Leitsatz (redaktionell)
Zum Begriff "grobe Nachlässigkeit" iS des SGG § 109 Abs 2.
Normenkette
SGG § 109 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 20. Februar 1962 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger bezog nach den Vorschriften der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 wegen Entzündung der Arm- und Beinnerven sowie wegen chronischen Darmkatarrhs mit Beeinträchtigung des Magens (Gastritis subacida ) Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v. H. Eine ärztliche Nachuntersuchung im Jahre 1949 ergab einen motorischen Reizmagen bei völliger Säurelosigkeit des Magensaftes; eine chronische Dickdarmentzündung und neurologische Befunde ließen sich nicht mehr feststellen. Das Versorgungsamt (VersorgA) erkannte danach mit Bescheid vom 20. Februar 1949 nur noch die bei der Nachuntersuchung festgestellte Gesundheitsstörung an und entzog die Rente. Einspruch und Berufung hatten keinen Erfolg. In den Umanerkennungsbescheid vom 27. September 1957 wurde nach ärztlicher Untersuchung die gleiche Schädigungsfolge wie im Bescheid vom 20. Februar 1949 übernommen und Rente nicht gewährt.
Im Februar 1959 beantragte der Kläger, Veränderungen im Bereich des Dickdarms, die er auf eine Ruhrerkrankung während des Wehrdienstes zurückführte, als weitere Schädigungsfolge anzuerkennen. Das VersorgA holte Krankenunterlagen und ein ärztliches Gutachten ein; es bezeichnete nunmehr im Bescheid vom 21. September 1959 die Schädigungsfolge mit Säurelosigkeit des Magensaftes ohne Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit und stellte im übrigen fest, daß Veränderungen am Dickdarm und Zeichen eines motorischen Reizmagens nicht mehr bestünden. Das Sozialgericht (SG) wies die Klage ab, weil die Verengung des Dickdarms auf einem chronischen Dickdarmkatarrh (Colitis chronica gravis) beruhe, der nicht mit Einwirkungen des Wehrdienstes zusammenhänge, und weil der motorische Reizmagen nicht mehr nachweisbar sei. Der Kläger legte mit Schriftsatz vom 30. Juni 1961 Berufung ein, in dem er ausführte, er werde weitere Anträge und Begründung nachreichen. Das Landessozialgericht (LSG) bestimmte Termin zur Verhandlung und Beweisaufnahme auf den 20. Februar 1962. Gleichzeitig zog es zur Beweiserhebung die Versorgungsakten, die Krankenblätter der Städtischen Krankenanstalten Flensburg sowie die Röntgenaufnahmen bei und lud den Obermedizinalrat Dr. P, der im gleichen Termin darüber gehört werden sollte, ob in der anerkannten Schädigungsfolge eine wesentliche Änderung eingetreten ist, welche wehrdienstbedingten Gesundheitsstörungen vorliegen und wie hoch die schädigungsbedingte MdE ist. Im Termin vom 20. Februar 1962 beantragte der Kläger nach dem Vortrag des Berichterstatters, das Urteil des SG sowie die angefochtenen Bescheide aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, vom 1. Februar 1959 an Rente nach einer MdE um mindestens 30 v. H. zu gewähren; hilfsweise begehrte er die Feststellung, daß die Verengung des Dickdarms Schädigungsfolge im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) sei, und schließlich beantragte er nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von Prof. Dr. G ein Gutachten nach Aktenlage darüber einzuholen, ob die Veränderungen am Dickdarm Folgen einer Ruhrerkrankung sind. Das LSG hörte nach diesem Antrag den ärztlichen Sachverständigen Dr. P über die Gesundheitsstörungen des Klägers, ihre Ursachen und den schädigungsbedingten Grad der MdE. Das LSG wies dann mit Urteil vom 20. Februar 1962 die Berufung des Klägers zurück, weil nach dem Gutachten von Dr. I, der vom SG gehört worden war, der chronische Dickdarmkatarrh nicht auf Einwirkungen des Wehrdienstes zurückgehe und die damit zusammenhängende zeitweise Verengung des Dickdarmes daher auch