Entscheidungsstichwort (Thema)
Konkrete Benennung von Verweisungstätigkeit. Arbeitsweg
Orientierungssatz
1. Sind die Einschränkungen der Leistungsfähigkeit derart, daß sie lediglich zur Beschränkung mit der Verweisung auf leichte Tätigkeiten führen, ohne daß hierbei wesentliche Einschränkungen zu machen sind, so ist die konkrete Benennung einer Verweisungstätigkeit nicht erforderlich (vgl BSG 1981-06-23 1 RJ 72/80 = SozR 2200 § 1246 Nr 81).
2. Bei einer zulässigen Verweisung ungelernter Arbeiter auf nicht näher bezeichnete ungelernte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ist eine konkrete Feststellung der Anforderungen dieser Tätigkeiten ebenso entbehrlich wie die konkrete Bezeichnung.
3. Zur Frage, welcher Weg zur Arbeitsstelle oder zu einem öffentlichen Verkehrsmittel als üblich angesehen werden kann.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) oder wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 RVO zusteht.
Die im Jahre 1929 geborene Klägerin war bis 1968 nacheinander als Hausgehilfin, Kettlerin und Weberin versicherungspflichtig beschäftigt. Die Beklagte lehnte den im Dezember 1979 gestellten Rentenantrag mit Bescheid vom 5. Februar 1980 ab, weil die Klägerin weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig sei.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte am 18. November 1980 unter Aufhebung des Bescheides vom 5. Februar 1980 verurteilt, der Klägerin vom 1. Januar 1980 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen. Das Landessozialgericht (LSG) hat am 12. Juni 1981 das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Klägerin sei weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig. Da sie keinen Beruf erlernt und auch keine qualifizierte versicherungspflichtige Tätigkeit verrichtet habe, seien ihr alle ungelernten Arbeitstätigkeiten zumutbar. Trotz der eingeschränkten Leistungsfähigkeit könne sie noch als Kettlerin, als Abwiegerin und Abfüllerin oder bei einfachen Prüfarbeiten in Industrie, im Handel und im Gewerbe eingesetzt werden. Ferner kämen die Tätigkeiten einer Sortiererin von leichten Gegenständen und einer Verpackerin von leichtgewichtigen Sachen in der industriellen Fertigung infrage. Schließlich könne sie noch die Tätigkeiten einer Ausleserin, Sortiererin und Etikettiererin verrichten sowie einfache Stanzarbeiten und Löt- bzw Wickel-Tätigkeiten ausüben. Die bestehende Einschränkung der Gehfähigkeit hindere die Klägerin nicht, entsprechende Arbeitsplätze aufzusuchen. Die übliche Entfernung von der Wohnung eines Versicherten bis zur nächsterreichbaren Haltestelle öffentlicher Verkehrsmittel betrage nach der Lebenserfahrung zwar regelmäßig mehr als 500 m. Mit einer Gehfähigkeit von mindestens 800 m sei die Klägerin aber in der Lage, die Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels regelmäßig zu erreichen. Der Haltestellenabstand öffentlicher Verkehrsmittel betrage im Innenbereich der Städte bis zu 600 m und im Außenbereich bis zu 1.200 m. Da die Klägerin noch vollschichtig die genannten Tätigkeiten verrichten könne, stehe ihr der gesamte Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland offen.
Die Klägerin hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie trägt vor, das LSG habe die Verweisungstätigkeiten nicht hinreichend konkret dargestellt. Aus dem Berufungsurteil gehe nicht hervor, ob es sich bei den genannten Tätigkeiten nur um einzelne Arbeiten oder bestimmte Arbeitsgänge handele. Darüberhinaus sei nicht erkennbar, welche Anforderungen die einzelnen Tätigkeiten in gesundheitlicher und fachlicher Hinsicht üblicherweise stellen. Hierzu hätte das LSG noch weitere Beweise erheben müssen. Das gelte insbesondere für die Tätigkeit einer Kettlerin, die im Akkord ausgeführt werde. Im übrigen sei sie wegen der Einschränkung der Gehfähigkeit nicht in der Lage, entsprechende Arbeitsplätze aufzusuchen. Da nach den Ausführungen des Berufungsgerichts die Entfernungen zwischen den Haltestellen öffentlicher Verkehrsbetriebe durchschnittlich über 500 m liege und bis zu 1.200 m betrage, hätte die Grenze für die Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen nicht bei 500 m gezogen werden dürfen.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz
vom 12. Juni 1981 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des
Sozialgerichts Mainz vom 18. November 1980 zurückzuweisen;
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 12. Juni 1981
aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts
Rheinland-Pfalz vom 12. Juni 1981 zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Klägerin sei unbegründet. Zusätzlich trägt sie vor: Da die Klägerin auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden könne, habe das LSG keine konkreten Verweisungstätigkeiten zu bezeichnen brauchen. Die festgestellten Einsatzbeschränkungen seien nicht so erheblich, daß ausnahmsweise eine konkrete Bezeichnung von Verweisungstätigkeiten erforderlich sei. Das Berufungsgericht habe daher auch nicht über die Anforderungen der Verweisungstätigkeiten Beweis erheben müssen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Klägerin hat keinen Erfolg. Das LSG hat mit Recht das der Klage stattgebende Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Klägerin ist weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig und hat daher keinen Anspruch auf die Versichertenrente nach § 1247 RVO oder nach § 1246 RVO.
