Leitsatz (amtlich)
Es wird daran festgehalten, daß eine Beitragserstattung vor der Vertreibung es nicht ausschließt, eine Beschäftigungszeit gemäß FRG § 16 S 1 einer Beitragszeit gleichzubehandeln (vgl BSG 1964-04-07 4 RJ 195/61 = BSGE 20, 287).
Normenkette
FRG § 16 S. 1 Fassung: 1960-02-25; RVO § 1309a; FRG § 15 Abs. 1; ArVNG Art. 2 § 28 Fassung: 1957-02-23, § 52 Fassung: 1957-02-23, § 42 S. 2 Fassung: 1957-02-23; FANG Art. 6 § 13 Fassung: 1960-02-25; RVO § 1250 Abs. 1 Buchst. a Fassung: 1960-02-25
Tenor
Die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. April 1964 und des Sozialgerichts Augsburg vom 5. Februar 1962 werden teilweise aufgehoben. Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung ihrer Bescheide vom 16. Juni 1951 und vom 22. Juli 1963 verpflichtet, bei der Berechnung der Versichertenrente der Klägerin die Beschäftigungszeiten nach Vollendung des 16. Lebensjahres bis zum 31. Dezember 1938 als anrechnungsfähige Versicherungszeiten zu berücksichtigen.
Die Beklagte wird verurteilt, die der Klägerin wegen Berufsunfähigkeit gewährte Rente - beginnend mit dem 1. März 1963 - in das Altersruhegeld umzuwandeln.
Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin - Rentenbezieherin seit Februar 1961 - möchte als Versicherungsjahre auch die Zeiten angerechnet haben, in denen sie im Sudetenland nach ihrem 16. Lebensjahr als Arbeiterin beschäftigt gewesen ist (§ 16 Satz 1 des Fremdrentengesetzes - FRG -). Sie hatte ihr Arbeitsleben im Jahre 1912 begonnen. Bis zum 31. Dezember 1938 waren für sie Beiträge zur tschechoslowakischen Sozialversicherung entrichtet worden. Die Klägerin ist Vertriebene. Die Beklagte gab dem Antrag auf Rentenerhöhung nicht statt. Sie brachte der Klägerin lediglich 129 Beitragsmonate gut, die seit 1941 zurückgelegt worden waren. Sie nahm an, aus älteren Versicherungszeiten seien alle Ansprüche erloschen, weil sich die Klägerin aus Anlaß ihrer Heirat im November 1940 die Beiträge habe erstatten lassen (§ 1309 a der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF). Die Rente wegen - im Februar 1961 eingetretener - Berufsunfähigkeit berechnete die Beklagte auf 15,30 DM (Bescheid vom 16. Juni 1961). Die sogenannte Vergleichsberechnung gemäß Artikel 2 § 42 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) kam nach Ansicht der Beklagten nicht in Betracht, weil die Klägerin nicht seit 1957 für jedes Kalenderjahr vor dem Jahre des Versicherungsfalls 9 Monatsbeiträge aufgebracht hat. Ferner lehnte es die Beklagte ab, die Versichertenrente, nachdem die Klägerin das 65. Lebensjahr im März 1963 vollendet hatte, in das Altersruhegeld umzuwandeln, weil die Wartezeit von 180 Monaten nicht erfüllt sei (Bescheid vom 22. Juli 1963).
Die Klage wurde in den ersten beiden Rechtszügen abgewiesen (Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 5. Februar 1962 und Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts - LSG - vom 28. April 1964). Das Berufungsgericht sah es für erwiesen an, daß der Klägerin im Jahre 1941 die Beiträge erstattet worden waren. Infolgedessen schied-nach der Auffassung des LSG - eine Berücksichtigung der vorangegangenen Beitragszeiten aus. Das habe auch für Beschäftigungszeiten zu gelten; denn eine Vertriebene könne nach einer Beitragserstattung aus der Tatsache, daß sie vor ihrer Vertreibung beschäftigt gewesen sei, ebensowenig wie eine einheimische Versicherte aus entsprechenden Versicherungszeiten Rechte herleiten.
Die Klägerin hat die von dem LSG zugelassene Revision eingelegt und sich zur Rechtfertigung des Rechtsmittels auf das in BSG 20, 287 veröffentlichte Urteil des Senats berufen. Sie beantragt, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Beklagte unter entsprechender Änderung ihrer Bescheide zu verurteilen, die Beschäftigungszeiten nach Vollendung des 16. Lebensjahres bis Januar 1941 anzurechnen, ihr die "Vergleichsrente" zu gewähren und diese vom 1. März 1963 an in das Altersruhegeld umzuwandeln.
Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§§ 124 Abs. 2, 165 und 153 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision hat zum überwiegenden Teil Erfolg.
Der Klägerin sind die Beschäftigungszeiten, die sie nach Vollendung des 16. Lebensjahres bis zum Ende des Jahres 1938 im Sudetenland zurückgelegt hat, gemäß § 16 Satz 1 FRG wie eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung, für die Beiträge entrichtet sind, anzurechnen. Der Anwendung des § 16 FRG steht nicht entgegen, daß der Klägerin aus Anlaß ihrer Heirat im Jahre 1941 die Beiträge erstattet worden sind.
Diese Rechtsauffassung hat der Senat bereits im Urteil vom 7. April 1964 (BSG 20, 287) vertreten. An ihr wird auch gegenüber den in der Revisionsbegründung erhobenen Bedenken festgehalten. Die Revision macht geltend: die rechtsvernichtende Wirkung einer Beitragserstattung werde ignoriert; den Vertriebenen werde - unter Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes - eine Rechtsstellung eingeräumt, die unter gleichen Umständen "Einheimischen" versagt bleibe; mißachtet werde ferner die systematische Einordnung der Vorschrift des § 16 Satz 1 FRG hinter der des § 15 FRG, eine einmal vorhanden gewesene Beitragszeit schließe den "Durchgriff" auf die ihr zugrunde liegende Beschäftigungszeit aus.
Diese Bedenken gehen an der Eigenständigkeit und dem Neuen ... der in § 16 FRG getroffenen Regelung vorbei. Das mit dem Gesetz vom 25. Februar 1960 geschaffene Fremdrentenrecht will den Vertriebenen eine originäre Rechtsstellung im geltenden System der sozialen Sicherheit gewähren. Dieses Ziel ist mit dem Willen verwirklicht worden, das gegenwärtig und künftig hervortretende Sicherungsinteresse der Vertriebenen ohne Rücksicht auf irgendwelche in einer fremden Sozialversicherung erlittene Schäden zufrieden zu stellen. § 16 FRG ist das Kernstück des neuen Fremdrentenrechts und dient der Eingliederung der Vertriebenen. Vom Entschädigungsprinzip her darf § 16 FRG nicht einengend interpretiert werden. Das dieser Norm wesentliche, einzig in die Vergangenheit weisende Merkmal ist die verrichtete Beschäftigung, also die in wirtschaftlicher und sozialer Abhängigkeit vollbrachte Arbeits- und Lebensleistung, die der einzelne heute nicht mehr nachholen kann. Für die Rechtsfolge des § 16 FRG ist es gleichgültig, ob seine Anwendung zu einem Ausgleich verlorener Rechte und Anwartschaften oder vielleicht zu einem Gewinn gegenüber früheren Verhältnissen führt. Für einen Vergleich der durch § 16 FRG gewährten Rechtsstellung mit der Lage, in der sich der Vertriebene vor seiner Vertreibung befand, läßt dieser Rechtssatz keinen Raum, so wie ihm auch die Idee der Naturalrestitution fremd ist. Deshalb ist es für die Anwendung des § 16 FRG unerheblich, daß der Klägerin vor ihrer Vertreibung fremde Beiträge erstattet worden sind.
Der Gedanke an die Herstellung eines mit der früheren Rechtsposition vergleichbaren Zustandes ist im Rahmen des § 16 FRG ebensowenig angebracht wie im Zusammenhang mit Artikel 2 § 52 ArVNG. Beide Vorschriften gehören gedanklich zusammen und ergänzen sich. So wie hier die Vertriebenen, die in ihrer Heimat abhängig beschäftigt gewesen sind, in die hiesige Rentenversicherung einbezogen werden, so werden dort Personen, die vor der Vertreibung, Flucht oder Evakuierung als Selbständige erwerbstätig waren, durch die großzügige Eröffnung des Rechts zur Nachentrichtung von Beiträgen oder durch die Fiktion der Wartezeiterfüllung bevorzugt in die Rentenversicherung eingereiht. Hier wie dort werden Rechtsstellungen begründet, die im Rahmen der Rentenversicherung eine Besserstellung der Vertriebenen gegenüber vergleichbaren einheimischen Versicherten bedeuten können. Beide Gesetzesbestimmungen dürfen indessen nicht nur aus sozialversicherungsrechtlichen Vorstellungen heraus ausgelegt werden. Ihr Sinn und ihre Funktion weisen über das Rentenversicherungsrecht hinaus. Sie sind Mittel zu einem außerhalb dieses Rechts liegenden Zweck, nämlich Wege, auf denen der Gesetzgeber den Vertriebenen und Flüchtlingen Hilfe und Förderung zuteil werden läßt. Dies ist für das Verständnis des § 16 Satz 1 FRG wesentlich. Weniger erheblich ist es, daß sich der Gesetzgeber zur Lösung der Aufgaben, vor die er sich gestellt sah, ua auch der Mittel der Rentenversicherung bedient hat (vgl. Schneider, Bundesarbeitsbl . 1964, 729).
Die Auslegung des § 16 Satz 1 FRG, die der Senat für richtig hält, bedeutet auch keinen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes. Daß die Erstattung von Beiträgen wohl den nach Reichsrecht versicherten Personen, aber unter den Voraussetzungen des § 16 Satz 1 FRG nicht den Vertriebenen als rechtsvernichtender Einwand entgegengehalten werden kann, bedeutet für diese gewiß eine Privilegierung. Diese Vorzugsstellung findet aber in dem Eingliederungszweck des Gesetzes ihren sachlich vertretbaren Grund. Infolgedessen kann aus der unterschiedlichen Regelung nicht auf eine willkürliche und damit verfassungswidrige Differenzierung geschlossen werden.
Der Auffassung des Senats hält die Beklagte in ihrer Revisionserwiderung zu Unrecht entgegen, daß § 16 Satz 1 FRG nicht angewendet werden dürfe, weil das streitige Rechtsverhältnis bereits nach § 15 Abs. 1 FRG zu beurteilen sei: § 16 Satz 1 FRG knüpfe nach seinen eigenen Worten nur dann Rechtsfolgen an eine Beschäftigung in Vertreibungsgebieten, wenn diese Beschäftigung nicht mit einer Beitragszeit zusammenfalle; § 16 FRG gelte im Verhältnis zu § 15 FRG nur hilfsweise. Dem kann nicht beigestimmt werden. Das Konkurrenzverhältnis der beiden Normen läßt sich nicht oder nur bedingt mit der Subsidiaritätsformel lösen. § 15 FRG ist für solche fremden Beitragszeiten wichtig, die nicht auf Beschäftigungsverhältnissen beruhen, welche nach Bundesrecht die Versicherungspflicht in den gesetzlichen Rentenversicherungen begründet hätten. Insoweit ergänzt sie § 16 FRG. Ihr gegenüber tritt § 16 FRG auch zurück, wenn fremde Beitragszeiten leicht nachweisbar sind. Ist dieser Nachweis jedoch nicht ohne zeitraubende Ermittlungen zu erbringen, dann kann ohne weiteres auf die Regelung des § 16 FRG zurückgegriffen werden (vgl. Bundestagsdrucksache III 1109 S. 40). Damit trifft aber für § 16 FRG gerade das nicht zu, was einer ausschließenden Gesetzeskonkurrenz eigentümlich ist, nämlich, daß ihre Anwendung im Geltungsbereich der vorrangigen Norm völlig ausscheidet. § 16 FRG umschließt noch in einer anderen Hinsicht den Bereich des § 15 FRG mit. In die Regelung des § 16 FRG sollen nicht nur diejenigen Vertriebenen und Flüchtlinge einbezogen sein, in deren Herkunftsländern es keine gesetzlichen Rentenversicherungen gab, sondern auch diejenigen, die in ihrem Heimatland von der Versicherungspflicht aus irgendwelchen Gründen ausgenommen waren (Bundestagsdrucksache III 1109 S. 36). Schließlich gehört hierher auch die - im vorliegenden Falle interessierende - Überlegung, die der Gesetzgeber im Zusammenhang mit der Wirkung einer Beitragserstattung in einer Zeit vor der Vertreibung angestellt hat. In der Begründung zu § 15 des Gesetzentwurfs wurde ausgesprochen, es könne eventuell an eine Anrechnung von Beschäftigungszeiten trotz Erstattung der Beiträge gedacht werden. Das Wort "eventuell" nimmt dem aus den Materialien zu gewinnenden Argument nicht das Gewicht. Die Einschränkung, die in diesem Wort liegt, muß nicht notwendig der Ausdruck eines Zweifels sein. Dabei kann ebensogut daran gedacht worden sein, daß nach § 16 FRG nicht jede durch Erstattung wirkungslos gewordene fremde Beitragszeit als Beschäftigungszeit gewertet werden kann. Denn dafür, ob dies der Fall ist, kommt es auf die rentenversicherungsrechtliche Beurteilung nach dem Bundesrecht an (§ 16 Satz 1 FRG). Entscheidend bleibt die Bedeutung, die § 16 FRG nach der sozial- und rechtspolitischen Absicht des Gesetzgebers zukommt. Entsprechend dem umfassenden Ziel einer Eingliederung der Vertriebenen greift § 16 FRG auch in den Anwendungsbereich des § 15 Abs. 1 FRG über, wenn die Anwendung dieser Gesetzesbestimmung nicht ohnehin bereits zu derselben für den Vertriebenen positiven Rechtsfolge führt, die sich aus der Subsumtion des konkreten Falles unter den Tatbestand des § 16 Satz 1 FRG ergibt. Der Tatbestand des § 15 Abs. 1 FRG ist dem des § 16 FRG zwar vorgelagert; er schmälert aber dessen Wirksamkeitsbereich nicht.
Hiernach sind der Klägerin die Zeiten der nach Vollendung des 16. Lebensjahres im Sudetenland verrichteten Beschäftigungen als Versicherungszeiten anzurechnen. Hiervon sind jedoch die Zeiten nach dem 31. Dezember 1938 bis zur Beitragserstattung ausgeschlossen, weil diese Zeiten nicht unter den Tatbestand des § 16 Satz 1 FRG fallen, sondern für sie zur reichsgesetzlichen Rentenversicherung Beiträge entrichtet worden sind (§ 1250 Abs. 1 Buchst. a idF des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes - FANG - vom 25. Februar 1960). Aus diesen Beiträgen können gemäß § 1309 a RVO aF - diese Vorschrift ist im vorliegenden Fall noch maßgeblich (Art. 2 § 28 ArVNG) - keine weiteren Ansprüche hergeleitet werden.
Unbegründet ist ferner der auf Art. 6 § 13 FANG i. V. m. Art. 2 § 42 ArVNG gestützte Anspruch auf die Berechnung der Berufsunfähigkeitsrente nach der sogenannten Vergleichsberechnung. Die Voraussetzungen für diesen Anspruch wären nur gegeben, wenn die Klägerin für 1960 vor dem Eintritt des Versicherungsfalls im Februar 1961 die nach Art. 2 § 42 Satz 2 ArVNG erforderlichen 9 Monatsbeiträge entrichtet gehabt hätte. Das ist jedoch, wie das Berufungsgericht unbeanstandet festgestellt hat, nicht der Fall.
Wohl kann die Klägerin von dem Monat an, in dem sie das 65. Lebensjahr vollendet hat, die Umwandlung ihrer Rente wegen Berufsunfähigkeit in das Altersruhegeld verlangen, weil sie mit den nach § 16 FRG zu beachtenden Beschäftigungszeiten die Wartezeit für das Altersruhegeld erfüllt hat (§§ 1248 Abs. 4, 1254 Abs. 2 RVO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG; bei ihr läßt sich der Senat von dem Gedanken leiten, daß die Klägerin mit ihrer Klage bis auf einen für den Gesamtanspruch unbedeutenden Teil Erfolg hat.
Fundstellen