Leitsatz (amtlich)

Der Begriff "niederländische Versicherung" in Anh VI C 2 e EWGV 1408/71 umfaßt sowohl das niederländische Alterssicherungssystem als auch die niederländische Erwerbsunfähigkeitsversicherung. Beiträge zu dem einen wie dem anderen System stehen deshalb für die Anrechnung deutscher Ersatzzeiten nach § 1251 Abs 2 RVO der Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit nach deutschen Rechtsvorschriften gleich.

 

Orientierungssatz

Den Anforderungen des § 161 Abs 1 SGG genügt es, wenn der Revisionskläger nur eine Fotokopie der Einwilligungserklärung des Rechtsmittelgegners einreicht (vgl BSG vom 13.2.1964 3 RK 94/59 = BSGE 20, 154, 155).

 

Normenkette

EWGV 1408/71 Anh 6 Abschn. C Nr. 2 Buchst. e; RVO § 1251 Abs. 2 S. 2 Buchst. c; EWGV 1408/71 Art. 89; SGG § 161 Abs. 1 Sätze 1, 3

 

Verfahrensgang

SG Duisburg (Entscheidung vom 07.10.1985; Aktenzeichen S 8 J 76/83)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die erforderliche Halbbelegung für die Anrechnung von Ersatz- und Ausfallzeiten.

Der am 27. Juni 1923 geborene Kläger hat von 1937 bis 1940 den Beruf des Tischlers im elterlichen Betrieb erlernt und ist dort als Geselle bis zu seiner Einberufung zum Wehrdienst ohne Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung tätig gewesen, ebenso ab Oktober 1945 nach der Kriegsgefangenschaft. Ab August 1949 war er Mitinhaber und später Alleininhaber des Betriebes.

Vom 1. Januar 1948 bis 31. Juli 1963 war der Betriebsort, die Stadt E., den Niederlanden angegliedert. Vom 23. April 1949 bis zum 31. Juli 1963 hat der Kläger Beiträge zum niederländischen Alterssicherungssystem (A.O.W.), nicht jedoch zur Erwerbsunfähigkeitsversicherung (W.A.O.) entrichtet.

Die Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinprovinz stellte zunächst mit Bescheid vom 15. Oktober 1964 die Versicherungspflicht des Klägers nach § 1 des Handwerkerversicherungsgesetzes (HWVG) und sodann - unter Berücksichtigung der Beiträge zur A.O.W. und der bis zum 31. Juli 1967 entrichteten Pflichtbeiträge nach dem HWVG - durch Bescheid vom 1. August 1967 die Versicherungsfreiheit des Klägers fest, weil er für 216 Monate Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Tätigkeit nach § 1 HWVG entrichtet habe.

Den weiteren Bescheid vom 2. November 1982, mit dem ab 1. Februar 1981 Rente wegen Berufsunfähigkeit gewährt wurde, beanstandete der Kläger wegen Nichtanrechnung von Ersatzzeiten und Ausfallzeiten. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 16. Februar 1983), weil nach Auffassung der Beklagten in die Berechnung der Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit nur Beiträge zur niederländischen Erwerbsunfähigkeitsversicherung (W.A.O.) einfließen könnten, die der Kläger nicht entrichtet habe und somit die Halbbelegung nach § 1251 Abs 2 Buchst c Reichsversicherungsordnung (RVO) und nach § 1259 Abs 3 RVO nicht gegeben sei.

Während des Klageverfahrens hat die Beklagte durch Bescheid vom 16. August 1985 die Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. November 1983 in eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit umgewandelt.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte mit dem angefochtenen Urteil verpflichtet, die Zeit vom 27. Juni 1939 bis zum 31. März 1940 als Ausfallzeit und die Zeit vom 24. März 1942 bis zum 15. Oktober 1945 als Ersatzzeit zu berücksichtigen. Die Beklagte müsse sich an der Anerkennung der niederländischen Beitragszeiten zum A.O.W.- System als einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung gleichgestellten Zeit durch die LVA Rheinprovinz festhalten lassen. Im übrigen ergebe sich aus Anhang VI C 2e der EWGV 1408/71, daß für die Bewohner des hier genannten Gebiets, zu denen der Kläger gehöre, "die Entrichtung von Beiträgen zur niederländischen Versicherung" für die Anerkennung deutscher Ersatzzeiten nach § 1251 Abs 2 RVO der Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit nach deutschen Rechtsvorschriften gleichstehe. Entsprechendes gelte für die geltend gemachte Ausfallzeit (Lehrzeit nach Vollendung des 16. Lebensjahres), obwohl der Kläger durch Anrechnung einer pauschalen Ausfallzeit mindestens gleichen Umfangs insoweit nicht beschwert sei.

Auf Antrag der Beklagten, dem die Einverständniserklärung des Klägers beigefügt war, hat das SG durch Beschluß vom 21. November 1985 die Sprungrevision zugelassen.

Mit der Sprungrevision rügt die Beklagte die Verletzung der Art 1 Buchst r, 45 Abs 1 und des Anhangs VI C 2e der EWGV 1408/81 sowie des § 1251 Abs 2 RVO. Sie verweist auf die in Art 38 der EWGV 1408/71 vorgenommene Differenzierung und verneint eine präjudizielle Wirkung der Entscheidung der LVA Rheinprovinz bezüglich der Anrechnung der Beiträge zur A.O.W. auf die Halbbelegung.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG Duisburg vom 7. Oktober 1985 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Sprungrevision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Sprungrevision ist unbegründet und daher zurückzuweisen.

Die Revision genügt den Anforderungen des § 161 Abs 1 SGG. Die Beklagte hat dem Revisionsantrag zwar nur eine Fotokopie der Einwilligungserklärung des Klägers beigefügt. Dies genügt nach der Rechtsprechung des BSG dem Schriftformerfordernis des § 161 Abs 1 SGG (BSGE 20, 154, 155f = SozR zu § 164 SGG Nr 17). Eine Divergenz zum Beschluß des Bundesgerichtshofes (BGH) vom 5. Juli 1984 (ZIP 1984, 1080 f), in dem die beizufügende handschriftliche Unterzeichnung der Einwilligungserklärung des Gegners verlangt wird, liegt nicht vor. Anders als im Zivilprozeß kann die Zulassung der Revision im sozialgerichtlichen Verfahren auch durch besonderen Beschluß erfolgen. Das ist hier geschehen. Gemäß § 161 Abs 1 Satz 3 SGG ist dann die schriftliche Zustimmungserklärung bereits dem Antrag auf Zulassung der Sprungrevision beizufügen. Auch das hat die Beklagte getan. Unter dieser Voraussetzung erfordert es der Grundsatz der Rechtsmittelklarheit nicht mehr, daß der Revisionskläger die handschriftlich unterzeichnete Einwilligungserklärung des Rechtsmittelgegners dem Revisionsantrag nochmals beifügt.

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist gemäß § 96 Abs 1 SGG auch der Bescheid der Beklagten vom 16. August 1985, der die zuvor gewährte Rente wegen Berufsunfähigkeit in eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit umgewandelt und insoweit den ursprünglich aufgehobenen Bescheid ersetzt hat.

Die für die Anrechnung der Ersatzzeit vom 24. März 1942 bis Oktober 1945 nach § 1251 Abs 2 Buchst c RVO erforderliche Halbbelegung ist hier für die Rente wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit als erfüllt anzusehen. Das folgt aus Art 89 iVm Anhang VI c Ziff 2e der EWGV 1408/71. Eines Eingehens auf die vom SG erörterte Frage der Bindung an Bescheide der LVA Rheinprovinz bedarf es deshalb nicht.

Bei der hier zu beurteilenden Zeit des Wehrdienstes und der Gefangenschaft handelt es sich um eine Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Ziff 1 RVO, die jedoch nach § 1251 Abs 2 Buchst e RVO nur dann anrechnungsfähig ist, wenn die Zeit vom Kalendermonat des Eintritts in die Versicherung bis zum Kalendermonat, in dem der Versicherungsfall eingetreten ist, mindestens zur Hälfte, jedoch nicht unter 60 Monaten, mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt ist. Das trifft zu, weil die Halbbelegung unter Anrechnung der vom Kläger in der Zeit vom 23. April 1949 bis 31. Juli 1963 zum niederländischen Altersversicherungssystem A.O.W. entrichteten Pflichtbeiträge gegeben ist.

Die Anrechenbarkeit der Pflichtbeiträge zum A.O.W. hat nach Art 89 EWGV 1408/71 iVm dem Anhang VI C 2 e EWGV 1408/71 stattzufinden. Die Anwendbarkeit der EWGV 1408/71 auf den vorliegenden Fall ergibt sich, wie unter den Beteiligten unstreitig ist, in sachlicher, persönlicher und zeitlicher Hinsicht aus Art 4 Abs 1 Buchst b, Art 2 Abs 1 und Art 94 Abs 2 der EWGV 1408/71.

Für die Anrechnung deutscher Ersatzzeiten - hier des Dienstes in der deutschen Wehrmacht nebst Kriegsgefangenschaft - gelten nach Art 89 iVm Anhang VI C 2d der EWGV 1408/71 ausschließlich die innerstaatlichen deutschen Rechtsvorschriften. Dies würde den Ausschluß der zur niederländischen A.O.W. entrichteten Beiträge von der Anrechnung auf die zur Anerkennung einer Ersatzzeit erforderliche Halbbelegung bedeuten, da sich § 1251 Abs 2 Buchst c RVO nicht auf ausländische Rentenversicherungsbeiträge bezieht. Abweichend von Buchstabe d) gilt jedoch nach der ausdrücklichen Bestimmung des Anhangs VI C 2 e der EWG 1408/71 für die Versicherten der deutschen Rentenversicherung, die in der Zeit vom 1. Januar 1948 bis 31. Juli 1963 in den in dieser Zeit unter niederländischer Verwaltung stehenden deutschen Gebieten wohnten, folgendes: "Die Entrichtung von Beiträgen zur niederländischen Versicherung in dieser Zeit steht für die Anrechnung deutscher Ersatzzeiten nach § 1251 Abs 2 RVO der Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit nach deutschen Rechtsvorschriften gleich." Unter diese Regelung fällt der Kläger zeitlich und örtlich unstreitig.

Im Gegensatz zur Auffassung der Beklagten ist dabei nur entscheidend, daß Beiträge zu einem niederländischen "Rentenversicherungssystem" entrichtet worden sind. Das ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift. Sie stellt, wie bereits ausgeführt, eine ausdrücklich normierte Ausnahme von der Grundregelung für die Anrechnung ausländischer Versicherungszeiten dar. Dem VO-Geber, der mit der VO gerade, wie es in der Präambel heißt, "... Vorschriften über die Koordinierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit ..." schaffen wollte, waren die Unterschiede der zu koordinierenden Systeme bekannt. Es muß deshalb angenommen werden, daß bei den Versicherten der deutschen Rentenversicherung, die in dem sogenannten Selfkantgebiet wohnten, der Begriff "niederländische Versicherung" auch dann, wenn nicht ein Altersruhegeld, sondern eine Erwerbsunfähigkeitsrente zu gewähren ist, das A.O.W.-System mit umfassen sollte.

Eine solche Regelung ist auch gerechtfertigt, weil der Kläger im streitigen Zeitraum unter der Geltung deutschen Rechts der Versicherungspflicht nach § 1 der HWVG unterlegen hätte. Die Unterstellung des genannten Gebietes unter niederländische Verwaltung ist als Kriegsfolge anzusehen. Durch Anhang VI C 2 e EWGV 1408/71 sollen nun die nachteiligen Auswirkungen dieser Kriegsfolge ausgeglichen werden, die erst bei der Rückgliederung des Selfkantgebietes in die Bundesrepublik Deutschland für die in der deutschen Rentenversicherung Versicherungspflichtigen offenbar geworden waren. Dabei war eine Sonderregelung insbesondere hinsichtlich des Ersatzzeittatbestandes des § 1251 Abs 1 Ziff 1 RVO notwendig, um eine Gleichstellung zwischen den von Anfang an in der deutschen Rentenversicherung Versicherungspflichtigen und den erst später nach der Rückgliederung des Selfkantgebietes Versicherten zu erreichen. Selbst wenn diese Regelung beim Kläger gegenüber anderen deutschen Versicherten zu einer Begünstigung führen sollte, ist diese hinzunehmen. Es hätte dem VO-Geber nämlich freigestanden, den Personenkreis, zu dem der Kläger gehört, von der Vergünstigung in Anhang VI C 2e der EWGV 1408/71 auszuschließen, wenn ihm dies sachgerecht erschienen wäre. Das war aber nicht der Fall; denn die genannte Ausnahmeregelung differenziert nicht zwischen den unterschiedlichen niederländischen "Rentenversicherungssystemen". Offenbar wollte der Gesetzgeber eine derartige Differenzierung zwischen den zur niederländischen Erwerbsunfähigkeitsversicherung und den zum niederländischen Alterssicherungssystem entrichteten Beiträgen vermeiden, zumal von der Gleichstellungsvorschrift in Anhang VI C 2c der EWGV 1408/71 nur ein kleiner Kreis von Versicherten betroffen ist.

Stehen aber die vom Kläger zum A.O.W.-System entrichteten Beiträge nach Art 89 iVm Anhang VI C 2 e EWGV 1408/71 der Ausübung einer versicherungspflichtigen Tätigkeit gleich und sind die genannten Beiträge als Pflichtbeiträge iS von § 1251 Abs 2 RVO Buchst c anzusehen, so ist die Halbbelegung nach dieser Vorschrift gegeben.

Soweit die Beklagte zur Anerkennung einer Ausfallzeit von 10 Monaten (27. Juni 1939 bis 31. März 1940) verurteilt worden ist, ist sie als Revisionsführerin nicht beschwert, da nach den Feststellungen des SG in den angefochtenen Bescheiden bereits eine - pauschale - Ausfallzeit von ebenfalls 10 Monaten berücksichtigt ist. Davon geht offensichtlich auch die Beklagte aus, weil ihre Revisionsbegründung keine substantiierten Ausführungen gegen die Verurteilung zur Berücksichtigung der genannten - konkreten - Ausfallzeit enthält.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1664397

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