichkeit an sich ist zwar nicht befristet, sie kann aber verwirkt werden. Der Senat hat keine Bedenken, die von der Rechtsprechung - sowohl im privaten als auch im öffentlichen Recht - entwickelten Grundsätze über die Verwirkung von Rechten auch auf den Fall der Berichtigungsbefugnis eines Versicherungsträgers anzuwenden. Im vorliegenden Streitfall sind die Voraussetzungen der Verwirkung erfüllt. Dafür reicht es nicht allein aus, daß der Versicherungsträger lange Zeit hindurch untätig blieb. Selbst ein Zeitablauf von über 12 Jahren braucht das Berichtigungsrecht nicht auszuschließen. Einen entscheidenden Wandel brachten nicht einmal die Leistungsaufbesserungen, die seit Bewilligung der Rente selbsttätig von Gesetzes wegen, also ohne ein Dazutun des Versicherungsträgers, eintraten. Allerdings veränderten auch sie das Gesamtbild der Rente und ließen den anfänglichen Berechnungsfehler immer stärker in Vergessenheit geraten. Wesentlich ist es jedoch, wenn der Versicherungsträger in einem späteren Bescheid an einem früher unterlaufenen Fehler achtlos vorbeigeht. So liegt es hier.

Durch den zweiten Bescheid (1959) wurde die zunächst nur schwach entwickelte Grundlage für das Vertrauen des Klägers in sein Bezugsrecht gefestigt und verstärkt. Mehr denn vorher durfte er sich auf das ihm zugesagte Renteneinkommen einrichten. Eine Richtigstellung der Rentenhöhe hätte er spätestens bei Gelegenheit dieses Bescheides erwarten können. Der Gegenstand des neuen Bescheides erforderte zwar nicht notwendig ein Eingehen auf alle Einzelheiten der Rentenberechnung; der Versicherungsträger wurde nicht unmittelbar auf den früheren Fehler gestoßen. Es darf aber davon ausgegangen werden, daß der Kläger die internen Verwaltungsvorgänge bei der Erteilung des neuen Bescheides nicht kannte und sich nach Empfang des Bescheides des eingetretenen Rechtszustandes sicher glaubte.

Dagegen läßt sich nicht mit Erfolg einwenden, der Bescheid der BfA habe die beschriebene Wirkung nicht auslösen können, weil der letzte Beitrag zur ArV entrichtet worden war und daher nach § 1311 Abs. 1 RVO nicht die BfA, sondern die Beklagte für die Feststellung und Zahlung der Leistung zuständig gewesen sei. Wegen sachlicher Unzuständigkeit wäre der Bescheid der BfA nur nichtig, wenn dieser Versicherungsträger unter keinem denkbaren Gesichtspunkt zum Erlaß eines solchen Bescheides berufen gewesen wäre. Denn nur ein solcher - absoluter - Kompetenzmangel ließe den Verwaltungsakt der Nichtigkeit verfallen (BSG 9, 171, 178 mit Nachweisen). So liegt es hier aber nicht. Der BfA oblag bislang die Feststellung und Zahlung der Gesamtrente aus der Wanderversicherung des Klägers. Die BfA wäre auch zuständig geblieben, wenn nicht durch das Hinzutreten eines besonderen Umstandes, nämlich der Beitragsentrichtung für mehr als 12 Monate nach dem 31. Dezember 1956, ein Wechsel in der Zuständigkeit eingetreten wäre. Es war aber nicht selbstverständlich und damit "evident", daß die BfA mit einem Bescheid der vorliegenden Art in einen fremden Verantwortungsbereich übergriff. Im Recht der Wanderversicherung sind die Verwaltungsaufgaben nach der Zweckmäßigkeit und nicht als Folge sachlich bedingter Gesetzmäßigkeit verteilt. Der Bescheid der BfA konnte dem Kläger durchaus als rechtsgültig zustande gekommen erscheinen; er konnte die Rentenversicherung ebenso verpflichten, wie dies auch durch andere dem Gesetz zuwiderlaufende begünstigende Verwaltungsakte geschehen kann. Die durch den Bescheid der BfA geschaffene Rechtsstellung des Klägers hat deshalb die Beklagte zu beachten.

Nach den Umständen des Falles ist schließlich davon auszugehen, daß der Kläger seinen Lebenszuschnitt auf die ihm gezahlten Rentenbeträge eingestellt hat. Bei einem Rentner, der auf seine Rente angewiesen ist, wirkt sich ein Mehr von 100,- DM monatlich, d. h. im vorliegenden Fall um etwa ein Drittel des Rentenbetrags, erheblich zur Verbesserung der Lebensführung aus. Der Eingriff der Beklagten würde für den Kläger eine empfindliche Einbuße seiner völlig gesichert erscheinenden Einkommenserwartungen bedeuten und von ihm eine Neuplanung seiner Lebensumstände unter starken Einschränkungen bedeuten. Er ist ihm nach dem auch im Sozialversicherungsrecht geltenden Gebot der Wahrung von Treu und Glauben nicht zuzumuten.

Hiernach war die Beklagte gehindert, den Bescheid des Jahres 1947 zu berichtigen. Sie mußte die unrichtig berechnete Rente in Höhe von 437,20 DM weitergewähren. Mehr hat der Kläger in diesem Verfahren nicht geltend gemacht. Die Klage ist daher begründet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

NJW 1966, 125

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