Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 22.08.1991) |
SG Heilbronn (Urteil vom 14.04.1988) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. August 1991 geändert.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 14. April 1988 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in sämtlichen Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Klägerin begehrt Versorgung nach ihrem im März 1984 verstorbenen Ehemann. Dieser hatte seit 1970 bis zu seinem Tod Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 vH erhalten. Seinen Anträgen auf Anerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit, auf Berufsschadensausgleich und auf Pflegezulage hatte der Beklagte nicht entsprochen.
Die Beteiligten stritten zunächst über den Anspruch auf Witwenrente, insbesondere darüber, ob der Tod deshalb auf den Schädigungsfolgen beruhe, weil der Versorgungsberechtigte wenige Wochen vor seinem Tod wegen eines eiternden Granatsplitters operiert worden sei, wodurch sich der Gesundheitszustand rapide verschlechtert habe, so daß die Lungenembolie, die unmittelbare Todesursache, mittelbar auf die Schädigung zurückgeführt werden könne. Die Klage hatte insoweit in beiden Instanzen keinen Erfolg. Vom Landessozialgericht (LSG) ist der Klägerin jedoch Witwenbeihilfe zugesprochen worden (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Heilbronn vom 14. April 1988 und des LSG Baden-Württemberg vom 22. August 1991). Den Anspruch auf Witwenbeihilfe hat das LSG mit der Begründung bejaht, daß sich im Zuge der zweitinstanzlichen Beweisaufnahme klar erkennbar ergeben habe, daß der Beschädigte im Zeitpunkt des Todes einen Anspruch auf die Beschädigtenrente eines Erwerbsunfähigen gehabt habe. Denn seit Dezember 1982 sei eine schädigungsbedingte Osteomyelitis am rechten Oberschenkel nachgewiesen, die sowohl eine MdE um 100 vH als auch die Anfang 1984 durchgeführte Operation zur Folge gehabt haben. Es komme nicht darauf an, ob der Versorgungsberechtigte die Rente eines Erwerbsunfähigen bezogen oder auch nur beantragt gehabt habe.
Der Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er ist der Auffassung, daß für die Vermutungstatbestände des § 48 Bundesversorgungsgesetz (BVG) zwar bei wirtschaftlichen Schäden auf Antrag und Leistungsbezug verzichtet werden könne, bei den Vermutungstatbeständen der Erwerbsunfähigkeit und der Hilflosigkeit gelte dies jedoch nicht. Im übrigen habe ein Anspruch auf die Rente eines Erwerbsunfähigen auch nicht offenkundig bestanden, weil er sich erst durch Maßnahmen der Sachaufklärung in zweiter Instanz herausgestellt habe.
Die Beigeladene hat sich der Auffassung des Beklagten angeschlossen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. August 1991 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Auf die Revision des Beklagten war das erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Witwenbeihilfe, weil ihre Hinterbliebenenversorgung – unstreitig – nicht in dem nach § 48 Abs 1 Satz 1 BVG (hier in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Januar 1982 ≪BGBl I 21≫) erforderlichen Umfang gemindert ist und weil diese Voraussetzung auch nicht nach § 48 Abs 1 Satz 2 BVG als erfüllt gilt.
Zwar hat das LSG zu Recht die bisherigen Entscheidungen des Senats zum Vermutungstatbestand „Berufsschadensausgleich” erweiternd dahin verstanden, daß für sämtliche Vermutungstatbestände des § 48 BVG dasselbe gilt: Es kommt nicht darauf an, ob die Leistungen bezogen oder zumindest beantragt worden sind. Fehlt es an einem Antrag, ist entscheidend, ob die gesetzlichen Voraussetzungen des jeweiligen Vermutungstatbestandes nach dem Inhalt der über den Beschädigten geführten Versorgungsakten auf den ersten Blick für jeden Kundigen klar erkennbar bestanden haben und daß sich dieses Ergebnis der Verwaltung aufdrängen muß (vgl BSG SozR 3100 § 48 Nrn 15, 16; SozR 3-3100 § 48 Nrn 1 bis 4 und SozR 3-3642 § 8 Nr 3; vgl auch Urteil vom 10. Februar 1993 – 9/9a RV 4/92 –). Die gesetzlichen Vermutungen in § 48 Abs 1 Satz 2 BVG dienen der Beweiserleichterung und der Verwaltungsvereinfachung. Aus dieser Funktion ist zu folgern, daß auf den Leistungsbezug oder die nachträgliche Feststellung des Anspruchs aufgrund eines vor dem Tode gestellten Antrages nur dann verzichtet werden kann, wenn ohne weitere Sachaufklärung bereits nach dem Inhalt der Versorgungsakten die Anspruchsvoraussetzungen gegeben sind. Es reicht gerade nicht aus, wenn erst in einem erfolglosen Verfahren, das sich auf die Erfüllung der sonstigen Anspruchsvoraussetzungen und nicht auf einen Vermutungstatbestand gründet, Tatsachen festgestellt werden, die wiederum Rückschlüsse auf den Vermutungstatbestand erlauben.
Trotz des unterschiedlichen Gangs der Ermittlungen bei wirtschaftlichen Schäden – Minderung der Versorgung bzw Anspruch auf Berufsschadensausgleich – und bei der Ermittlung gesundheitlicher Schädigungsfolgen – Ursächlichkeit des Todes oder Anspruch auf Rente eines Erwerbsunfähigen oder Pflegezulage – drängt es sich auf, daß die Vermutungstatbestände gleichartig zu behandeln sind. Soweit die Vermutung an den 5-jährigen Anspruch auf Berufsschadensausgleich anknüpft, erübrigt sie die Nachzeichnung des wirklichen und des hypothetischen Lebensweges sowie die oftmals nur mit Hilfe der Rentenversicherungsträger mögliche Prüfung der Beeinträchtigung in der Hinterbliebenenversorgung. Sind solche Ermittlungen aber nötig, weil ein Anspruch auf Berufsschadensausgleich sich nicht aufgedrängt hat, werden die Vermutungsvoraussetzungen nicht nachträglich offenkundig. Gleiches gilt für die medizinischen Ermittlungen, die zum Nachweis eines Anspruchs auf Witwenrente durchgeführt werden. Auch hier erlauben die Ermittlungen neue Erkenntnisse hinsichtlich des Ausmaßes der gesundheitlichen Beeinträchtigung vor dem Tod, vermögen jedoch den Vermutungstatbestand, der im Zeitpunkt des Todes bereits offenkundig gegeben sein muß, nicht nachträglich zu belegen. Werden erst im erfolglosen Verfahren über einen Antrag auf Witwenrente Tatsachen bekannt, die ihrer Art nach geeignet wären, einen Anspruch auf die Rente eines Erwerbsunfähigen oder auf Pflegezulage zu begründen, so ist der Vermutungstatbestand für den Anspruch auf Witwenbeihilfe nicht erfüllt. Spätere Ermittlungen sind lediglich dann zu verwerten, wenn der Versorgungsberechtigte noch zu Lebzeiten einen entsprechenden Antrag gestellt hat. Fehlt es an einem solchen Antrag, widerspräche es dem Ziel einer Verwaltungsvereinfachung, wenn zum Nachweis des Vermutungssachverhalts Ermittlungen angestellt oder spätere Erkenntnisse nachträglich verwertet werden müßten. Nur mit dieser einschränkenden Auslegung kann verhindert werden, daß durch den bloßen Antrag auf Witwenrente und Witwenbeihilfe eine medizinische Beweiserhebung erforderlich wird, die zur Grundlage hypothetischer Ansprüche gemacht wird, die der Versorgungsberechtigte zu Lebzeiten nicht geltend gemacht hat.
Diese Einschränkung der im übrigen erweiternden Auslegung der Norm ist auch deshalb geboten, weil andernfalls der Vermutungstatbestand auf einer unzulänglichen Tatsachengrundlage beruhte. Denn medizinische Ermittlungen, die erst nach dem Tod des Versorgungsberechtigten einsetzen, sind mit größeren Unsicherheiten und Fehlerquellen behaftet als die zu Lebzeiten gewonnenen Erkenntnisse. Das wird hier besonders deutlich. Das LSG hat die MdE-Erhöhung mit einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes begründet, die durch eine zumutbare Operation behebbar gewesen wäre, zu der der Versorgungsberechtigte aber erst zwei Jahre später seine Zustimmung gegeben hat. Es ist durchaus zweifelhaft, ob angesichts einer verweigerten Mitwirkung die vom LSG angenommene MdE-Erhöhung wirklich in Betracht gekommen wäre (vgl zu dieser Problematik BSG USK 8157 und 8368). Hierüber ist jedoch nach den oben dargelegten Rechtsgrundsätzen gerade nicht zu entscheiden, weil die Vermutungstatbestände des § 48 BVG weder die Verwaltung noch die Gerichte zu einer ergänzenden Sachverhaltsaufklärung nötigen; es genügt die Auswertung der im Zeitpunkt des Todes vorhandenen Beweismittel mit der zusätzlichen Einschränkung, daß sich Ansprüche aufdrängen müssen.
An diesen Voraussetzungen fehlt es hier. Die in zweiter Instanz gewonnenen Erkenntnisse finden nach den Feststellungen im angefochtenen Urteil in den Verwaltungsakten keine Entsprechung. Insbesondere nach Ablehnung der Pflegezulage hat sich für den Beklagten zu Lebzeiten des Versorgungsberechtigten kein Hinweis auf eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes und eine Erhöhung der MdE ergeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen