Beteiligte
Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. April 1997 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Streitig ist die Gewährung von Altersruhegeld (ARG) sowie die Zulassung zur Nachentrichtung freiwilliger Rentenversicherungsbeiträge. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob der Kläger als (ehemaliger) Angehöriger des deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) anzusehen ist.
Der Kläger ist anerkannter Verfolgter iS des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Er wurde am 19. Juni 1918 in Polen in K., W. S. /Distrikt Galizien und Krakau, geboren. Von September 1925 bis Juni 1932 besuchte er die allgemeinbildende Schule in K.. Die Unterrichtssprache war Polnisch. Nach dem Ergebnis der polnischen Volkszählung am 9. Dezember 1931 benannten von insgesamt 33.788 Einwohnern K. 6798 Jiddisch/Hebräisch und 1.220 Deutsch als Muttersprache. Von den 139.746 Israeliten der W. S. gaben bei dieser Volkszählung 109.361 Jiddisch und Hebräisch sowie 98 Deutsch als Muttersprachen an. Der Kläger war seit Juli 1941 als Jude nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Im Januar 1943 gelang ihm die Flucht aus dem Ghetto in K.. Er hielt sich sodann bis zu seiner Befreiung im März 1944 durch sowjetische Truppen in K. versteckt. Im Juli 1946 reiste er nach Österreich ein. Von dort wanderte er nach einem Aufenthalt in einem DP-Lager im April 1949 nach Israel aus, wo er als israelischer Staatsangehöriger lebt.
Im Februar 1990 beantragte der Kläger die Gewährung von ARG wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Nach umfangreichen Ermittlungen lehnte die Beklagte diesen Antrag mit Bescheid vom 9. November 1993 idF des Widerspruchsbescheides vom 15. Dezember 1994 ab. Zur Begründung führte sie im wesentlichen aus: Der Kläger erfülle nicht die allgemeine Wartezeit. Es seien keine anrechenbaren Versicherungszeiten vorhanden. Die Zugehörigkeit des Klägers zum dSK sei weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht. Der Kläger beherrsche die deutsche Sprache nicht gleichermaßen in Wort und Schrift. Er habe nie Deutsch schreiben gelernt. Auch seien Jiddisch/Hebräisch die Muttersprachen des weit überwiegenden Teils der jüdischen Bevölkerung in der W. S. gewesen. Die dagegen erhobene Klage wurde vom Sozialgericht Düsseldorf (SG) abgewiesen (Urteil des SG vom 30. Juni 1995). Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte einen Antrag des Klägers von Juni 1996 auf Zulassung zur Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen zur deutschen Rentenversicherung sowie auf Zahlung von ARG nach dem Zusatzabkommen vom 12. Februar 1995 zum Abkommen vom 17. Dezember 1973 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über Soziale Sicherheit (ZAbk Israel SozSich) wegen Fehlens einer damaligen Zugehörigkeit des Klägers zum dSK abgelehnt (Bescheid vom 31. Juli 1996). Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen und die gegen den Bescheid vom 31. Juli 1996 gerichtete Klage abgewiesen. Sein Urteil vom 11. April 1997 ist im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:
Der Kläger erfülle nicht die Voraussetzungen für die Gewährung von ARG nach dem noch anzuwendenden § 1248 Abs 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Beiträge zur reichsgesetzlichen Invalidenversicherung habe er nicht entrichtet. Auch ein Beitragsübergang nach der Ostgebiete-Verordnung vom 21. Dezember 1941 habe nicht stattgefunden. Der Kläger gehöre auch nicht zu dem Personenkreis des § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts (WGSVG), da er weder zum Zeitpunkt des Beginns der Verfolgung im Juli 1941 noch beim Verlassen des Vertreibungsgebietes im Jahre 1946 nachweislich dem dSK angehört habe. Seine Zugehörigkeit zum dSK sei auch nicht glaubhaft gemacht.
Der Kläger sei in einer überwiegend von Polen bewohnten Stadt geboren. Er sei in dieser Stadt in einem weit überwiegend nicht deutsch geprägten Umfeld aufgewachsen und habe weder eine deutschsprachige Volksschule besucht noch eine deutschsprachige Berufsausbildung erfahren. Neben dem gemischtsprachigen Umgang mit seinen Geschwistern im persönlichen Lebensbereich habe er im Herkunftsgebiet im allgemeinen als Umgangssprache Polnisch und Deutsch sowie im Beruf Polnisch benutzt. Dabei komme es für den Senat im Gegensatz zur Auffassung des SG nicht entscheidend auf die Reihenfolge der Sprachangabe auf der DP-Karte an, so daß unerheblich sei, daß der Kläger dort die Beherrschung der deutschen Sprache an letzter Stelle genannt habe. Möge der mehrsprachig aufgewachsene Kläger, der nur Polnisch schreiben gelernt habe, im Zeitpunkt des Verlassens des Herkunftsgebietes auch Deutsch gesprochen und auch deutsche Texte gelesen haben, so habe ihn dies nicht iS einer guten Möglichkeit derart geprägt, daß daneben trotz der schulischen und beruflichen Einbindung sowie der Einbettung der Abläufe des täglichen Lebens außerhalb der Familie in den polnischen Sprach- und Kulturkreis seine Zugehörigkeit zum polnischen Sprach- und Kulturkreis lediglich eine bloße Möglichkeit gewesen sei. Hinsichtlich der sonstigen Voraussetzungen für die Zugehörigkeit zum dSK werde auf die zutreffenden Ausführungen des Urteils des SG Bezug genommen. Demnach gehöre zum Gebrauch einer Sprache wie eine Muttersprache nicht nur das Sprechen, sondern neben dem Lesen auch das Schreiben. Nur so ergebe sich das für die maßgebliche Verbundenheit zum dSK notwendige Denken und Fühlen in der deutschen Sprache und Kultur. Von diesem Erfordernis könne nur dann abgesehen werden, wenn der Betroffene – anders als der Kläger – überhaupt des Lesens und Schreibens unkundig sei. Der Senat habe sich nicht zur Beweiserhebung durch die Vernehmung des Zeugen J. R. veranlaßt sehen müssen. Daß im Elternhaus des Klägers auch Deutsch Umgangssprache gewesen sei und daß es im Elternhaus des Klägers auch deutschsprachige Literatur gegeben habe, stehe außer Streit.
Der Kläger sei auch nicht zur Nachentrichtung von Beiträgen nach Maßgabe des ZAbk Israel SozSich zuzulassen, da er nicht zum dSK gehöre.
Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision macht der Kläger im wesentlichen geltend: Die Rechtsauffassung des LSG stehe nicht mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im Einklang. Allerdings sei vom BSG bisher nur der Fall einer fehlerhaften Schriftprobe und nicht die Problematik behandelt worden, daß überhaupt keine Schriftprobe abgelegt worden sei, weil der Antragsteller niemals Deutsch schreiben gelernt habe. Bereits bei konsequenter Anwendung der Rechtsprechung zur fehlerhaften Schriftprobe dürfe nicht danach unterschieden werden, ob eine Schriftprobe derart fehlerhaft sei, daß der Beweiswert gegen das Beherrschen der deutschen Sprache spreche, oder ob auf die Schriftprobe wegen geringer Bildung verzichtet werden müsse. Bei Personen niedrigerer Bildungsschicht dürfe es daher ausschließlich auf den mündlichen Sprachgebrauch ankommen.
Es sei zuzugeben, daß der Verzicht auf die Schriftprobe als Indiz im Rahmen der Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zum dSK negativ zu berücksichtigen sei, aber eben nur als ein Indiz von mehreren anderen, deren Rang die Instanzgerichte nach den Umständen des Einzelfalles unter Berücksichtigung aller relevanten Tatsachen prüfen müßten. Keinesfalls sei es zulässig, die Entscheidung präkludierend auf die Tatsache zu stützen, daß der Antragsteller niemals Deutsch schreiben gelernt habe, wenn dieser wegen fehlenden Besuchs einer Schule mit deutscher Unterrichtssprache oder wegen geringen Bildungsniveaus innerhalb der Familie keine zumutbare Gelegenheit gehabt habe, die deutsche Schriftsprache zu erlernen. Hier seien die Besonderheiten der Familiengeschichte, zB die dSK-Zugehörigkeit der Eltern oder anderer Familienangehöriger, die individuellen Verhältnisse des Umfeldes im Herkunftsland bzw die Bindungen an den dSK, zu ermitteln und umfassend zu würdigen. Zeugenaussagen und andere Beweismittel müßten unbedingt herangezogen werden, wenn sie vorhanden seien und irgendeinen Aufschluß über das Gewicht des mündlichen Sprachgebrauchs gegenüber möglicherweise fehlendem Lese- und Schreibvermögen geben könnten.
Wenn das niedrige Bildungsniveau oder das Fehlen eines ausreichenden deutschsprachigen Unterrichtsangebots (oder besondere familiäre, kulturelle, religiöse oder politische Verhältnisse) eine deutsche Schriftschulung nicht hätten erwarten lassen, könne es auf die Schreib- und Lesekenntnisse nicht ankommen. Vielfach habe für die jüdische Bevölkerung wegen ihrer Religionszugehörigkeit keine tatsächliche Gelegenheit bestanden, die deutsche Volksschule zu besuchen, während deutsche Privatschulen wiederum von den Eltern meistens nicht zu finanzieren gewesen seien. Schließlich hätten in einigen Orten überhaupt keine deutschsprachigen Bildungseinrichtungen oder Schulen mit dem Nebenfach Deutsch bestanden.
Eine danach erforderliche Ermittlung aller relevanten Umstände fehle im vorliegenden Fall. Das LSG hätte insbesondere bewerten müssen, aus welchem Grund er, der Kläger, nicht Deutsch schreiben gelernt habe, zumal er ja immerhin Deutsch lesen könne. Dies gelte um so mehr, weil ihm vom Sprachprüfer die dSK-Zugehörigkeit uneingeschränkt attestiert worden sei. Auch die Zeugen J. M. und E. S. hätten seine dSK-Zugehörigkeit bestätigt. Außerdem habe eine Tonbandaufnahme vom 9. Dezember 1996 zum mündlichen Gebrauch der deutschen Sprache vorgelegen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. April 1997 sowie das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 30. Juni 1995 aufzuheben und die Beklagte
- unter Aufhebung des Bescheides vom 9. November 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Dezember 1994 zu verurteilen, ihm Altersruhegeld nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren,
- unter Aufhebung des Bescheides vom 31. Juli 1996 zu verurteilen, ihn zur Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen zur deutschen Rentenversicherung nach dem Zusatzabkommen vom 12. Februar 1995 zum Abkommen vom 17. Dezember 1973 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über Soziale Sicherheit zuzulassen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.
II
Die zulässige Revision des Klägers ist iS einer Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Die vorinstanzlichen Tatsachenfeststellungen reichen nicht für eine Entscheidung darüber aus, ob bei dem Kläger die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge zur deutschen Rentenversicherung und die Gewährung von ARG aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung in Betracht kommen.
Zu Recht hat das LSG den Bescheid der Beklagten vom 31. Juli 1996 hinsichtlich der Zulassung zur Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen zur deutschen Rentenversicherung in seine Entscheidung mit einbezogen, da dieser im Berufsverfahren ergangene Verwaltungsakt gemäß §§ 153, 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden ist. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind damit sowohl die mit Bescheid vom 9. November 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Dezember 1994 abgelehnte Gewährung von ARG wegen Vollendung des 65. Lebensjahres als auch die mit Bescheid vom 31. Juli 1996 versagte Zulassung zur Nachentrichtung freiwilliger Rentenversicherungsbeiträge sowie Zahlung von ARG nach dem ZAbk Israel SozSich.
Der Rentenanspruch des Klägers richtet sich noch nach den Vorschriften des Vierten Buches der RVO, da der Rentenantrag bereits im Februar 1990 - also bis zum 31. März 1992 - gestellt worden ist und sich auch auf die Zeit vor dem 1. Januar 1992 bezieht (vgl § 300 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch). Gemäß dem danach anzuwendenden § 1248 Abs 5 RVO erhält ARG ein Versicherter, der das 65. Lebensjahr vollendet und die Wartezeit nach Abs 7 Satz 3 dieser Vorschrift erfüllt hat, also eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt hat. Während der Kläger bereits im Juni 1983 die Altersgrenze von 65 Jahren erreicht hat, ist zwischen den Beteiligten streitig, ob er auch die erforderliche Wartezeit vorweisen kann.
Auf die allgemeine Wartezeit von 60 Kalendermonaten (vgl § 1248 Abs 7 Satz 3 RVO) werden neben Beitragszeiten auch Ersatzzeiten angerechnet (§ 1250 Abs 1 Buchst a und b RVO). Anrechenbare Beitragszeiten iS der §§ 1249, 1250 RVO sind nach den Feststellungen des LSG nicht gegeben. Zum Vorliegen von Ersatzzeiten fehlt es an berufungsgerichtlichen Ausführungen. Die Anrechenbarkeit von Ersatzzeittatbeständen nach § 1251 Abs 1 RVO setzt nach Abs 2 der Vorschrift das vorige Bestehen einer Versicherung oder die spätere Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit voraus. Dafür besteht im Falle des Klägers kein Anhalt, soweit es um Versicherungszeiten nach der RVO geht.
Beim Kläger könnte allerdings die Berücksichtigung von Versicherungszeiten nach §§ 15, 16 des Fremdrentengesetzes (FRG) in Betracht kommen, wodurch zugleich eine Anrechnung von Ersatzzeiten möglich würde. § 15 Abs 1 Satz 1 FRG sieht vor, daß Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichstehen. Nach Maßgabe des § 16 FRG gilt Entsprechendes für Beschäftigungszeiten in Vertreibungsgebieten. Zwar gehört der Kläger – soweit ersichtlich – nicht zu dem gemäß § 1 FRG begünstigten Personenkreis. Insbesondere ist er offenbar kein anerkannter Vertriebener iS von § 1 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG). Ihm kann jedoch die Regelung des § 20 WGSVG zugute kommen, die durch Art 21 Nr 4 des Rentenreformgesetzes 1992 (RRG 1992) rückwirkend zum 1. Februar 1971 (vgl § 20 Abs 3 Satz 1 WGSVG) neu gefaßt worden ist. Nach Abs 1 Satz 1 dieser Vorschrift stehen bei Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen iS des BVFG vertriebene Verfolgte gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Für die Feststellung der danach erheblichen Tatsachen genügt es, wenn sie glaubhaft gemacht sind (vgl § 4 FRG; § 3 WGSVG).
Nach den Feststellungen des LSG ist der Kläger Verfolgter iS des § 1 BEG. Da er vor dem 1. Juli 1990 Polen verlassen hat, kann er auch Vertriebener (Aussiedler) iS von § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG sein. Das weitere Tatbestandsmerkmal dieser Norm, nämlich die (damalige) deutsche Volkszugehörigkeit (vgl dazu § 6 BVFG), wird dadurch ersetzt, daß § 20 Abs 1 Satz 2 WGSVG auf § 19 Abs 2 Buchst a Halbsatz 2 WGSVG verweist. Danach genügt es, soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, daß Verfolgte im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem dSK angehört haben.
Zum Begriff des dSK hat der Bundesgerichtshof (BGH) in seiner grundlegenden Entscheidung vom 25. März 1970 (in RzW 1970, 503, 505) allgemein ausgeführt: Nach der Fassung des Gesetzes (dort § 150 Abs 2 BEG) stehe die Zugehörigkeit zum deutschen Kulturkreis gleichwertig neben der Zugehörigkeit zum deutschen Sprachkreis. Diese Gleichsetzung lasse jedoch die besonderen Beziehungen zwischen Sprache und Kultur außer acht. Nach den Erkenntnissen der Sprachwissenschaft erschließe sich jedem, der eine Sprache als Muttersprache spreche oder im persönlichen Bereich ständig gebrauche, das Weltbild dieser Sprache. Dieser geistige Prozeß beginne mit dem Erlernen der Sprache, er gehe durchweg unbewußt vor sich. Da jeder Sprache eine bestimmte Art, die Welt gedanklich zu erfassen, eigentümlich sei, liege in der Spracherlernung die Eingliederung in die Denkwelt der Sprache. Daher erhalte jeder, der mit der deutschen Sprache weitgehend vertraut sei und sie in seinem persönlichen Lebensbereich spreche, einen Zugang zu der durch die Sprache vermittelten Kultur. In Wechselwirkung hierzu werde die Sprache durch neue kulturelle Leistungen bereichert. Dabei mache es keinen Unterschied, ob der Deutschsprechende nur über den Wortschatz und die Ausdrucksmöglichkeiten verfüge, die für ein Familienleben und die tägliche Berufsarbeit ausreichten, oder ob ihm die Sprache den Zugang zu Bereichen eröffne, die der Religion, Wissenschaft sowie insbesondere der Dichtung angehörten. Da jede Kultur mit dem Bestreben beginne, die Grundbedürfnisse des einzelnen Menschen und der menschlichen Gemeinschaft zu befriedigen, und im Streben nach diesen Leistungen der Anfang aller weiteren Kulturentwicklung liege, hätten auch die Frühstufen der Kultur ihre sprachlichen Ausdrucksformen. Deshalb dürfe nicht unterschieden werden, welche Schicht des kulturellen Lebens sich der Angehörige der Sprachgemeinschaft durch den Gebrauch der Sprache erschließe.
Auf dieser gedanklichen Grundlage ist der BGH zu dem Ergebnis gelangt, daß der Gebrauch des Deutschen im Bereich des persönlichen Lebens im Regelfall ausreichendes Anzeichen für die Zugehörigkeit zum dSK sei (RzW 1970, 503, 505; vgl auch BGH RzW 1973, 266; 1974, 247). Dieser Betrachtungsweise hat sich das BSG in ständiger Rechtsprechung angeschlossen (vgl zB BSG SozR 5070 § 20 Nr 2; BSGE 50, 279 = SozR 5070 § 20 Nr 3; BSG SozR 5070 § 20 Nrn 5, 13; BSG SozR 3-5070 § 20 Nr 1). Sie gilt nicht nur für die Begründung, sondern auch für die Fortdauer einer Zugehörigkeit zum dSK (vgl zB BSGE 50, 279, 281 f = SozR 5070 § 20 Nr 3 S 9). Allerdings vermittelt der Gebrauch der deutschen Sprache im persönlichen Lebensbereich dann nicht (mehr) die der deutschen Sprache eigene Denk- und Gefühlswelt, wenn sich der Betreffende bewußt von der deutschen Kultur ab- und einer fremden Kultur zugewandt hat (vgl BGH RzW 1970, 503, 505; 1973, 266; 1974, 247; dazu auch BSGE 50, 279, 281 f = SozR 5070 § 20 Nr 3 S 9; BSG SozR 5070 § 20 Nr 5 S 18).
Grundsätzlich muß der Verfolgte (noch) im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem dSK angehört haben; hat er sich vorher aus Verfolgungsgründen davon abgewandt, so ist bei der Beurteilung auf den Beginn der Verfolgungsmaßnahmen in seinem Herkunftsgebiet abzustellen (vgl BSG SozR 5070 § 20 Nrn 2, 9). In Fällen, in denen sich der Gebrauch der deutschen Sprache im persönlichen Bereich aus anderen Gründen (zB Heirat eines nicht deutschsprachigen Ehegatten) in rechtserheblichem Umfang verringert hat, geht die Zugehörigkeit jedenfalls dann, wenn Deutsch die Muttersprache ist, erst nach einer Übergangszeit verloren, deren Dauer sich nach den Verhältnissen des Einzelfalles richtet (vgl BSGE 50, 279, 282 = SozR 5070 § 20 Nr 3; BSG SozR 5070 § 20 Nrn 5, 13; BSG SozR 3-5070 § 20 Nr 1). Da das LSG eine Zugehörigkeit des Klägers zum dSK generell verneint hat, erübrigt sich nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens eine genaue zeitliche Festlegung.
Da es für die Zugehörigkeit zum dSK vorrangig auf die Sprache ankommt, ist im einzelnen zu prüfen, inwieweit der Verfolgte die deutsche Sprache beherrscht und gebraucht hat. Was die im maßgeblichen Zeitpunkt vorhandenen Deutschkenntnisse anbelangt, so gehört das Beherrschen der Schriftsprache nicht zu den objektiven Mindestanforderungen einer Zugehörigkeit zum dSK (zur ähnlichen Problematik bei der Einbürgerung von Ehegatten deutscher Staatsangehöriger vgl BVerwGE 79, 94, 99). Zwar eröffnet das Erlernen der Schrift einen erweiterten Zugang zu der durch die Sprache vermittelten Kultur, der Begriff des dSK unterscheidet jedoch nicht danach, welche Schicht des kulturellen Lebens sich der Angehörige der Sprachgemeinschaft durch den Gebrauch der Sprache erschließt (vgl BGH RzW 1980, 22, 23; BSG SozR 5070 § 20 Nr 4 S 15; allgemein dazu auch BVerwGE 102, 214, 220). Vielmehr ist in diesem Zusammenhang auf die subjektiven Verhältnisse, insbesondere den Bildungsgrad des Verfolgten abzustellen. Insofern können auch Analphabeten zum dSK gehören (vgl BGH RzW 1980, 22, 23; BSG SozR 5070 § 20 Nr 4 S 15). Andererseits reichen bloße Sprachkenntnisse für eine Zugehörigkeit zum dSK nicht aus; denn Deutsch kann auch als Fremdsprache erlernt und nur für bestimmte Zwecke (zB im Beruf) verwendet worden sein (vgl dazu BGH RzW 1970, 503, 506). Zu fordern ist daher ein ständiger Gebrauch im persönlichen Bereich, wozu neben Ehe und Familie auch der Freundes- und Bekanntenkreis gehört (vgl BSG SozR 5070 § 20 Nr 13 S 49 f).
Ein besonderes Problem stellt die Mehrsprachigkeit von Verfolgten wie dem Kläger dar. Dieser Personenkreis kann dem dSK zugerechnet werden, wenn er die deutsche Sprache wie eine Muttersprache beherrscht und sie in seinem persönlichen Bereich überwiegend verwendet hat (vgl BGH RzW 1970, 503, 505; 1972, 266; 1974, 247; BSG SozR 5070 § 20 Nrn 4, 13; BSG SozR 3-5070 § 20 Nrn 1, 2). Konnte ein Verfolgter seinerzeit zwar in einer anderen Sprache schreiben und lesen, nicht jedoch in der deutschen Sprache, so schließt ihn dieser Umstand für sich allein nicht von einer Zugehörigkeit zum dSK aus. Maßgebend ist auch hier eine umfassende Würdigung der besonderen Verhältnisse des Einzelfalles.
Wenn es darum geht, die deutsche Sprache „wie eine Muttersprache” zu beherrschen, so wird man allerdings grundsätzlich erwarten können, daß die Deutschkenntnisse mindestens ebenso gut sind wie die Kenntnisse in einer anderen Sprache (vgl dazu OLG München RzW 1970, 255, 256). Insofern hat der 5. Senat des BSG zu Recht Zweifel an der Zugehörigkeit zum dSK geäußert, wenn jemand für persönliche Aufzeichnungen und den Schriftverkehr eine andere Sprache als Deutsch benutzt hat (vgl BSG, Urteil vom 13. September 1990 - 5 RJ 3/90 -, Umdr S 6). Ausschlaggebend sind jedoch die jeweiligen individuellen Lebensumstände. Zunächst ist insoweit zu unterscheiden, ob Deutsch die Muttersprache des Verfolgten ist oder nicht. Ein Verfolgter mit einer anderen Muttersprache kann dem dSK zugerechnet werden, wenn er die deutsche Sprache in Wort und Schrift in gleicher Weise beherrscht hat wie ein entsprechender Verfolgter aus einem deutschsprachigen Elternhaus (vgl BGH RzW 1974, 243). Bei deutscher Muttersprache kommt es insbesondere darauf an, ob für den Verfolgten eine zumutbare Möglichkeit bestanden hat, die deutsche Schriftsprache zu erlernen (vgl BGH RzW 1980, 22, 23; LVA Rheinprovinz, AmtlMittLVARheinpr 1986, 225, 229; allgemein dazu auch BVerwG Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr 64). Dies hängt vornehmlich davon ab, ob er eine deutsche Schule besuchen oder zumindest schulischen Deutschunterricht erhalten konnte (vgl BSG, Urteil vom 28. Juni 1990 - 4 RA 40/88 - Umdr S 9 f; Urteil vom 16. August 1990 - 4 RA 18/89 - Umdr S 9 f; Urteil vom 17. Dezember 1992 - 4 RA 2/91 - Umdr S 9; allgemein dazu auch von Schenckendorff, Vertriebenen- und Flüchtlingsrecht, § 6 BVFG Anm 4d). War das nicht der Fall, ist weiter zu prüfen, ob die Eltern in der Lage waren, dem Betreffenden Deutsch nicht nur mündlich zu vermitteln, sondern ihm auch das Lesen und Schreiben dieser Sprache beizubringen bzw durch Privatunterricht beibringen zu lassen. Schließlich kann in diesem Zusammenhang auch eine allgemeine Unterdrückung der deutschen Sprache im Herkunftsgebiet des Verfolgten von Bedeutung sein (vgl zB BVerwG Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr 86).
Das zweite sprachbezogene Merkmal des dSK betrifft den Sprachgebrauch. Bei der Frage, ob die deutsche Sprache im persönlichen Lebensbereich zumindest überwiegend benutzt worden ist, sind grundsätzlich alle Formen der sprachlichen Kommunikation (Sprechen, Hören, Lesen und Schreiben) in Betracht zu ziehen (vgl dazu allgemein BGH RzW 1970, 503, 506; LVA Rheinprovinz, AmtlMittLVARheinpr 1986, 225, 230). Dazu können neben dem mündlichen Austausch in der Familie auch die Lektüre von Büchern und Zeitschriften, das Verfassen persönlicher Aufzeichnungen sowie der Briefwechsel mit Verwandten und Bekannten gehören. Auch in diesem Zusammenhang ist wiederum auf die persönlichen Verhältnisse des Verfolgten abzustellen. Ausgehend von der Gesamtheit seiner individuellen Kommunikation im persönlichen Lebensbereich ist mithin zu prüfen, ob dabei die deutsche Sprache überwiegend Verwendung gefunden hat.
Gemessen an diesen Kriterien erlauben die Tatsachenfeststellungen des LSG keine abschließende Beurteilung dazu, ob die damalige Beherrschung und der Gebrauch der deutschen Sprache durch den Kläger ausreichen, um ihn dem deutschen Sprachkreis zuzurechnen. Was das Beherrschen des Deutschen wie eine Muttersprache anbelangt, so hat das LSG den Angaben des Klägers auf der DP-Karte keine besondere Bedeutung beigemessen (vgl dazu allerdings OLG München RzW 1971, 225) und sich darauf beschränkt festzustellen, daß der Kläger nicht gelernt habe, Deutsch zu schreiben. Dagegen hat es die Gründe, warum das so war, als unbeachtlich angesehen. Es hat sich folglich nicht näher mit der Frage befaßt, ob der Kläger überhaupt die Möglichkeit gehabt, aber nicht genutzt hat, die deutsche Schriftsprache zu erlernen. Insbesondere ist ungeklärt geblieben, warum der Kläger eine polnische allgemeinbildende Schule (offenbar ohne Deutschunterricht) und nicht eine möglicherweise vorhandene und erreichbare deutsche Schule besucht hat. Darüber hinaus hat das LSG keine ausreichenden Feststellungen dazu getroffen, ob der Kläger Deutsch in seinem persönlichen Bereich überwiegend gebraucht hat. Es hat vielmehr in erster Linie auf den schulischen, den beruflichen und sonstigen Sprachgebrauch außerhalb der Familie abgestellt, wo der Kläger überwiegend Polnisch verwendet habe. Hinsichtlich des persönlichen Lebensbereichs, insbesondere der Verhältnisse zu Hause und in der Familie, hat die Vorinstanz nur festgestellt, daß der Kläger Polnisch und Deutsch gebraucht hat, nicht aber welche Sprache dort überwogen hat. Jedenfalls ist insoweit unterlassen worden, den Gesamtbereich der privaten mündlichen und schriftlichen Kommunikation des Klägers konkret zu erfassen und in Beziehung zu setzen zum Umfang seines (nur mündlichen) Gebrauchs der deutschen Sprache.
Die fehlenden Feststellungen sind auch nicht durch eine hinreichende Bezugnahme auf das Urteil des SG ersetzt worden. Nach seinen eigenen Darlegungen zum Sprachgebrauch des Klägers hat das LSG im Berufungsurteil „hinsichtlich der sonstigen Voraussetzungen für die Zugehörigkeit zum dSK” gemäß § 153 Abs 2 SGG auf die Gründe des SG-Urteils verwiesen. Insoweit wird nicht deutlich, auf welche Ausführungen in den erstinstanzlichen Entscheidungsgründen das LSG konkret Bezug nehmen wollte. Indem das LSG dabei die „sonstigen Voraussetzungen” einer dSK-Zugehörigkeit anspricht, könnte damit das bis dahin im Berufungsurteil nicht näher behandelte Merkmal des Beherrschens des Deutschen gemeint gewesen sein. Hierfür spricht auch, daß das LSG mit Ausführungen fortfährt, die sich auf das Beherrschen der deutschen Sprache, wie das Sprechen, Lesen und Schreiben beziehen, auch wenn das LSG insoweit den Begriff des Gebrauchens verwendet. Jedenfalls ist nicht erkennbar, daß sich die Vorinstanz uneingeschränkt auf den gesamten Inhalt der Urteilsgründe des SG, also auch auf dessen Darlegungen zur Frage eines überwiegenden Gebrauchs der deutschen Sprache durch den Kläger in seinem persönlichen Lebensbereich, stützen wollte. Im Hinblick auf diese Unklarheit liegt hier keine wirksame Bezugnahme iS von § 153 Abs 2 SGG vor. Wie der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 19. Juni 1997 - 13 RJ 1/97 - ausgeführt hat, kann es nämlich nicht Sinn und Zweck der in § 153 Abs 2 SGG vorgesehenen Möglichkeit einer Verweisung auf die Begründung der Entscheidung erster Instanz sein, daß der Leser regelrecht gezwungen wird, aus den Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils einzelne Sätze herauszusuchen, die geeignet sein könnten, im Berufungsurteil als tragfähige Begründungselemente zu dienen (Umdr S 7).
Kann demnach die Zugehörigkeit des Klägers zum dSK noch nicht sicher beurteilt werden, so vermag dieser auch aus dem am 1. Juli 1990 in Kraft getretenen § 17a FRG keine Rechte herzuleiten. Denn diese Bestimmung begünstigt ebenfalls nur Personen, die dem dSK angehört haben. Ebensowenig ergibt sich aus dem Abk Israel SozSich ein Anspruch des Klägers auf Anrechnung seiner in Polen zurückgelegten Beschäftigungszeiten in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung.
Entsprechendes gilt, soweit der Kläger die Zulassung zur Nachentrichtung freiwilliger Rentenversicherungsbeiträge sowie eine Rentenzahlung nach dem ZAbk Israel SozSich begehrt. Durch Art 1 dieses ZAbk ist dem Schlußprotokoll des Abk Israel SozSich eine Nr 11 angefügt worden, wonach die in Art 3 Abs 1 Buchst a und b des Abk bezeichneten Personen, die bis zu dem Zeitpunkt, in dem der nationalsozialistische Einflußbereich sich auf ihr jeweiliges Heimatgebiet erstreckt hat, ua dem dSK angehört haben, auf Antrag freiwillige Beiträge zur deutschen Rentenversicherung nachentrichten können, sofern für sie durch die Anwendung des § 17a FRG erstmals Beitragszeiten oder Beschäftigungszeiten nach dem FRG zu berücksichtigen sind. Ob der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 31. Juli 1996 zu Recht erfolgt ist, hängt in erster Linie davon ab, ob der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt zum dSK gehört hat. Dies kann ohne weitere Feststellungen des LSG nicht entschieden werden.
Da der erkennende Senat die insoweit erforderlichen Ermittlungen im Revisionsverfahren nicht selbst durchführen kann (vgl § 163 SGG), ist das Berufungsurteil gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Dieses Gericht wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 542762 |
SGb 1999, 249 |