Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufnahme eines Enkelkindes in den Haushalt der Großeltern
Orientierungssatz
Für die Frage der Haushaltsaufnahme kommt es nicht entscheidend darauf an, daß der Haushalt, in dem das Kind lebt, rechtlich allein dem Großvater bzw den Großeltern zuzuordnen ist. Die "Aufnahme" in diesen Haushalt ist in diesem Fall vielmehr zu verneinen, wenn die Mutter des Kindes ebenfalls im Haushalt des Großvaters ihres Kindes lebt und deshalb das Kind von der Familiengemeinschaft mit der Mutter nicht getrennt worden ist (vgl BSG-Urteil 1965-02-24 4 RJ 277/63).
Normenkette
RVO § 1267 Abs 1 S 1 Fassung: 1964-04-14, § 1262 Abs 2 Nr 8 Fassung: 1964-04-14; BKGG § 2 Abs 1 S 1 Nr 7
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 08.05.1981; Aktenzeichen L 4 J 1060/79) |
SG Reutlingen (Entscheidung vom 19.04.1979; Aktenzeichen S 10 J 1334/77) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob die Klägerin einen Anspruch auf Waisenrente aus der Versicherung ihres am 21. März 1972 verstorbenen Großvaters Friedrich F. hat.
Die am 6. Juni 1970 geborene Klägerin ist das nichteheliche Kind der Barbara G., einer Tochter des Versicherten. Nach der Geburt war die Klägerin kurze Zeit in einem Kinderheim untergebracht, seit September 1970 wohnte sie im Haus der Großeltern in D., wo der Großvater eine selbständige Landwirtschaft betrieb. Die seinerzeit noch unverheiratete Mutter der Klägerin wohnte nach deren Geburt ebenfalls im Hause des Versicherten. Bis Juli 1971 besuchte sie eine Frauenfachschule, anschließend half sie im elterlichen Haushalt und Betrieb mit und war danach von Oktober 1971 bis Juni 1972 als Praktikantin am Kreiskrankenhaus S. beschäftigt. Dort hatte sie ein Zimmer zur Verfügung, behielt jedoch ihren Wohnsitz im Elternhaus bei. Ihr monatlicher Verdienst betrug im Januar 1972 DM 687,27 einschließlich DM 50,-- Kinderzuschlag. Der Vater der Klägerin bezahlte von deren Geburt an bis Oktober 1972 monatlich DM 108,-- Unterhalt.
Im Mai 1976 wurde bei der Beklagten ein Antrag auf Waisenrente für die Klägerin gestellt. Der Antrag wurde durch Bescheid vom 9. Mai 1977 mit der Begründung abgelehnt, die Klägerin sei nicht in den Haushalt der Großeltern aufgenommen gewesen, sondern es habe sich um einen gemeinsamen Haushalt der Mutter und der Großeltern gehandelt. Der gegen diesen Bescheid erhobene Widerspruch wurde mit Einverständnis der Klägerin als Klage an das Sozialgericht (SG) weitergeleitet. Durch Urteil vom 19. April 1979 hat das SG der Klage stattgegeben. Das Landessozialgericht (LSG) hat die dagegen eingelegte Berufung der Beklagten durch Urteil vom 8. Mai 1981 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, im vorliegenden Falle sei der für Enkelkinder geltende § 2 Abs 1 Nr 7 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) vom 14. April 1964 anwendbar. Im Sinne dieser Vorschrift sei der Haushalt, in dem die Klägerin gelebt habe, nicht der Mutter und den Großeltern der Klägerin gemeinsam, sondern allein dem Großvater zuzuordnen gewesen. Dies gelte deshalb, weil die Mutter zur Finanzierung des Haushaltes nicht beigetragen habe. Die Klägerin sei daher nicht in den Haushalt des Großvaters iS von § 2 Abs 1 Nr 7 BKGG aufgenommen gewesen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1267 Abs 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der bis zum 30. Juni 1976 gültigen Fassung iVm § 1262 Abs 2 Nr 8 RVO, § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 7 BKGG idF vom 14. April 1964.
Die Beklagte beantragt das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 8. Mai 1981 und das Urteil des SG Reutlingen vom 19. April 1979 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend gemäß § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen worden ist. Die festgestellten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Entscheidung des Rechtsstreits nicht aus.
Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch auf Zahlung von Waisenrente aus der Versicherung ihres am 21. März 1972 verstorbenen Großvaters richtet sich nach § 1267 Abs 1 Satz 1 RVO iVm § 1262 Abs 2 Nr 8 RVO jeweils in der vor dem 1. Juli 1976 gültigen Fassung und nach § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 7 BKGG. Danach erhalten Waisenrente nach dem Tod des Versicherten seine Kinder (§ 1267 Abs 1 Satz 1 RVO iVm § 1262 Abs 2 RVO). Als Kinder galten die Enkel unter den Voraussetzungen des § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 7 BKGG, sofern diese vor Eintritt des Versicherungsfalles erfüllt worden sind (§ 1262 Abs 2 Nr 8 RVO aF). Nach der genannten Vorschrift aus dem BKGG werden Enkel als Kinder iS dieses Gesetzes berücksichtigt, wenn der Berechtigte sie in seinen Haushalt aufgenommen hat oder überwiegend unterhält.
Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits mehrfach entschieden hat, erfordert die Aufnahme in den Haushalt des Großvaters die Aufnahme in die Familiengemeinschaft mit einem dort begründeten Betreuungs- und Erziehungsverhältnis familienhafter Art (vgl BSGE 39, 207, 208 = SozR 2200 § 1267 Nr 10 mwN). Daran fehlt es nach der ständigen zur Waisenrente und zum Kinderzuschuß ergangenen Rechtsprechung des BSG, wenn das Enkelkind zusammen mit seiner Mutter beim Großvater oder bei den Großeltern lebt (vgl BSGE 19, 106 = SozR Nr 6 zu § 1262 RVO; BSGE 25, 109 = SozR Nr 14 zu § 1262 RVO und SozR Nr 24 zu § 1267 RVO; SozR Nr 5 zu § 2 BKGG; BSG - Urteil vom 24. Februar 1965 - 4 RJ 277/63).
Nach den unangegriffenen und für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) lebte die damals 27-jährige Mutter der Klägerin nach deren Geburt zunächst im Elternhaus und hatte kein eigenes Einkommen. Dann war sie ab Oktober 1971 als Praktikantin außerhalb des Wohnortes ihrer Eltern an einem Krankenhaus tätig. Dort hatte sie ein möbliertes Zimmer, führte aber keinen eigenen Haushalt, sondern behielt den Lebensmittelpunkt in der elterlichen Wohnung bei. Anhand dieses, für die Zeit ab Oktober 1971 festgestellten Sachverhalts durfte das LSG die Aufnahme der Klägerin in den Haushalt des Großvaters nicht bejahen. Denn nach der genannten Rechtsprechung des BSG kommt es für die Frage der Haushaltsaufnahme nicht entscheidend darauf an, daß der Haushalt, in dem das Kind lebt, rechtlich allein dem Großvater bzw den Großeltern zuzuordnen ist. Die "Aufnahme" in diesen Haushalt ist in diesem Fall vielmehr zu verneinen, wenn die Mutter des Kindes - wie hier - ebenfalls im Haushalt des Großvaters ihres Kindes lebt und deshalb das Kind von der Familiengemeinschaft mit der Mutter nicht getrennt worden ist (vgl BSG-Urteil vom 24. Februar 1965 aaO mwN).
An dieser Rechtsprechung des BSG hat sich durch das Urteil des BSG vom 10. Juli 1969 (BSG 30, 28 = SozR Nr 4 zu § 2 BKGG), auf das sich das LSG beruft, schon deswegen nichts geändert, weil es zur Frage, ob das Kind in den Haushalt des Großvaters "aufgenommen" worden ist, keine abweichenden und abschließenden Rechtsausführungen gemacht hat. Im übrigen ist bei einem Streit um Waisenrente in der späteren Entscheidung des BSG vom 28. August 1969 (SozR Nr 5 zu § 2 BKGG) klargestellt worden, daß sich im Vergleich zum früheren Rechtszustand nach § 2 Abs 1 Satz 3 Kindergeldgesetz vom 13. November 1954 an dem Begriff der "Aufnahme in den Haushalt" in § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 7 BKGG nichts geändert hat und deshalb an der diesbezüglichen bisherigen Rechtsprechung festzuhalten ist.
Der Anspruch auf Waisenrente nach § 1267 Abs 1 Satz 1 iVm § 1262 Abs 2 Nr 8 RVO aF und § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 7 BKGG kann indes auch bestehen, wenn der versicherte Großvater sein Enkelkind, die Klägerin, überwiegend unterhalten hat. Zu dieser Voraussetzung hat das Berufungsgericht - vom Standpunkt seiner abweichenden Rechtsauffassung folgerichtig - keine Feststellungen getroffen. Da der Senat hinsichtlich der Aufnahme in den Haushalt des Großvaters die angefochtene Entscheidung nicht bestätigen konnte, bedarf es nun weiterer Feststellungen darüber, ob der Versicherte sein Enkelkind überwiegend unterhalten hat. Der Rechtsstreit mußte folglich zurückverwiesen werden, denn dem Revisionsgericht ist es verwehrt, die erforderlichen Tatsachen selbst festzustellen.
Bei der abschließenden Entscheidung wird das LSG auch über die Kosten des Rechtsstreits zu befinden haben.
Fundstellen