Leitsatz (amtlich)
Eine Ersatzzeit wird nicht dadurch anrechenbar, daß aufgrund des WGSVG § 10a Abs 2 Beiträge für Zeiten vor der Ersatzzeit nachentrichtet werden.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23; WGSVG § 10a Abs. 2 Fassung: 1975-04-28
Verfahrensgang
SG Berlin (Entscheidung vom 25.07.1978; Aktenzeichen S 16 An 880/77) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. Juli 1978 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die 1916 geborene Klägerin ist rassisch Verfolgte und lebt seit 1938 in Israel. Ihr ist eine Entschädigung wegen Schadens in der Ausbildung nach den §§ 115, 118 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) zuerkannt werden. 1976 entrichtete die Klägerin erstmals Beiträge zur deutschen Rentenversicherung; sie entrichtete aufgrund von Art 2 § 49a Abs 2 des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten (AnVNG) 60 Monatsbeiträge für die Jahre 1969 bis 1973 und sodann aufgrund von § 10a Abs 2 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) 120 Monatsbeiträge für die Jahre 1933 bis 1942 nach.
Bei der Berechnung des der Klägerin gewährten vorgezogenen Altersruhegeldes berücksichtigte die Beklagte nur diese Beitragszeiten. Die auf Anrechnung auch der Zeiten verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts als Ersatzzeiten gerichtete Klage hatte im ersten Rechtszuge keinen Erfolg. Nach Ansicht des Sozialgerichts (SG) fehlt es dafür an einer Vorversicherungszeit. § 10a WGSVG enthalte keine Vorschrift, die den nachentrichteten Beiträgen die Wirkung von vor der Ersatzzeit entrichteten Beiträgen verleihe; insbesondere verweise § 10a Abs 4 WGSVG nicht auf § 10 Abs 1 Satz 3 WGSVG. Eine Auslegung im Sinne der Klage werde auch nicht durch Sinn und Zweck des Gesetzes geboten. In den Fällen des § 10a WGSVG sei nicht generell zu vermuten, ohne die Verfolgung wären Rentenversicherungsbeiträge entrichtet worden.
Das SG hat die Sprungrevision zugelassen. Die Klägerin hat mit Zustimmung der Beklagten dieses Rechtsmittel eingelegt, und beantragt,
das erstinstanzliche Urteil und den angefochtenen Bescheid aufzuheben und die Beklagte zur Erteilung eines neuen Bescheides unter Anrechnung der Zeiten des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts als Ersatzzeiten zu verurteilen.
Sie macht geltend, das SG habe nicht berücksichtigt, daß sie ohne die Verfolgung eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen haben würde.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist zulässig. Mit der Vorlage einer beglaubigten Fotokopie des Sitzungsprotokolls, in dem die Zustimmung der Beklagten zur Einlegung der Sprungrevision vermerkt ist, ist dem Erfordernis des § 161 Abs 1 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Genüge getan (SozR 1500 § 161 Nrn 2, 8). Die Klägerin hat die Revision auch noch hinreichend begründet. Soweit sie dabei auf ihr Vorbringen in dem früheren Verfahren 11 RA 94/76 Bezug genommen hat, genügt das freilich nicht (vgl Meyer-Ladewig, SGG, Anm 9 zu § 164 mit weiteren Nachweisen), zumal dort der Streitgegenstand ein anderer und die Klägerin damals Revisionsbeklagte war. Die Klägerin hat aber auch geltend gemacht, sie hätte, was das SG nicht berücksichtigt habe, ohne die Verfolgung eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen; sie hat damit Gründe dargelegt, die nach ihrer Meinung das angefochtene Urteil als unrichtig erscheinen lassen, und so den an die Angabe der verletzten Rechtsnorm im Rahmen der Sachrüge zu stellenden Anforderungen genügt (vgl SozR 1500 § 164 Nr 5).
In der Sache konnte die Revision keinen Erfolg haben. Wie das SG zu Recht entschieden hat, kann die Klägerin eine Anrechnung der Ersatzzeit verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts (§ 28 Abs 1 Nr 4 AVG) nicht verlangen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anrechnung der Ersatzzeit nicht erfüllt sind. Insoweit kommt hier allein § 28 Abs 2 Satz 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) in Betracht. Danach werden Ersatzzeiten angerechnet, wenn eine Versicherung vorher bestanden hat. Das ist der Fall, wenn vor der Ersatzzeit Beiträge entrichtet worden sind (SozR Nr 4 zu § 1251 RVO). Dies traf hier nicht zu; die Klägerin hat erstmals 1976 Beiträge nachentrichtet. Allerdings können auch für Zeiten vor der Ersatzzeit nachentrichtete Beiträge eine Vorversicherung iS von § 28 Abs 2 Satz 1 AVG begründen, wenn ihnen die Eigenschaft rechtzeitig entrichteter Beiträge zukommt. Insofern hat aber die Rechtsprechung bereits klargestellt, daß es hierfür nicht genügt, nachentrichteten Beiträgen grundsätzlich dieselbe Wirkung wie rechtzeitig entrichteten zuzuschreiben (vgl SozR Nr 66 zu § 1251 RVO); um eine Vorversicherung zu begründen, muß der Gesetzgeber vielmehr den nachentrichteten Beiträgen ausdrücklich die Eigenschaft rechtzeitig entrichteter Beiträge verleihen (SozR 2200 § 1251 Nr 20). Dies ist insbesondere im Rahmen des WGSVG für die nach den §§ 8, 10 WGSVG nachentrichteten Beiträgen geschehen, und zwar gerade zu dem Zweck, die Anrechnung von Ersatzzeiten zu ermöglichen (BT-Drucks. VI/715, S. 10); diese Beiträge gelten unter den dort genannten Voraussetzungen als rechtzeitig entrichtete Pflichtbeiträge (§§ 8 Abs 1 Satz 3, 10 Abs 1 Satz 3 WGSVG). In dem erst durch das 18. Rentenanpassungsgesetz vom 28. April 1975 in das WGSVG eingeführten § 10a WGSVG ist eine derartige Regelung nicht enthalten, weder dahin, daß sie als Pflichtbeiträge, noch dahin, daß sie als rechtzeitig entrichtete Beiträge gelten. § 10a Abs 4 WGSVG erklärt eine Reihe von Vorschriften des § 10 WGSVG für entsprechend anwendbar, nimmt aber dabei § 10 Abs 1 Satz 3 WGSVG aus; das kann nur bedeuten, daß dieser Satz nicht entsprechend gelten soll, dh, daß den nach § 10a WGSVG nachentrichteten Beiträgen die Gleichstellung mit rechtzeitig entrichteten Beiträgen versagt bleibt. Daß dies dem Willen des Gesetzgebers entspricht, bestätigt die Entstehungsgeschichte. So hebt insbesondere der Ausschußbericht (BT-Drucks. VII/3235 S. 6) ausdrücklich hervor, daß die nach § 10 a WGSVG nachentrichteten Beiträge freiwillige Beiträge bleiben; wenn es dort weiter heißt, auch diese Verfolgten könnten "künftig unter denselben Bedingungen Beiträge nachentrichten, wie sie für Verfolgte gelten, die bis zur Verfolgung pflichtversichert gewesen sind", so ist damit über die Rechtswirkungen dieser Beiträge nichts ausgesagt. Des weiteren ist hier zu berücksichtigen, daß der Gesetzgeber keinen Anlaß zu der Unterstellung hatte, die von § 10a Abs 2 WGSVG erfaßten Personen hätten ohne die Verfolgung eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen. § 10a Abs 2 WGSVG setzt nicht voraus, daß die dort genannte Ausbildung zu einem Beruf hinführen sollte, dessen Ausübung Versicherungspflicht begründet hätte; es ist daher ohne Bedeutung, ob die Klägerin einen solchen Beruf erstrebte. § 10a Abs 2 WGSVG beruht nicht einmal allgemein auf einer Vermutung, daß ohne die Verfolgung überhaupt Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden wären.
Darin, daß nach § 10a Abs 2 WGSVG nachentrichtete Beiträge nicht als vor der Ersatzzeit entrichtete Beiträge gelten, werden die betroffenen Verfolgten entgegen der von Bergmann (RzW 73, 353) 355f) vertretenen Auffassung nicht in unzulässiger Weise ungleich behandelt im Verhältnis zu Verfolgten, die während oder nach der Verfolgung eine Beschäftigung oder Tätigkeit im Inland ausgeübt haben oder ausüben. Die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit nach Ablauf der Dreijahresfristen des § 28 Abs 2 Satz 2 Buchst a), b) AVG führt zur Anrechenbarkeit von Ersatzzeiten nur dann, wenn die Voraussetzungen der Halbbelegung (§ 28 Abs 2 Satz 2 Buchst c) AVG) erfüllt sind; dazu reicht eine Versicherungspflicht von kurzer Dauer niemals aus. § 14 Abs 2 WGSVG betrifft den Fall einer Verfolgung, die darin bestand, daß für den Verfolgten trotz Beschäftigung keine Pflichtbeiträge entrichtet worden waren; Gegenstand der Wiedergutmachung ist dort die rückwirkende Herstellung dieses Schutzes, während es in § 10a WGSVG allein darum gehen konnte, eine Schließung von Beitragslücken zu ermöglichen.
Nach alledem war die Revision mit der sich aus § 193 SGG ergebenden Kostenfolge zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 SGG).
Fundstellen