keine Folge des Wehrdienstes sein könne. Der Antrag des Klägers, Prof. Dr. G zu hören, sei nach § 109 Abs. 2 SGG abzulehnen. Durch die Zulassung dieses Antrages würde die Erledigung des Rechtsstreits verzögert, weil das Gutachten, auch wenn es nach Lage der Akten erstattet würde, erst nach längerer Zeit vorgelegt werden könne. Der Antrag nach § 109 SGG sei auch aus grober Nachlässigkeit verspätet vorgebracht, weil der Kläger bis zur Anberaumung des Termins zur mündlichen Verhandlung 7 1/2 Monate Zeit für einen derartigen Antrag gehabt habe, zumal er das vom SG veranlaßte Gutachten des Dr. I bereits seit Juni 1960 gekannt und trotz Aufforderung weitere Anträge und Begründung nicht nachgereicht habe. Der Sachverhalt sei hier anders als in dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 15. Januar 1960 - 11 RV 528/58 - (BSG in SozR SGG, § 109 Bl. Da 19 Nr. 27), in dem ein vom Gericht (im ersten oder zweiten Rechtszug) eingeholtes Gutachten nicht vorgelegen habe und der Antrag nach § 109 SGG auch erst nach der Beweisaufnahme vor dem LSG gestellt worden sei. Im vorliegenden Falle habe der Kläger die Anhörung des Terminsarztes nicht abgewartet und damit zu erkennen gegeben, daß ihn die Beweisaufnahme vor dem Senat nicht interessiert habe. Im übrigen habe er die Ladung des Sachverständigen prozessual falsch aufgefaßt, deren Zweck nur darin bestanden habe, eine zum Verständnis und zur Erläuterung schwieriger medizinischer Fragen notwendige medizinisch-wissenschaftliche Diskussion über das Gutachten des Dr. I zu ermöglichen. Es sei aber nicht nötig gewesen, ein weiteres Gutachten nach § 106 SGG einzuholen, da bei der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung hinsichtlich des Gutachtens von Dr. I keine Zweifel bestanden hätten und das Gericht sich auch nur auf dieses Gutachten gestützt habe, von dessen Beurteilung Dr. P im übrigen nicht abgewichen sei. Die Revision wurde nicht zugelassen.
Der Kläger hat gegen das am 11. April 1962 zugestellte Urteil am 9. Mai 1962 Revision eingelegt und beantragt,
die Sache unter Aufhebung des Urteils des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 20. Februar 1962 zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
In der am 5. Juli 1962 eingegangenen Revisionsbegründung rügt der Kläger, das LSG habe § 109 SGG verletzt. Es habe den in der mündlichen Verhandlung vom 20. Februar 1962 gestellten Antrag, Prof. Dr. G zu hören, nicht nach § 109 Abs. 2 SGG ablehnen dürfen. Das LSG widerspreche sich selbst, wenn es dem Kläger grobe Nachlässigkeit vorwerfe, weil er mit dem Antrag nach § 109 SGG 7 1/2 Monate bis zur mündlichen Verhandlung gewartet und ihn dann vor der Vernehmung des ärztlichen Sachverständigen vor dem Senat gestellt habe, während es diesen selbst erst zu diesem Termin geladen habe, um eine medizinisch-wissenschaftliche Diskussion über das Gutachten von Dr. I einzuleiten. Das Urteil lasse nicht erkennen, daß die Vernehmung des Terminsarztes nur dem Verständnis und der Erläuterung schwieriger medizinischer Fragen und Begriffe gedient habe. Sie habe vielmehr die weitere Beweisaufnahme bezweckt. Im übrigen habe der Prozeßbevollmächtigte des Klägers erst vier Tage vor dem Termin davon Kenntnis erhalten, daß Prof. Dr. G in einem medizinisch im wesentlichen gleichgelagerten Fall eine Wehrdienstbeschädigung angenommen habe. Gerade im Hinblick darauf sei dessen Anhörung nach § 109 SGG beantragt worden.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Er meint, die Erwägungen des LSG rechtfertigten die Ablehnung des vom Kläger gestellten Antrages nach § 109 Abs. 2 SGG.
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Zu Recht rügt der Kläger, das Berufungsverfahren leide an einem wesentlichen Mangel, weil das LSG § 109 SGG verletzt habe.
Das Gericht kann einen Antrag auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 Abs. 2 SGG ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert würde und der Antrag nach freier Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht ist. Verfahrensrechtlich fehlerhaft ist die Ablehnung des Antrags nur dann, wenn das Gericht mit der Annahme, durch die Zulassung würde die Erledigung des Rechtsstreits verzögert und der Antrag sei in Verschleppungsabsicht oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher gestellt worden, die Grenzen seines Rechts, hierüber nach freier Überzeugung zu entscheiden, überschritten hat (vgl. BSG in SozR SGG § 109 Bl. Da 2 Nr. 4). Gegen die Annahme, daß sich die Erledigung des Rechtsstreits durch die Zulassung des in der mündlichen Verhandlung vom 20. Februar 1962 nach § 109 SGG gestellten Antrags verzögert hätte, weil dann das Urteil erst später hätte ergehen können, sind Revisionsrügen nicht erhoben worden. Der Kläger ist aber der Meinung, die Erwägungen des LSG böten keine ausreichende Grundlage für die Annahme, der Antrag sei aus grober Nachlässigkeit nicht früher gestellt worden. Insoweit habe das LSG die Grenzen seines Rechts, nach freier Überzeugung zu entscheiden, nicht eingehalten.
Der Antrag nach § 109 SGG kann wirksam schriftlich oder mündlich und auch hilfsweise für den Fall gestellt werden, daß dem Klageantrag des Klägers nicht oder nicht ganz entsprochen wird (vgl. BSG in SozR SGG § 109 Bl. Da 10 Nr. 17). Eine grobe Nachlässigkeit ergibt sich regelmäßig nicht schon daraus, daß die Anhörung nach § 109 SGG erst in der mündlichen Verhandlung beantragt wird (BSG 7, 218). Sobald der Kläger aber erkennt oder erkennen muß, daß das Gericht die von Amts wegen gebotene Beweisaufnahme als beendet ansieht und von sich aus keine Beweise mehr zu erheben beabsichtigt, handelt er grob fahrlässig, wenn er den Antrag nach § 109 SGG nicht in angemessener Frist stellt und damit bis zur mündlichen Verhandlung wartet, wenn diese Frist bereits vorher verstrichen ist (vgl. BSG in SozR SGG § 109 Bl. Da 10 Nr. 24).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das LSG im vorliegenden Fall mit der Annahme, der Antrag des Klägers nach § 109 SGG sei aus grober Nachlässigkeit verspätet vorgebracht, die Grenzen seines Rechts der freien Überzeugung überschritten. Allein daraus, daß der Kläger das der Entscheidung des LSG zugrunde gelegte, vom SG eingeholte Gutachten des Dr. I gekannt, aber in der Zeit zwischen der Einlegung der Berufung und der Anberaumung des Termins zur mündlichen Verhandlung dennoch keine Antrage gestellt habe, kann unter den in diesem Falle gegebenen Umständen noch nicht geschlossen werden, der Kläger habe den Antrag nach § 109 SGG schon vor der mündlichen Verhandlung stellen müssen. Wenngleich bis zu deren Anberaumung etwa 7 1/2 Monate verstrichen sind, so hat der Kläger in dieser Zeit doch noch keinen Anlaß gehabt, sich der nach § 109 SGG gebotenen Möglichkeit zu bedienen. Dies hätte vorausgesetzt, daß er erkannt hat oder doch hätte erkennen müssen, das LSG betrachte die Beweisaufnahme als abgeschlossen und werde von Amts wegen weitere Beweise nicht mehr erheben. Zu einer solchen Annahme boten die vorliegenden Verhältnisse keinen Anhalt. Das LSG hat zu der Verhandlung am 20. Mai 1962 selbst noch einen ärztlichen Sachverständigen (Dr. P) geladen und ihn, wie sich aus den Urteilsgründen und dem der Sitzungsniederschrift beigefügten Vernehmungsprotokoll ergibt, nicht etwa nur zur Erläuterung schwieriger medizinischer Fachfragen, - auch dies wäre nur eine ergänzende Beweisaufnahme gewesen - sondern über die vom Kläger geltend gemachten Gesundheitsstörungen, deren Ursachen und die schädigungsbedingte MdE gehört. Das LSG hat somit den Sachverhalt durch die bisherigen Gutachten selbst noch nicht für ausreichend geklärt gehalten und die Beweisaufnahme vor der mündlichen Verhandlung noch nicht als abgeschlossen betrachtet. Es hat die nach § 106 Abs. 3 Nr. 5 SGG gebotene Möglichkeit, die noch erforderliche Begutachtung durch ärztliche Sachverständige vor der mündlichen Verhandlung anzuordnen und auszuführen, nicht genutzt und hat auch nicht erkennen lassen, daß es von Amts wegen solche Beweise nicht mehr erheben werde, sondern damit bis zur Verhandlung am 20. Februar 1962 gewartet. Wenngleich der Kläger von der Einlegung der Berufung bis zur mündlichen Verhandlung etwa 7 1/2 Monate Zeit für einen Antrag nach § 109 SGG gehabt hat, so durfte das LSG es ihm dennoch nicht als grobe Nachlässigkeit auslegen, daß er den Antrag in dieser Zeit nicht gestellt hat, da das LSG sich selbst für die von ihm noch für notwendig erachtete Anhörung eines ärztlichen Sachverständigen bis zur letzten mündlichen Verhandlung Zeit gelassen hat, und zwar für die Anhörung zur gleichen Beweisfrage, zu der sich auch der vom Kläger bestimmte Arzt hatte äußern sollen (vgl. BSG in SozR SGG § 109 Bl. Da 19 Nr. 27). Es kommt somit nicht darauf an, ob das LSG aus früher geäußerten Einwendungen des Klägers schließen durfte, dessen Zweifel an dem im ersten Rechtszug erstatteten Gutachten des Dr. I hätten ihn schon vor dem Termin der letzten mündlichen Verhandlung zu einem Antrag nach § 109 SGG veranlassen müssen. Ausschlaggebend ist, ob der Kläger annehmen durfte, die Beweisaufnahme sei geschlossen und ob diese Annahme tatsächlich zutraf. Deshalb ist es auch unerheblich, ob der Kläger den Antrag nach § 109 SGG vor oder nach der Anhörung des Terminsarztes gestellt hat. Zu Unrecht ist das LSG der Auffassung, die Entscheidung des BSG vom 15. Januar 1960 - 11 RV 528/58 - (BSG in SozR SGG § 109 Bl. Da 19 Nr. 27), daß ein in der mündlichen Verhandlung nach § 109 Abs. 1 SGG gestellter Antrag jedenfalls dann nicht nach § 109 Abs. 2 SGG als verspätet abgelehnt werden dürfe, wenn das LSG in der gleichen mündlichen Verhandlung und zur gleichen Beweisfrage auch selbst einen ärztlichen Sachverständigen hört, käme hier nicht in Betracht, weil es einen anderen Sachverhalt betreffe. Das LSG hat dabei übersehen, daß in jenem Falle ebenfalls ein vom SG in der mündlichen Verhandlung erstattetes Gutachten ausschlaggebend dafür war, den Antrag nach § 109 SGG nicht für verspätet zu halten. Im übrigen kommt in dem erwähnten Urteil nur zum Ausdruck, daß der Kläger den Antrag nach § 109 SGG nicht vor der Äußerung des Terminsarztes stellen mußte, das besagt aber nicht, daß er ihn nicht vorher hätte stellen können. Schließlich ist auch der Umstand, daß das LSG seine Entscheidung auf das Gutachten des Dr. I und nicht auf die Bekundungen des Dr. P in der mündlichen Verhandlung gestützt hat, ohne Bedeutung für die rechtlich allein erhebliche Frage des vorliegenden Falls, ob die Beweisaufnahme zu der Frage, die der Kläger noch durch seinen Antrag nach § 109 SGG geklärt wissen wollte, beendet war und der Kläger dies hätte erkennen müssen.
Das LSG hat somit zu Unrecht den in der mündlichen Verhandlung nach § 109 Abs. 1 SGG gestellten Antrag des Klägers abgelehnt. Darin liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel (vgl. BSG 2, 255 und 258). Dieser Mangel ist auch in der nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG gebotenen Form gerügt. Die Revision ist daher statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG und zulässig (§§ 164, 166 SGG).
Die Revision ist auch begründet. Es ist nämlich möglich, daß das LSG bei einer verfahrensrechtlich einwandfreien Anwendung des § 109 SGG zu einem anderen Ergebnis kommt. Das Urteil des LSG war daher aufzuheben. Der Senat konnte aber in der Sache nicht selbst entscheiden. Wegen der verfahrensrechtlich fehlerhaften Ablehnung des Antrags nach § 109 SGG ist der Sachverhalt nicht erschöpfend geklärt und die Beweisaufnahme nicht abgeschlossen. Die Sache war daher zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG).
Fundstellen