Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Kostenerstattungsanspruch. Implantatversorgung. Verfassungsmäßigkeit des grundsätzlichen Ausschlusses implantologischer Leistungen aus dem GKV-Leistungskatalog. keine Ausnahmeindikation für Folgen einer strahlen-und chemotherapeutischen Behandlung eines bösartigen Tumors des Lymphsystems (Morbus Hodgkin)
Orientierungssatz
1. Der grundsätzliche Ausschluss implantologischer Leistungen aus dem GKV-Leistungskatalog mit den engen, sich aus § 28 Abs 2 S 9 SGB 5 ergebenden Ausnahmen verstößt nicht gegen Verfassungsrecht (stRspr, vgl zB BSG vom 19.6.2001 - B 1 KR 4/00 R - BSGE 88, 166 = SozR 3-2500 § 28 Nr 5, RdNr 18 ff).
2. Bei einer implantologischen Sanierung aufgrund der angeblichen Folgen einer strahlen- und chemotherapeutischen Behandlung eines bösartigen Tumors des Lymphsystems (Morbus Hodgkin) ist keine der sich aus § 28 Abs 2 S 9 SGB 5 in Verbindung mit Abschn B Nr VII.2 der "Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Versorgung (Behandlungsrichtlinie)" (juris: ZÄBehRL) ergebenden Ausnahmeindikationen erfüllt, so dass kein Anspruch auf die begehrte implantologische Leistung besteht und die diesbezügliche Ablehnung der Krankenkasse somit zu Recht erfolgt ist, so dass ein Kostenerstattungsanspruch nicht in Betracht kommt.
Normenkette
SGB V § 28 Abs. 2 S. 9, § 13 Abs. 3, 3a, §§ 55, § 55 ff.; ZÄBehRL Abschn. B Nr. VII.2; GG Art. 3 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 18. Dezember 2020 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten für eine selbst beschaffte Versorgung mit Zahnimplantaten.
Der 1970 geborene und bei der beklagten Krankenkasse (KK) gesetzlich versicherte Kläger war im Jahr 1988 an Morbus Hodgkin (bösartiger Tumor des Lymphsystems) erkrankt und wurde seinerzeit strahlen- und chemotherapeutisch behandelt. Am 1.9.2016 beantragte er bei der Beklagten unter Vorlage eines zahnärztlichen Kostenvoranschlags über 15 883,80 Euro sowie von Behandlungsplänen die Übernahme der Kosten für ua implantologische Leistungen. Geplant war danach im Oberkiefer eine abnehmbare Teleskopprothese mit Teleskopen in den Zahnregionen 17, 16, 14, 13, 23, 24, 26, 27 und Freilegung der Implantate nach erfolgreicher Einheilung sowie eine weichbleibende Unterfütterung der vorhandenen Prothese. Die Beklagte bewilligte nach Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) eine Kostenübernahme im Rahmen der gesetzlichen Festzuschüsse für den Zahnersatz und lehnte eine weitere Kostenübernahme für die geplante Implantatversorgung ab (Bescheid vom 6.10.2016, Widerspruchsbescheid vom 19.1.2017). Mit seiner hiergegen gerichteten Klage ist der Kläger beim SG ohne Erfolg geblieben (Urteil vom 14.8.2017). Während des Berufungsverfahrens hat der Kläger bei einer anderen Zahnarztpraxis eine Implantat- und Zahnersatzversorgung durchführen lassen und die Gesamtkosten iH von 17 581,53 Euro selbst getragen. Das LSG hat die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Versorgung mit implantologischen Leistungen, weil keine der vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) anerkannten Ausnahmeindikationen vorliege. Ein Anspruch auf Übernahme bzw Erstattung der Kosten ergebe sich auch nicht aufgrund der fiktiven Genehmigung des Leistungsantrages. Zwar habe die Beklagte über den Antrag des Klägers nicht innerhalb der hier anzuwendenden Frist von drei Wochen entschieden. Jedoch vermittle § 13 Abs 3a SGB V keinen Sachleistungs-, sondern nur einen Kostenerstattungsanspruch. Der Kläger habe sich die konkret bei der Beklagten beantragte und noch im Berufungsverfahren begehrte Leistung entsprechend dem Behandlungsplan der Zahnärzte S und J vom 29.8.2016 nicht selbst verschafft. Die erst im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgelegten Rechnungen vom 9.10.2018 stammten von einer anderen Zahnarztpraxis und bezögen sich nicht auf die bei der Beklagten unter Vorlage eines Behandlungsplanes beantragten Leistungen (Urteil des LSG vom 18.12.2020).
Der Kläger rügt mit seiner Revision sinngemäß eine Verletzung von § 28 Abs 2 Satz 9 SGB V iVm der Richtlinie des GBA für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Versorgung (BehandlungsRL-ZÄ) sowie § 13 Abs 3a SGB V. Das LSG habe sowohl das Vorliegen einer Ausnahmeindikation für einen Sachleistungsanspruch auf implantologische Leistungen als auch einen Kostenerstattungsanspruch aufgrund einer fiktiven Genehmigung des Leistungsantrages zu Unrecht verneint. Er habe die implantologische Sanierung des gesamten Unterkiefers als Folge seiner Tumorerkrankung und -behandlung beantragt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 18. Dezember 2020 und das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 14. August 2017 sowie den Bescheid der Beklagten vom 6. Oktober 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Januar 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 17 581,53 Euro zu zahlen,
hilfsweise
das Urteil des Landesozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 18. Dezember 2020 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Der Kläger sei im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung der Leistung infolge des ablehnenden Bescheides und des Urteils des SG auch nicht gutgläubig gewesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 SGG), ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Soweit der Kläger nunmehr im Revisionsverfahren nur noch die Erstattung der Kosten für eine Implantatversorgung iH von insgesamt 17 581,53 Euro begehrt, hat das LSG die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende SG-Urteil zu Recht zurückgewiesen. Seine Anfechtungs- und Leistungsklage ist nach der im Revisionsverfahren erfolgten Bezifferung des Zahlungsantrages zulässig (vgl zur Erforderlichkeit der Bezifferung BSG vom 28.1.1999 - B 3 KR 4/98 R - BSGE 83, 254 = SozR 3-2500 § 37 Nr 1, juris RdNr 27 f; BSG vom 28.2.2008 - B 1 KR 16/07 R - BSGE 100, 103 = SozR 4-2500 § 31 Nr 9, RdNr 12, mwN; zur Möglichkeit der Nachholung der Bezifferung im Revisionsverfahren vgl BSG vom 26.1.2006 - B 3 KR 4/05 R - SozR 4-2500 § 37 Nr 7 RdNr 11). Sie ist jedoch unbegründet. Der Kläger hat weder nach § 13 Abs 3 Satz 1 Alt 2 SGB V(dazu 1.) noch nach § 13 Abs 3a Satz 7 SGB V(dazu 2.) Anspruch auf Erstattung der Kosten für die selbst beschafften Zahnimplantate nebst Suprakonstruktion.
1. Hat die KK eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der KK in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war (vgl BSG vom 2.9.2014 - B 1 KR 3/13 R - BSGE 117, 1 = SozR 4-2500 § 28 Nr 8, RdNr 15 mwN). Dieser Kostenerstattungsanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch. Daran fehlt es. Die Beklagte lehnte es auf der Grundlage der unangegriffenen, den Senat bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG rechtmäßig ab, den Kläger mit Zahnimplantaten zu versorgen.
§ 28 Abs 2 Satz 9 SGB V bestimmt, dass implantologische Leistungen nicht zur zahnärztlichen Behandlung gehören; sie dürfen von den KKn auch nicht bezuschusst werden. Dies gilt nur dann nicht, wenn seltene vom GBA in Richtlinien nach § 92 Abs 1 SGB V festzulegende Ausnahmeindikationen für besonders schwere Fälle vorliegen, in denen die KK diese Leistung einschließlich der Suprakonstruktion als Sachleistung im Rahmen einer medizinischen Gesamtbehandlung erbringt. Eine solche medizinische Gesamtbehandlung muss sich aus verschiedenen, nämlich aus human- und zahnmedizinisch notwendigen Bestandteilen zusammensetzen, ohne sich in einem dieser Teile zu erschöpfen. Nicht die Wiederherstellung der Kaufunktion im Rahmen eines zahnärztlichen Gesamtkonzepts, sondern ein darüber hinausgehendes medizinisches Gesamtziel muss der Behandlung ihr Gepräge geben. Der grundsätzliche Ausschluss implantologischer Leistungen aus dem GKV-Leistungskatalog mit den engen, sich aus § 28 Abs 2 Satz 9 SGB V ergebenden Ausnahmen verstößt auch nicht gegen Verfassungsrecht (stRspr, vgl BSG vom 19.6.2001 - B 1 KR 4/00 R - BSGE 88, 166 = SozR 3-2500 § 28 Nr 5, juris RdNr 18 ff; BSG vom 7.5.2013 - B 1 KR 19/12 R - SozR 4-2500 § 28 Nr 6 RdNr 9 ff; BSG vom 4.3.2014 - B 1 KR 6/13 R - SozR 4-2500 § 28 Nr 7 RdNr 14 ff; BSG vom 16.8.2021 - B 1 KR 8/21 R - juris RdNr 9 ff; zustimmend, jedoch mit rechtspolitischer Kritik, Wenner, SozSichplus 2021 Nr 11 S 1 f; zur Verfassungsmäßigkeit der Beschränkung von Zahnersatzleistungen auf die Regelversorgung speziell in Bezug auf die Folgen einer Chemo- und Strahlentherapie vgl BSG vom 27.8.2019 - B 1 KR 9/19 R - BSGE 129, 62 = SozR 4-2500 § 13 Nr 49, RdNr 20 ff, 30).
Die BehandlungsRL-ZÄ sieht unter Abschnitt B VII 2 Satz 4 Ausnahmeindikationen für Implantate und Suprakonstruktionen iS von § 28 Abs 2 Satz 9 SGB V vor. Danach liegen besonders schwere Fälle vor
a) bei größeren Kiefer- oder Gesichtsdefekten, die ihre Ursache
- in Tumoroperationen,
- in Operationen infolge von großen Zysten (zB große follikuläre Zysten oder Keratozysten),
- in Entzündungen des Kiefers,
- in Operationen infolge von Osteopathien, sofern keine Kontraindikation für eine Implantatversorgung vorliegt,
- in angeborenen Fehlbildungen des Kiefers (Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten, ektodermale Dysplasien) oder
- in Unfällen
haben,
b) bei dauerhaft bestehender extremer Xerostomie, insbesondere im Rahmen einer Tumorbehandlung,
c) bei generalisierter genetischer Nichtanlage von Zähnen,
d) bei nicht willentlich beeinflussbaren muskulären Fehlfunktionen im Mund- und Gesichtsbereich (zB Spastiken).
Sind die Voraussetzungen dieser Ausnahmeindikationen erfüllt, besteht - auch im Rahmen einer medizinischen Gesamtbehandlung - Anspruch auf Implantate zur Abstützung von Zahnersatz als Sachleistung nur dann, wenn eine konventionelle prothetische Versorgung ohne Implantate nicht möglich ist (Abschnitt B VII 2 Satz 2 BehandlungsRL-ZÄ).
Nach den vom LSG getroffenen Feststellungen erfüllte der Kläger diese Voraussetzungen nicht. Weder litt er an einem größeren Kiefer- oder Gesichtsdefekt, noch an generalisierter genetischer Nichtanlage von Zähnen oder nicht willentlich beeinflussbaren muskulären Fehlfunktionen im Mund- und Gesichtsbereich. Und insbesondere konnte auch keine (aufgrund der Strahlen- und Chemotherapie fortwirkende) erhebliche Trockenheit im Mundbereich (Xerostomie) bestätigt werden. Die Feststellungen des LSG hat der Kläger nicht mit Verfahrensrügen angegriffen; sie sind daher für den Senat bindend (§ 163 SGG).
