Entscheidungsstichwort (Thema)
Unterlassener Sachvortrag. Erörterung mit dem erschienenen Beteiligten
Leitsatz (redaktionell)
Außer den Möglichkeiten nach SGG § 124 Abs 1 und § 126 ist im Gesetz nicht vorgesehen, daß der erschienene Beteiligte gehört und die Streitsache mit ihm erörtert wird, während das Vorbringen des nicht erschienenen Beteiligten nicht in der Darstellung des Sachverhalts zum Ausdruck kommt.
Normenkette
SGG § 112 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 124 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 126 Fassung: 1958-06-25
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 2. Juni 1964 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Beklagte bewilligte dem Kläger durch Bescheid vom 30. Juli 1959 eine Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Januar 1957 an; sie berechnete die Rente nach den von diesem Tage an geltenden Vorschriften mit 44,60 DM monatlich.
Diesen Bescheid hat der Kläger mit der Klage angefochten. Er erstrebt eine höhere Leistung im Wege der "Vergleichsberechnung" nach Art. 2 § 42 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) und außerdem die Vorverlegung des Beginns der Rente. Das Sozialgericht (SG) Bayreuth hat die Klage durch Urteil vom 13. April 1961 abgewiesen. Bei ihm schwebt noch ein Verfahren, in welchem der Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit verlangt.
Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte zweimal auf Grund des § 1287 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) die Berufsunfähigkeitsrente für je sechs Monate versagt, weil der Kläger sich ohne triftige Gründe geweigert habe, eine ärztliche Untersuchung zu dulden, und dadurch die Nachprüfung, ob noch Berufsunfähigkeit vorliege, vereitelt habe (Bescheide vom 22. November 1962 und 21. Juni 1963). Der Kläger hat sich gegen die Berechtigung auch dieser Versagungsbescheide gewendet.
Zur mündlichen Verhandlung vom 2. Juni 1964 hatte das Bayerische Landessozialgericht (LSG) das persönliche Erscheinen des Klägers angeordnet. Daraufhin bat dieser um Terminsverlegung. Er teilte mit, er könne aus wirtschaftlichen Gründen nicht zur Verhandlung kommen; zugleich legte er eine Bescheinigung seines Hausarztes vor, nach welcher er "zur Zeit nicht in der Lage" sei, zu dem Verhandlungstermin zu erscheinen.
Die Verhandlung vor dem LSG hat in Abwesenheit des Klägers stattgefunden. In der Niederschrift hierüber sind die vorgedruckten Worte "Der Berichterstatter trägt den Sachverhalt vor" gestrichen. Darunter heißt es:
"Der Beteiligte wird gehört; die Streitsache wird erörtert. Der Bevollmächtigte der Beklagten verzichtet auf Sachvortrag".
Das LSG hat durch Urteil vom selben Tage (2. Juni 1964) die Berufung des Klägers gegen die erstinstanzliche Entscheidung zurückgewiesen und die Klagen gegen die Versagungsbescheide abgewiesen.
Gegen dieses ihm am 15. Juli 1964 zugestellte Urteil hat der Kläger am 15. Februar 1965 - die vom LSG nicht zugelassene - Revision eingelegt und gleichzeitig um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionsfrist nachgesucht. Zur Begründung der Statthaftigkeit des Rechtsmittels hat er Mängel im Verfahren des LSG gerügt.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und nach den Klageanträgen zu entscheiden,
hilfsweise,
den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
sie zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision ist nicht innerhalb der Monatsfrist des § 164 Abs. 1 Satz 1 SGG eingelegt worden. Daraus entsteht dem Kläger jedoch kein Rechtsnachteil, weil er die Revisionsfrist ohne Verschulden versäumt und deshalb Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) hat. Er hat, weil er wegen seiner Mittellosigkeit nicht selbst einen Prozeßbevollmächtigten mit der Einlegung der Revision beauftragen konnte, innerhalb der Revisionsfrist, nämlich am 14. August 1964, unter Vorlegung des nach § 167 SGG in Verbindung mit § 118 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) erforderlichen behördlichen Zeugnisses die Bewilligung des Armenrechts und die Beiordnung eines Rechtsanwalts beantragt. Diesem Antrag hat der erkennende Senat erst am 16. Januar 1965 entsprochen. Nachdem der Bewilligungsbeschluß dem beigeordneten Rechtsanwalt am 22. Januar 1965 zugestellt worden war, hat dieser innerhalb der Monatsfrist des § 67 Abs. 2 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter gleichzeitiger Nachholung der versäumten Revisionseinlegung und -begründung beantragt. Da somit die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorliegen, gilt die Revision als fristgerecht angebracht, auch die Begründungsschrift als rechtzeitig eingegangen.
Die Revision ist statthaft, weil einer der gerügten Verfahrensmängel vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Unbegründet ist allerdings die Rüge, das LSG habe dem Kläger, indem es seinem Vertagungsantrag nicht stattgegeben habe, das rechtliche Gehör (§ 62 SGG) verweigert.
Es ist nicht zu beanstanden, daß das LSG einen erheblichen Grund, der eine Verlegung des Verhandlungstermins hätte geboten erscheinen lassen (§ 202 SGG in Verbindung mit § 227 ZPO), nicht als gegeben erachtet hat. Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Der Kläger sei nicht aus wirtschaftlichen Gründen verhindert gewesen, zur mündlichen Verhandlung zu kommen; denn ihm sei ein Fahrgutschein übermittelt und sonstige Aufwendungen wären ihm im Falle seines Erscheinens vor dem Gericht aus der Staatskasse ersetzt worden. Es sei auch nicht dargetan, daß der Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht hätte kommen können; die Äußerung des Hausarztes, nach welcher der Kläger "z. Zt. nicht in der Lage (gewesen) sei, zu dem Termin in M zu erscheinen", entbehre der notwendigen Begründung. - Die Verfahrensweise des Berufungsgerichts läßt keine Verletzung der Vorschriften über die Gewährung des rechtlichen Gehörs erkennen. Die Revision hat nicht durch Bezeichnung von Tatsachen und Beweismitteln (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG) erläutert, inwiefern der Kläger entgegen den überzeugenden Ausführungen des LSG dennoch verhindert gewesen sein soll, den Verhandlungstermin wahrzunehmen.
Auch die weitere Rüge, bei gründlicher Aufklärung des Sachverhalts wäre das LSG nicht zu der unrichtigen Feststellung gekommen, der Kläger sei zeitweise als Wachmann und Maschinist tätig gewesen, hat keinen Erfolg. Sie ist nicht schlüssig, weil nicht angegeben wird, inwiefern es im vorliegenden Rechtsstreit, in dem nicht über Merkmale der Berufsunfähigkeit, sondern um die Höhe und den Beginn der Versichertenrente gestritten wird, nach dem sachlich-rechtlichen Standpunkt des LSG auf eine Lückenlose Klärung des Berufsbildes des Klägers angekommen wäre.
Mit Recht rügt dagegen die Revision, das LSG hätte in der mündlichen Verhandlung vom 2. Juni 1964 nicht von dem Sachvortrag absehen dürfen. Eingangs der Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils heißt es allerdings, der Kläger sei darauf hingewiesen worden, daß "im Falle seines Ausbleibens auf Antrag des anderen Beteiligten - wie geschehen - nach Aktenlage entschieden werden könne (§§ 153, 110 und 126 SGG)". Wenn hiermit gesagt sein soll, das LSG habe nach Lage der Akten entschieden, so entspricht dies nicht dem tatsächlichen Hergang im Termin vom 2. Juni 1964. Nach der Verhandlungsniederschrift des LSG ist der - von den Beteiligten allein anwesende - Bevollmächtigte der Beklagten gehört und die Streitsache erörtert worden. Nachdem dieser außerdem Anträge zur Sache gestellt hatte, hat der Vorsitzende "die mündliche Verhandlung für geschlossen erklärt". Daß auf Grund mündlicher Verhandlung entschieden worden ist, besagt auch das Rubrum des angefochtenen Urteils. Zur mündlichen Verhandlung gehört nach § 112 Abs. 1 SGG die Darstellung des Sachverhalts. Diese ist aber - wie die Verhandlungsniederschrift ausweist - unterblieben. In der Unterlassung der Sachdarstellung hat bereits der 12. Senat des Bundessozialgerichts einen wesentlichen Mangel des Verfahrens gesehen (BSG SozR SGG § 112 Nr. 5). Dieser Rechtsauffassung hat sich der erkennende Senat in einem Beschluß vom 29. Juli 1965 - 4 RJ 197/65 - angeschlossen; er hält auch weiter daran fest. Ein Verlust des Rügerechts aus dem Gesichtspunkt des Verzichts (vgl. hierzu die o. a. Entscheidung vom 29. Juli 1965) kommt im vorliegenden Falle nicht in Betracht, weil der Kläger zwar auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung, nicht aber gleichzeitig damit auf die Befolgung der gesetzlichen Vorschriften über den Ablauf der Verhandlung verzichtet hat. Er hat durch sein Ausbleiben im Verhandlungstermin nur eine Entscheidung auf Grund vollständiger mündlicher Verhandlung (§ 124 Abs. 1 SGG) oder eine solche nach Lage der Akten § 126 SGG) in Kauf genommen, nicht aber die - im Gesetz nicht vorgesehene - Möglichkeit, daß sein Prozeßgegner gehört und die Streitsache mit ihm erörtert werde, während sein eigenes Vorbringen nicht einmal in der Darstellung des Sachverhalts zum Ausdruck kommen würde.
Die somit zulässige Revision ist auch begründet. Das angefochtene Urteil muß aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden, weil es dem LSG an einer gesetzmäßigen Grundlage für seine Sachentscheidung gefehlt hat; hierauf kann das angefochtene Urteil beruhen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Über die Erstattungsfähigkeit der Kosten des Revisionsverfahrens wird das LSG in seiner abschließenden Entscheidung mitzubefinden haben.
Fundstellen