Bisher verrichtete Arbeit der Klägerin ist die zuletzt verrichtete Berufstätigkeit einer Weberin. Die Berufsbezeichnung sagt zwar noch nichts darüber aus, ob es sich um eine Facharbeitertätigkeit um einen sonstigen Ausbildungsberuf oder um eine ungelernte Tätigkeit handelt. Das LSG hat aber in tatsächlicher Hinsicht unangegriffen und damit für den Senat gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindend festgestellt, daß die Klägerin keinen Beruf erlernt und auch keine qualifizierte Tätigkeit ausgeübt habe. Das LSG ist daher zutreffend davon ausgegangen, daß der Klägerin auch alle ungelernten Berufstätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes im Sinne des § 1246 Abs 2 RVO qualitativ zumutbar sind. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob die Feststellung des LSG, die Klägerin sei zur Ausübung näher bezeichneter Tätigkeiten in der Lage, verfahrensfehlerfrei zustandegekommen ist. Auszugehen ist jedenfalls von der Fähigkeit der Klägerin, körperlich leichte Berufstätigkeiten vollschichtig auszuüben, die vorwiegend im Sitzen und in geschlossenen heizbaren Räumen ausgeübt werden. Bei der Fähigkeit eines auf ungelernte Tätigkeiten verweisbaren Versicherten zur vollschichtigen Berufstätigkeit bedarf es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) der konkreten Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit nur dann, wenn die Leistungsfähigkeit auch für leichte Berufstätigkeiten eingeschränkt ist. Sind die Einschränkungen der Leistungsfähigkeit jedoch - wie im vorliegenden Fall - derart, daß sie lediglich zur Beschränkung mit der Verweisung auf leichte Tätigkeiten führen, ohne daß hierbei wesentliche Einschränkungen zu machen sind, so ist die konkrete Benennung einer Verweisungstätigkeit nicht erforderlich (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 75 mwN und Urteil des BSG vom 23. Juni 1981 - 1 RJ 72/80 -).
Die Rüge der Klägerin, das LSG habe es versäumt, die gesundheitlichen und fachlichen Anforderungen der konkret benannten Verweisungstätigkeiten aufzuklären, ist unbegründet. Zwar setzt die Feststellung der Fähigkeit zur Verrichtung einer bestimmten Tätigkeit denkgesetzlich voraus, daß einerseits die Anforderungen dieser Tätigkeit in gesundheitlicher und fachlicher Hinsicht festgestellt und mit den festzustellenden gesundheitlichen und fachlichen Fähigkeiten des Versicherten verglichen werden. Es kann dahingestellt bleiben, ob das LSG dies versäumt hat. Jedenfalls ist das angefochtene Urteil im Ergebnis richtig, weil - wie bereits ausgeführt - die konkrete Benennung einer Verweisungstätigkeit nicht erforderlich ist. Bei einer zulässigen Verweisung ungelernter Arbeiter auf nicht näher bezeichnete ungelernte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ist aber eine konkrete Feststellung der Anforderungen dieser Tätigkeiten ebenso entbehrlich wie die konkrete Bezeichnung.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist auch davon auszugehen, daß die Klägerin trotz der Einschränkung ihrer Gehfähigkeit in der Lage ist, entsprechende Arbeitsstellen jedenfalls mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Dabei kommt es nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats angesichts der Zumutbarkeit eines Wohnsitzwechselns nicht auf den konkreten Weg von der Wohnung des Versicherten zur Arbeitsstelle an. Entscheidend ist vielmehr, welcher Weg zur Arbeitsstelle oder zu einem öffentlichen Verkehrsmittel als üblich angesehen werden kann (vgl Urteil des Senats vom 11. September 1979 - 5 RJ 86/78 -). Nach den Feststellungen des LSG reicht ein Fußweg von 800 m üblicherweise aus, um die nächste Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels zu erreichen. Diese Feststellung hat die Klägerin nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen, so daß sie für den erkennenden Senat bindend ist (§ 163 SGG). Aus der vom LSG festgestellten Tatsache, daß die Entfernung zwischen zwei Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel im allgemeinen mehr als 500 m und in Außenbezirken bis zu 1.200 m beträgt, kann nicht zwingend geschlossen werden, daß die übliche Entfernung zur nächsten Haltestelle mehr als 800 m beträgt. Bei ihrer abweichenden Meinung übersieht die Klägerin, daß der Abstand der Haltestellen zueinander nicht identisch ist mit dem zur nächsten Haltestelle zurückzulegenden Weg. Das LSG hat sich daher im Rahmen seiner freien richterlichen Beweiswürdigung gehalten, wenn es einen Fußweg von 800 m zur nächsten Haltestelle üblicherweise für ausreichend erachtet hat.
Der Senat hat die danach unbegründete Revision der Klägerin zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen