Entscheidungsstichwort (Thema)
Statthaftigkeit der Berufung bei Streit über Erstattungsanspruch. Zulässigkeit der Berufung
Leitsatz (amtlich)
Die Statthaftigkeit der Berufung richtet sich bei Streitigkeiten zwischen Behörden und Körperschaften des öffentlichen Rechts über Erstattungsansprüche (§§ 102 ff SGB 10) nur nach § 149 SGG.
Orientierungssatz
1. Die Berufung ist bei Erstattungsstreitigkeiten gemäß §§ 102 ff SGB 10 auch dann zulässig, wenn sie wegen des dem Rechtsstreit zugrundeliegenden Anspruchs unzulässig wäre.
2. Zum Anspruch auf Krankenhausbehandlung im Ausland.
Normenkette
SGG §§ 149, 144 Abs 1 Nr 2; SGB 10 § 102; RVO § 184 Abs 1, § 182 Abs 2
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 29.05.1985; Aktenzeichen L 9 Kr 18/84) |
SG Berlin (Entscheidung vom 16.12.1983; Aktenzeichen S 72 Kr 313/82) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) der klagenden Landesversicherungsanstalt (LVA) 4.745,86 DM erstatten muß.
Vom 2. August bis 13. September 1982 befand sich der Rentner Siegward T. (T.) zu einer stationären Tuberkulose-Heilbehandlung in der T.-Sch. Heilstätte in D. (Schweiz). Die Kosten dieser Heilbehandlung in Höhe von 4.745,86 DM übernahm zunächst die Klägerin, verlangte dann aber die Erstattung von der Beklagten, weil Tuberkulose-Behandlungen im Ausland gemäß § 1244a Abs 9 der Reichsversicherungsordnung (RVO) - gestrichen durch Gesetz vom 22. Dezember 1983 (BGBl I 1532) - zu Lasten der Rentenversicherung ausgeschlossen gewesen seien.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung als unzulässig verworfen. In den Entscheidungsgründen wird ua ausgeführt: Die Berufung bei Erstattungsstreitigkeiten sei nicht schon dann zulässig, wenn der Beschwerdewert des § 149 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) überschritten werde. Vielmehr müßten in einem solchen Falle auch die Vorschriften der §§ 144 ff SGG beachtet werden. Es komme deshalb darauf an, was den Gegenstand des Erstattungsanspruchs bilde. Hier sei Gegenstand die dem Rentner T. gewährte stationäre Krankenbehandlung in der Zeit vom 2. August bis zum 13. September 1982 und damit eine wiederkehrende Leistung für einen Zeitraum von weniger als 13 Wochen. Für den Leistungsanspruch wäre die Berufung deshalb gemäß § 144 Abs 1 Nr 2 SGG ausgeschlossen; für den darauf bezogenen Erstattungsanspruch könne nichts anderes gelten. Daran ändere sich auch nichts dadurch, daß die Ausgleichsansprüche nach den §§ 102 ff des 10. Buchs des Sozialgesetzbuchs - Verwaltungsverfahren - (SGB X) als eigenständige Erstattungsansprüche ausgestaltet seien. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in seiner Entscheidung vom 25. September 1971 (SozR § 146 SGG Nr 27) zum Ersatzanspruch der inzwischen aufgehobenen Vorschrift des § 1531 RVO trotz der Eigenständigkeit dieses Anspruchs die tatsächliche und wirtschaftliche Verquickung mit dem zugrunde liegenden Anspruch des Versicherten betont und die Berufung als unzulässig angesehen, wenn der dem Ersatzanspruch zugrunde liegende Anspruch des Versicherten nach den §§ 144 ff SGG nicht berufungsfähig sei. Da der Ersatzanspruch aus § 1531 RVO aF mit den Erstattungsansprüchen des SGB X vergleichbar sei, gelte die Rechtsprechung zum alten Recht weiter.
Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 149 SGG und macht geltend, daß die Berufung entgegen der Annahme des LSG zulässig sei. § 149 SGG stelle eine lex specialis dar. Die Vorschrift schließe die Anwendung der §§ 144 bis 148 SGG aus. Die Erstattungsansprüche der §§ 102 ff SGB X könnten auch nicht mit den Regelungen des alten Rechts verglichen werden. Vor der einheitlichen Kodifikation der Ausgleichsansprüche als Erstattungsansprüche habe es verschiedenartige Rechtsinstitute des Ausgleichs gegeben. Deshalb sei die Rechtsprechung des BSG zum alten Recht auch nicht auf die Erstattungsansprüche der §§ 102 ff SGB X anwendbar. Die Berufung sei auch in der Sache begründet. Sie, die Klägerin, habe die stationäre Heilbehandlung als vorläufige Leistung nach § 6 Abs 2 des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes (RehaAnglG) erbracht. Die dadurch entstandenen Kosten seien ihr gemäß § 102 SGB X von der beklagten Krankenkasse zu erstatten.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung der Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 29. Mai 1985 und des Sozialgerichts Berlin vom 16. Dezember 1983 zu verurteilen, der Klägerin 4.745,86 DM zu erstatten, hilfsweise, den Rechtsstreit an das Landessozialgericht Berlin zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Berufung ebenfalls nach § 149 SGG für zulässig, weil die Vorschriften der §§ 144 bis 148 SGG nicht auf die eigenständigen Erstattungsansprüche der §§ 102 ff SGB X angewendet werden könnten. Die Klage sei aber unbegründet. Nach der Rechtsprechung des BSG dürfe Krankenhauspflege im Ausland nur gewährt werden, wenn keine ausreichende, die Chance eines Heilerfolges bietende Behandlungsmöglichkeit in einer inländischen Klinik bestehe. Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt. Der Rentner T. hätte nämlich auch in deutschen Kliniken ausreichend behandelt werden können. Die Auffassung der Klägerin, daß eine Behandlung nach § 184a RVO vorgelegen habe, sei unzutreffend. Vielmehr habe es sich bei der Behandlung des T. in den T.-Sch. Heilstätten um Krankenhauspflege iS des § 184 RVO gehandelt, denn die Behandlung sei darauf gerichtet gewesen, die Krankheit zu bekämpfen und entweder ausschließlich oder doch zumindest in erheblichem Maße den körperlichen Zustand des Patienten zu verbessern.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG, weil die Tatsachenfeststellungen zur Entscheidung über den streitigen Erstattungsanspruch nicht ausreichen.
Entgegen der Auffassung des LSG ist die Berufung der Klägerin zulässig. Das Rechtsmittel ist weder durch § 149 SGG noch durch § 144 Abs 1 Nr 2 SGG ausgeschlossen.
Nach § 149 SGG ist die Berufung ua nicht zulässig bei Ersatz- oder Erstattungsstreitigkeiten zwischen Behörden oder Körperschaften des öffentlichen Rechts, wenn der Beschwerdewert 1.000,-- DM nicht übersteigt. Die Voraussetzungen für einen Berufungsausschluß nach der genannten Norm sind nicht gegeben. Zwar handelt es sich im vorliegenden Falle um eine Erstattungsstreitigkeit iS von § 149 SGG. Der Beschwerdewert übersteigt jedoch 1.000,-- DM.
Obwohl der von der Klägerin geltend gemachte Erstattungsanspruch seine Grundlage in wiederkehrenden Leistungen für einen Zeitraum von weniger als 13 Wochen, nämlich in der dem Rentner T. in der Zeit vom 2. August bis zum 13. September 1982 gewährten stationären Krankenbehandlung (vgl dazu BSGE 2, 135, 136 ff; 22, 181, 184) findet, ist die Berufung nicht ausgeschlossen. Denn auf Erstattungsstreitigkeiten zwischen Behörden, Körperschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts läßt sich die Vorschrift des § 144 Abs 1 Nr 2 SGG nicht anwenden, weil es sich nicht um einen Sozialleistungsanspruch im Sinne dieser Vorschrift handelt, sondern um einen anderen, selbständigen Anspruch, der lediglich von einem Sozialleistungsanspruch abhängig ist. Gerade weil § 144 Abs 1 Nr 2 SGG auf solche Ansprüche nicht anwendbar ist, bedurfte es einer besonderen in § 149 SGG als lex specialis getroffenen Regelung (vgl dazu Hennig/Danckwerts/König, SGG, Komm, § 149 Erl 1; Peters/Sautter/Wolff, Komm zur SGb, 4. Aufl, § 149 Anm 1 - 39. Nachtrag - unter Hinweis auf LSG Stuttgart in Breithaupt 1981, 944 und LSG Celle in Breithaupt 1982, 350; Rohwer-Kahlmann, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, Komm zum SGG, 4. Aufl, § 149 Rz 1), um eine sonst unbegrenzte Statthaftigkeit der Berufung zu vermeiden (zur Systematik der Berufungsausschlußgründe der §§ 144 ff SGG s auch BSG, Urteil vom 24. März 1983 - 8 RK 33/81 - SozR 1500 § 144 Nr 21).
Der erkennende Senat weicht mit dieser Auslegung nicht von der Entscheidung eines anderen Senats des BSG ab, so daß die Frage der Zulässigkeit der Berufung nicht gemäß § 42 SGG dem Großen Senat zur Entscheidung vorgelegt werden muß. Soweit in den Urteilen des 4., 3. und 8. Senats vom 27. April 1967 - 4 RJ 295/66 -, vom 23. August 1967 - 3 RK 43/67 - und vom 21. September 1971 - 8 RV 607/70 - (SozR § 146 SGG Nrn 18, 19 und SozR § 148 SGG Nr 36) §§ 146 bzw 148 SGG für anwendbar erklärt worden ist, können die entschiedenen Fälle nicht mit dem hier gegebenen Sachverhalt verglichen werden. Gegenstand der Berufung waren in den genannten Entscheidungen nicht Erstattungsansprüche, sondern übergeleitete oder übergegangene Sozialleistungsansprüche, die diesen Charakter nicht verloren hatten. Der von der Klägerin geltend gemachte Erstattungsanspruch findet seine Rechtsgrundlage in den §§ 102 ff SGB X. Diese Vorschriften begründen jedoch eigenständige Erstattungsansprüche, denen zwar ein Sozialleistungsanspruch zugrunde liegen kann, der aber nicht Gegenstand des Erstattungsanspruchs und damit der Berufung ist (BSGE 57, 146, 147 = SozR 1300 § 103 Nr 2; BSG, Urteil vom 13. September 1984 - 4 RJ 63/83 - SozR 1300 § 103 Nr 3; BSGE 58, 119, 125 f = SozR 1300 § 104 Nr 7 mit zahlreichen Nachweisen aus dem Schrifttum; siehe ferner Engelmann in Schroeder-Printzen/Engel- mann/Schmalz/Wiesner/von Wulffen, Sozialgesetzbuch - SGB X -, Komm und Ergänzungsband, Vorbem 3 vor § 102). Daß die Berufungsfähigkeit eines eigenen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs sich nicht nach § 148 SGG, sondern nach § 149 SGG richtet, hat der 10. Senat bereits entschieden (BSG, Urteil vom 16. März 1972 - 10 RV 594/70 - SozR § 149 SGG Nr 17). Das gilt auch im Verhältnis von § 144 zu § 149 SGG.
Eine Vorlagepflicht an den Großen Senat des BSG ergibt sich auch nicht im Hinblick auf das Urteil vom 25. Mai 1971 - 4 RJ 449/68 - (SozR § 146 SGG Nr 27). Darin hat der 4. Senat des BSG zwar die Auffassung vertreten, daß die Berufung nach § 146 SGG ausgeschlossen sei, wenn sie einen Ersatzanspruch des Trägers der Sozialhilfe (§ 1531 RVO aF) betrifft, der einen Rentenanspruch für eine abgelaufene Zeit (§§ 1536, 1535b RVO) erfaßt. Die Gleichsetzung des Ersatzanspruchs aus § 1531 RVO aF mit den Fällen eines Übergangs des Rentenanspruchs kraft Gesetzes oder der Überleitung durch Anzeige ist jedoch mit den besonderen Regelungen der inzwischen ebenfalls aufgehobenen Vorschriften der §§ 1535b und 1536 RVO begründet worden.