Die in der BehandlungsRL-ZÄ geregelten Ausnahmeindikationen sind abschließend. Eine ergänzende Auslegung - wie hier etwa im Hinblick auf eine durch eine frühere Chemo- oder Strahlentherapie bedingte Demineralisierung der Zähne - kommt nicht in Betracht (vgl - zu den Folgen einer Conterganschädigung - BSG vom 4.3.2014 - B 1 KR 6/13 R - SozR 4-2500 § 28 Nr 7 RdNr 13).
Da bei dem Kläger schon keine der in der BehandlungsRL-ZÄ geregelten Ausnahmeindikationen vorlag, kann dahingestellt bleiben, ob der Anspruch des Klägers auf die Implantatversorgung auch deshalb nicht bestand, weil diese nicht im Rahmen einer medizinischen Gesamtbehandlung erfolgte. Dahingestellt bleiben kann insofern auch, welche Reichweite den in der BehandlungsRL-ZÄ geregelten Ausnahmeindikationen im Hinblick auf das zwingende gesetzliche Erfordernis einer medizinischen Gesamtbehandlung zukommt (vgl auch BSG vom 16.8.2021 - B 1 KR 8/21 R - juris RdNr 16).
2. Der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch des Klägers ergibt sich auch nicht aus § 13 Abs 3a Satz 7 SGB V. Die Genehmigungsfiktion vermittelt dem Versicherten eine Rechtsposition sui generis. Diese erlaubt es ihm, sich die beantragte Leistung nach Fristablauf bei Gutgläubigkeit zu Lasten der KK selbst zu beschaffen, und verbietet es der KK nach erfolgter Selbstbeschaffung, eine Kostenerstattung mit der Begründung abzulehnen, nach dem Recht der GKV bestehe kein Rechtsanspruch auf die Leistung (vgl zum Ganzen BSG vom 26.5.2020 - B 1 KR 9/18 R - BSGE 130, 200 = SozR 4-2500 § 13 Nr 53). Ein Anspruch nach § 13 Abs 3a Satz 7 SGB V kann deshalb nur hinsichtlich der Kosten für eine Leistung entstehen, die ein Versicherter hinreichend bestimmt beantragt und nach Eintritt der sich allein auf diesen Antrag beziehenden Genehmigungsfiktion (§ 13 Abs 3a Satz 6 SGB V) selbst beschafft hat (vgl BSG vom 16.8.2021 - B 1 KR 8/21 R - juris RdNr 18).
Die selbst beschaffte Leistung, für die der Kläger Kostenerstattung begehrt, entspricht jedoch nicht der beantragten Leistung. Er beantragte nach den auch insoweit unangegriffenen Feststellungen des LSG eine Versorgung mit Zahnimplantaten in den Zahnregionen 17, 16, 14, 13, 23, 24, 26, 27. Tatsächlich verschaffte er sich jedoch Zahnimplantate in den Zahnregionen 15, 13, 11, 22, 23 und 25. Unerheblich ist insoweit, dass die Zahnregionen bei der beantragten und der tatsächlich erbrachten Implantatleistung teilweise identisch sind (Zahnregionen 13 und 23). Denn es ging darum, die implantologischen Voraussetzungen für eine spätere Versorgung mit einer festsitzenden Oberkiefer-Zahnprothese zu schaffen, nicht jedoch um eine jeweils isolierte Versorgung mit einzelnen Zahnimplantaten. Das beantragte Implantatkonzept stellt eine andere Leistung dar als das Implantatkonzept, nach dem sich die tatsächlich durchgeführte Versorgung richtete (vgl auch BSG vom 16.8.2021 - B 1 KR 8/21 R - juris RdNr 18). Dass beide Implantatkonzepte die Versorgung des Oberkiefers betrafen, ändert daran nichts.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Schlegel Scholz Bockholdt
Fundstellen
Haufe-Index 15134696 |
KrV 2022, 112 |
SGb 2022, 294 |
GesR 2022, 390 |