Entscheidungsstichwort (Thema)

Bestallung als Arzt. Ende der Schulausbildung?. Anschließend

 

Leitsatz (amtlich)

Unter dem Wort "anschließend" in AVG § 36 Abs 1 Nr 4 ist auch für die Zeit seit dem Inkrafttreten des RÄndG vom 1965-06-09 ein Zeitraum bis zu 2 Jahren zu verstehen (Anschluß an das Urteil BSG 1969-11-28 1 RA 147/69 = BSGE 30, 163 -).

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Hochschulausbildung hat nicht erst mit der Bestallung als Arzt, sondern bereits mit der Ablegung des medizinischen Staatsexamens geendet. Die Medizinalpraktikantenzeit ist keine Hochschulausbildung gewesen; dieser Begriff ist gleichbedeutend mit dem des Hochschulstudiums.

 

Normenkette

RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Fassung: 1965-06-09; AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. April 1969 aufgehoben.

Die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 15. Februar 1968 wird zurückgewiesen.

Kosten sind den Klägerinnen für das gesamte Verfahren nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der Hinterbliebenenrenten der Klägerinnen streitig. Der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Klägerin zu 2), Dr. med. Wilhelm I, geboren am 9. Juni 1909, starb am 3. Oktober 1966. Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 12. Januar 1967 die Witwenrente und mit Bescheid vom 6. Februar 1967 die Waisenrente ab 1. Oktober 1966. Sie rechnete dabei nur eine "pauschale" Ausfallzeit von acht Monaten nach Art. 2 § 14 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes an. Mit der Klage beanspruchten die Klägerinnen die Anrechnung der Zeiten der Schulausbildung des Versicherten nach Vollendung des 16. Lebensjahres und der Hochschulausbildung als Ausfallzeiten nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Das Sozialgericht (SG) Dortmund wies die Klage ab (Urteil vom 15. Februar 1968). Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen verurteilte dagegen die Beklagte, für die Schulausbildung eine Ausfallzeit von vier Jahren und für die Hochschulausbildung eine Ausfallzeit von fünf Jahren anzurechnen (Urteil vom 29. April 1969). Es ging für die Ausbildung und Berufslaufbahn des Versicherten von folgenden Feststellungen aus:

vom 9. Juni 1925 (Vollendung des 16. Lebensjahres) bis zum 3. März 1931 (Abitur) noch Schulausbildung;

sodann

bis 15. Dezember 1936 (medizinisches Staatsexamen) Hochschulausbildung;

vom 1. Juli 1937 bis zum 31. Dezember 1937 Medizinalpraktikant;

vom 1. Januar 1938 bis zum 31. Juli 1938 Volontärarzt, ohne Beitragsentrichtung; vom 1. August 1938 bis zum 14. Januar 1940 Assistenzarzt, ohne Beitragsentrichtung;

vom 15. Januar 1940 bis 15. September 1945 Wehrdienst und Kriegsgefangenschaft;

vom 16. September 1945 bis 29. Februar 1952 Assistenzarzt, bis 31. März 1947 ohne Beitragsentrichtung; erster Pflichtbeitrag für April 1947;

vom 1. März 1952 bis 31. März 1955 Oberarzt, letzter Pflichtbeitrag für März 1949;

vom 1. April 1955 bis zum Tode am 3. Oktober 1966 Chefarzt.

Für die Zeiten ab 1. April 1949 wurden nach der Rentenberechnung der Beklagten freiwillige Beiträge und Beiträge zur Höherversicherung entrichtet.

Das LSG hielt die Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG aus folgenden Gründen für erfüllt:

Der Versicherte habe eine versicherungspflichtige Beschäftigung innerhalb von fünf Jahren nach Beendigung einer Ersatzzeit (Wehrdienst und Kriegsgefangenschaft) aufgenommen. Diese Ersatzzeit habe sich auch an die am 15. Dezember 1936 abgeschlossene Hochschulausbildung angeschlossen. Die Worte "im Anschluß" und "anschließend" seien seit der Neufassung des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG durch das Rentenversicherungsänderungsgesetz (RVÄndG) so auszulegen, daß die Ersatzzeit noch innerhalb eines Zeitraumes von fünf Jahren seit Beendigung der Hochschulausbildung beginnen könne. Würde man - was die Beklagte für zulässig halte - für den "Anschluß" der Ersatzzeit an die Beendigung der Hochschulausbildung noch einen Zeitraum von drei Jahren genügen lassen, so würden damit die Versicherten, die wegen einer dazwischen liegenden Ersatzzeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit nicht innerhalb der in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG bestimmten fünfjährigen Frist hätten aufnehmen können, gegenüber den Versicherten benachteiligt, bei denen innerhalb dieser Frist keine Ersatzzeit liege.

Die Beklagte legte die vom LSG zugelassene Revision ein; sie beantragte,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des SG vom 15. Februar 1968 zurückzuweisen.

Sie hält die Auslegung des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG durch das LSG für unrichtig. Es sei zwar nach der Neufassung des § 28 Abs. 2 Buchst. a AVG durch das (erste) RVÄndG, das für die Anrechnung von Ersatzzeiten die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung innerhalb von drei - statt bisher zwei - Jahren genügen lasse, und nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Juni 1962 (BSG 17, 129) grundsätzlich vertretbar, auch für die Begriffe "im Anschluß" und "anschließend" in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG eine Frist von drei Jahren genügen zu lassen. Auch diese Frist sei hier jedoch nicht gewahrt.

Die Klägerinnen wenden sich gegen die Rechtsauffassung der Beklagten. Sie halten die Rechtsauffassung des LSG für zutreffend; sie machen ferner geltend, der Versicherte habe seine Hochschulausbildung nicht schon am 15. Dezember 1936 mit dem Staatsexamen, sondern erst am 28. Dezember 1937 mit der Bestallung als Arzt abgeschlossen, damit liege der Beginn der Ersatzzeit (15. Januar 1940) sogar noch innerhalb der Dreijahresfrist; im übrigen sei der Versicherte nach seinem Wehrpaß schon am 9. Januar 1940 zum Wehrdienst eingezogen worden.

Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

II

Die Revision der Beklagten ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie ist auch begründet.

Nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVG (= § 1259 Abs. 1 Nr. 4 der Reichsversicherungsordnung) in der hier maßgebenden Fassung des RVÄndG vom 9. Juni 1965 sind Ausfallzeiten Zeiten einer nach Vollendung des 16. Lebensjahres weiteren Schulausbildung oder einer abgeschlossenen (Fachschul- oder) Hochschulausbildung, wenn

entweder im Anschluß an diese Ausbildungszeiten oder nach Beendigung einer an die Schul- (Fachschul-) oder Hochschulausbildung anschließenden Ersatzzeit im Sinne des § 28 AVG innerhalb von fünf Jahren eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist ...

Im vorliegenden Falle hat der Versicherte eine versicherungspflichtige Beschäftigung erstmals am 1. April 1947 aufgenommen, also innerhalb von fünf Jahren nach Beendigung seines Wehrdienstes und seiner Kriegsgefangenschaft (15. September 1945), einer Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG. Diese Ersatzzeit ist jedoch nicht eine an die Hochschulausbildung "anschließende" Ersatzzeit gewesen. Die Hochschulausbildung des Versicherten hat, wie das LSG zutreffend angenommen hat, mit der Ablegung des medizinischen Staatsexamens am 15. Dezember 1936 geendet, also nicht, wie die Klägerinnen meinen, erst mit der Bestallung als Arzt am 28. Dezember 1937. Die Medizinalpraktikantenzeit, die der Versicherte vom 1. Juli 1937 bis Ende Dezember 1937 zurückgelegt hat, ist keine "Hochschulausbildung" gewesen; dieser Begriff ist gleichbedeutend mit dem des Hochschulstudiums (Urteil des BSG vom 18. September 1963, BSG 20, 35, 36). Zwischen dem Ende der Hochschulausbildung und dem Beginn der hier allein vorhandenen Ersatzzeit des Wehrdienstes am 15. Januar 1940 - dieser vom LSG festgestellte Termin ist für das BSG bindend (§ 163 SGG) - liegen sonach drei Jahre und ein Monat. Auch für die Zeit seit dem Inkrafttreten der RVÄndG'e vom 9. Juni 1965 ist jedoch an der in dem Urteil des BSG vom 20. Juni 1962 (BSG 17, 129, 132) vertretenen Auffassung festzuhalten, daß unter dem Wort "anschließend" in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG ein Zeitraum bis zu zwei Jahren zu verstehen ist, also nicht - wie das LSG angenommen hat - ein Zeitraum bis zu fünf Jahren, und auch nicht - wie die Beklagte meint - ein Zeitraum bis zu drei Jahren. Dies hat bereits der 1. Senat des BSG in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 28. November 1969 - 1 RA 147/69 - ausgeführt; der erkennende Senat hält diese Auffassung und ihre Begründung für zutreffend und schließt sich ihr nach eigener Prüfung an. Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, daß in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG aF die Frist von zwei Jahren, innerhalb deren eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen werden mußte, damit die Schul- (Fachschul-) oder Hochschulausbildung angerechnet werden konnte, durch das RVÄndG auf fünf Jahre verlängert worden ist. In dem Urteil des 1. Senats ist zu dieser Änderung anhand der Entstehungsgeschichte ausgeführt, diese Fristverlängerung solle gerade der u.a. auch für Ärzte bedeutsamen Tatsache Rechnung tragen, daß sich zwischen das Ende z.B. des Hochschulstudiums und den Beginn der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oft weitere "Ausbildungszeiten" schieben, die keine Hochschulausbildungszeiten sind - im vorliegenden Falle die Medizinalpraktikantenzeit und Zeiten als Volontärarzt bzw. Assistenzarzt, die der Versicherte für seine weitere ärztliche "Ausbildung" zurückgelegt hat -, daß jedoch auch nach Auskunft der Westdeutschen Rektorenkonferenz in aller Regel für derartige weiteren Ausbildungen ein Zeitraum von fünf Jahren ausreiche, daß diese Fristverlängerung aber nichts zu tun habe mit der Frage, was noch als "Anschluß" an eine Hochschulausbildung oder als eine an die Beendigung einer solchen "anschließenden" Ersatzzeit gelten könne. Wenn in dem Urteil des 1. Senats (aaO) und der diesem Urteil folgenden ständigen Rechtsprechung des BSG an die damalige Frist von zwei Jahren in § 28 Abs. 2 Buchst. a und § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG aF angeknüpft und noch eine Unterbrechung von zwei Jahren als "unschädlich" für die Begriffe "Anschluß" und "anschließend" angesehen worden ist, so ist dies bereits eine den Versicherten sehr entgegenkommende Auslegung; es besteht jedoch kein Anlaß zu einer noch weitergehenden Auslegung dieser Begriffe. Anderenfalls würden (beitragslose) Schul- und Hochschulausbildungszeiten gegenüber den Beitragszeiten finanzielle Auswirkungen für die Versichertengemeinschaft - die weitgehend die Mittel für die sich aus der Anrechnung von Ausfallzeiten ergebenden Rentenerhöhungen aufbringen muß - erlangen, die ihnen nach dem im Gesetz geforderten zeitlichen Zusammenhang nicht zukommen soll (ebenso Urteil des 1. Senats). Ist dieser zeitliche Zusammenhang nicht gewahrt, so handelt es sich auch nicht um eine unbeabsichtigte Härte, sondern um zwingende Folgerungen aus dem Gesetz, in dem auch für die Ausfallzeiten nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 AVG ein enger Zusammenhang mit einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung gefordert wird. Es trifft auch nicht zu, daß - wie das LSG ausgeführt hat - bei der hier vertretenen Auslegung des Begriffs "anschließend" die Versicherten (und ihre Hinterbliebenen) gegenüber solchen Versicherten benachteiligt werden, bei denen in die Fünfjahresfrist nach Beendigung der Schul- oder Hochschulausbildung keine Ersatzzeiten fallen. Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut schiebt nicht jede Ersatzzeit nach Beendigung der Schul- oder Hochschulausbildung den Beginn der Fünfjahresfrist auf, sondern nur eine "anschließende" Ersatzzeit. An diesem Tatbestandsmerkmal könnte es nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls auch dann fehlen, wenn der Zeitraum, der für das "Anschließen" unschädlich ist, mit drei oder fünf Jahren bemessen würde. Für die Auslegung dieses Begriffs kommt der Überlegung des LSG sonach keine Bedeutung zu.

Da der Versicherte im vorliegenden Falle zwar innerhalb von fünf Jahren nach Beendigung der Ersatzzeit des Wehrdienstes eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen hat, diese Ersatzzeit aber nicht eine sich an die Beendigung der Hochschulausbildung anschließende Ersatzzeit gewesen ist, hat das LSG die Beklagte zu Unrecht verurteilt, die nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegenden Schulzeiten des Versicherten mit der Höchstzeit von vier Jahren und die Zeiten der Hochschulausbildung mit der Höchstzeit von fünf Jahren als Ausfallzeiten für die Berechnung der Hinterbliebenenrenten der Klägerinnen anzurechnen. Auf die Revision der Beklagten ist das Urteil des LSG aufzuheben; die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des SG ist zurückzuweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669874

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