Der erkennende Senat kann dahinstehen lassen, ob der Ersatzanspruch aus § 1531 RVO aF hinsichtlich der Berufungsausschlußgründe der §§ 144 bis 148 SGG mit übergegangenen oder übergeleiteten Ansprüchen gleichgesetzt werden konnte. Jedenfalls ist die damalige Rechtslage mit dem Inhalt der Regelungen der §§ 102 ff SGB X nicht vergleichbar. Zwar hat schon § 1531 RVO aF dem Sozialhilfeträger einen eigenen, selbständig neben dem Anspruch des Versicherten gegen einen Versicherungsträger tretenden Ersatzanspruch gegeben (BSG, Urteil vom 30. August 1979 - 4 RJ 65/77 - USK 79232). Die Möglichkeit der Erstattung war aber durch die im Urteil des 4. Senats des BSG vom 25. Mai 1971 genannten Vorschriften der §§ 1536 und 1535b RVO aF für den Ersatzanspruch des § 1531 aF RVO in einer Weise beschränkt, wie sie das neue Recht nicht kennt. Soweit der erstattungsbegehrende Leistungsträger seinen Anspruch auf § 102 SGB X stützen kann, richtet sich der Umfang des Erstattungsanspruchs nicht nach den für den erstattungspflichtigen, sondern für den vorleistenden Leistungsträger geltenden Vorschriften, so daß der Erstattungspflichtige uU mehr an Leistungen erstatten muß, als er selbst dem Leistungsberechtigten hätte erbringen müssen. Während nach altem Recht für den Ersatzanspruch nur die Renten beansprucht werden konnten, ist nach § 103 Abs 1, § 104 Abs 1 Satz 1 und § 105 Abs 1 SGB X die Durchsetzung des Erstattungsanspruchs auch dann noch möglich, wenn der erstattungspflichtige Leistungsträger seine Leistung bereits erbracht hat. Dies gilt allerdings nur in den Fällen, in denen er bereits im Zeitpunkt seiner Leistung von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Diese genannten Regelungen zeigen aber, daß die Erstattungsansprüche nach neuem Recht - anders als nach §§ 1531 ff RVO aF - nicht mehr in jedem Falle auf die vom anderen Leistungsträger dem Leistungsberechtigten zu erbringende Leistung beschränkt sind. Wegen dieser unterschiedlichen rechtlichen Ausgestaltung der Erstattungsansprüche der §§ 102 ff SGB X im Vergleich zum Ersatzanspruch des § 1531 RVO aF entscheidet der erkennende Senat nicht über dieselbe Rechtsfrage, die Gegenstand der Entscheidung des 4. Senats im Urteil vom 25. Mai 1971 war, so daß eine Abweichung iS von § 42 SGG, die zur Vorlage an den Großen Senat verpflichten würde, nicht vorliegt (vgl BSGE 29, 225, 228 f; 49, 175, 178 f; 58, 183, 186).
Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden. Einer Sachentscheidung steht zwar nicht entgegen, daß das LSG die Berufung als unzulässig verworfen hat (BSGE 25, 251, 254). Die Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts reichen aber zur Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch nicht aus. Die beklagte AOK könnte nur dann nach den §§ 102 ff SGB X verpflichtet sein, die durch die Heilbehandlung verursachten Kosten der Klägerin zu erstatten, wenn der inzwischen verstorbene Rentner T. einen Anspruch auf Krankenhauspflege im Ausland gehabt haben sollte. Dies setzt voraus, daß die stationäre Behandlung notwendig war und im Inland nicht mit Erfolg hätte durchgeführt werden können (BSGE 55, 188, 193 f). Das LSG wird die insoweit noch erforderlichen Tatsachenfeststellungen nachholen und dann in der Sache selbst entscheiden müssen. Außerdem wird das Berufungsgericht bei seiner abschließenden Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen