Leitsatz (amtlich)
1. Das Gericht darf in Bezug auf historische Tatsachen nicht ohne eingehende Sachaufklärung zu Feststellungen gelangen, die mit diesen Tatsachen unvereinbar erscheinen.
2. Für das berufliche Betroffensein ist der vor der Schädigung ausgeübte Beruf (BVG § 30 Abs 2 S 1, S 2 Buchst a) eines selbständigen Landwirts nicht zu berücksichtigen, wenn infolge Vertreibung der Beschädigte in der Nachkriegszeit wahrscheinlich nicht mehr als selbständiger Landwirt tätig sein könnte (Weiterentwicklung von BSG 1972-07-06 9 RV 668/71 = BSGE 34, 216 = SozR Nr 58 zu § 30 BVG).
Normenkette
BVG § 30 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1966-12-28, S. 2 Buchst. a Fassung: 1966-12-28; SGG § 103 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. November 1973 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der 1917 geborene Kläger war bis zur Einberufung zur deutschen Wehrmacht im Jahre 1943 als selbständiger Landwirt in seiner Heimat Rumänien tätig. Er bezieht wegen der Folgen einer am 7. März 1945 erlittenen Verwundung der rechten Hand seit 1948 und ab 1. Oktober 1950 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v. H.. Seit 1948 übt er die Tätigkeit eines angelernten Arbeiters in einer Maschinenfabrik aus.
Im Juli 1966 beantragte der Kläger höhere Rente, weil er den Beruf eines selbständigen Landwirts nicht mehr ausüben könne. Mit Bescheid vom 14. Oktober 1966 lehnte das Versorgungsamt den Antrag ab, weil die Voraussetzungen für eine Erhöhung der MdE und einen Berufsschadensausgleich nicht gegeben seien. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Bescheid vom 14. Juni 1967).
Im Klageverfahren vertrat der Gewerbearzt Dr. M die Auffassung, der Kläger sei wegen der Schädigungsfolgen unfähig, den Beruf eines kleineren oder mittleren Landwirts auszuüben, jedoch als landwirtschaftlicher Verwalter durchaus verwendbar. Das Sozialgericht verurteilte den Beklagten zur Gewährung von Rente nach einer MdE von 50 v. H. (Urteil vom 7. August 1969) und wies die Klage hinsichtlich des begehrten Berufsschadensausgleichs ab.
Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung des Beklagten zurück (Urteil vom 23. November 1973): Der Kläger sei unstreitig vor der Schädigung selbständiger Kleinlandwirt mit landesüblicher Ausbildung gewesen. Diesen Beruf könne er wegen der Schädigungsfolgen nicht mehr ausüben. Die Auffassung des Beklagten, der Kläger wäre auch ohne die Schädigung außerstande gewesen, den Landwirtsberuf weiter auszuüben, weil vertriebene Landwirte nur zu einem geringen Prozentsatz wieder in ihrem erlernten Beruf Fuß gefaßt hätten, verkenne Sinn und Zweck des § 30 Abs. 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG). Bei der beruflichen Betroffenheit handele es sich um eine abstrakte Berücksichtigung des Berufsschadens, wobei grundsätzlich vom Zeitpunkt der Schädigung auszugehen sei. Diejenigen Verhältnisse seien maßgebend, wie sie unmittelbar nach der Schädigung vorgelegen hätten. In diesem Zeitpunkt sei der Kläger selbständiger Landwirt gewesen, er habe diesen Beruf infolge der Handverletzung nicht mehr ausüben können, weshalb es keine Rolle spiele, daß er ihn auch ohne Schädigungsfolgen in der Bundesrepublik Deutschland kaum wieder hätte erlangen können. Als Landwirt habe er das soziale Ansehen eines Selbständigen gehabt, das ihm als angelerntem Hilfsarbeiter nicht zugekommen sei, so daß es auf einen Minderverdienst von mindestens 20 v. H. nicht entscheidend ankommen könne. Aber auch ein sozial gleichwertiger Beruf (Verwalter), auf den der Kläger verweisbar wäre, scheide aus, weil es an der entsprechenden Qualifikation des Klägers hierfür fehle.
Mit der nicht zugelassenen Revision rügt der Beklagte die Verletzung der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch das LSG. Zu Recht sei das LSG vom Zeitpunkt der Schädigung ausgegangen und habe nicht auf spätere Entwicklungen abgestellt. Ungeachtet dessen habe es über den Streitgegenstand nicht entscheiden dürfen, weil der Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt gewesen sei. Den LSG sei nur bekannt gewesen, daß der Kläger vor der Einberufung zum Wehrdienst selbständiger Landwirt gewesen und daß die Schädigung am 7. März 1945 erfolgt sei. Das LSG hätte sich deshalb gedrängt fühlen müssen, aufzuklären, ob der Kläger im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses noch als selbständiger Landwirt anzusehen gewesen sei. Denn es sei immerhin denkbar, daß der landwirtschaftliche Besitz des Klägers infolge der Besetzung Rumäniens durch sowjetische Truppen und durch Maßnahmen der rumänischen Regierung verloren gewesen sei. Das LSG hätte die der Kriegslage entsprechenden tatsächlichen Verhältnisse am früheren Heimatort des Klägers aufklären müssen. Bei Feststellung eines Vertreibungsschadens bereits im Zeitpunkt der Schädigung hätte das LSG die Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 BVG verneinen müssen, weil sich der Berufsweg des Klägers, d. h. der vom Kläger als Vertriebener ohne Schädigungsfolgen erzielte Verdienst, wahrscheinlich von dem tatsächlich erreichten Einkommen nicht wesentlich unterschieden hätte. Auf den Beruf des Landwirts habe es somit als Vergleichsbasis nicht mehr ankommen können. Die Unterlassung der Sachaufklärung stelle sich nicht nur als Verstoß gegen § 103 SGG dar, sie bedeute auch eine Verletzung des § 106 SGG, weil nicht alle Maßnahmen getroffen worden seien, die für die Urteilsfindung notwendig gewesen wären.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 23. November 1973 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Er hält die gerügten Verfahrensmängel für nicht durchgreifend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die vom LSG nicht gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG aF (Art. III des Änderungsgesetzes zum SGG vom 30. Juli 1974, BGBl I 1625) zugelassene Revision des Beklagten ist statthaft, weil zumindest eine der Verfahrensrügen durchgreift (§§ 164, 166, 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG aF; BSG 1, 150). Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.
Wie die Revision zutreffend rügt, hat das LSG seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären (§ 103 SGG), verletzt. Es hat - ausgehend von seiner auch vom Beklagten gebilligten, vom Senat zunächst bei der Statthaftigkeitsprüfung zugrundezulegenden sachlich-rechtlichen Auffassung (vgl. BSG 2, 84, 87) -, wonach es für die Annahme eines besonderen beruflichen Betroffenseins (§ 30 Abs. 2 BVG), grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Schädigung (7. März 1945) ankomme, festgestellt, der Kläger sei zu diesem Zeitpunkt selbständiger Landwirt gewesen. Die Revision hat hinreichend substantiiert (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG) gerügt, das LSG hätte zu dieser Feststellung nicht gelangen dürfen, ohne aufzuklären, ob der landwirtschaftliche Besitz des Klägers im März 1945 noch bestanden hat oder infolge der Besetzung Rumäniens durch sowjetische Truppen und Maßnahmen der rumänischen Regierung damals bereits verlorengegangen war. Das LSG hätte sich schon angesichts der historischen Tatsachen der Kapitulation Rumäniens am 23. August 1944 und der nachfolgenden Evakuierung, Flucht und Verschleppung der deutschstämmigen Bevölkerung (vgl. "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa Bd. III: Das Schicksal der Deutschen in Rumänien", Herausgeber: Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte 1957, Darstellung S. 59 E bis 91 E, 156 E ff; Dokumente S. 171 ff; insbes. S. 200 ff, 304 ff; Valentin "Die Banater Schwaben", 1959, S. 103 ff) gedrängt fühlen müssen, die allgemeinen Verhältnisse im Banat im März 1945 und die Besonderheiten, die den landwirtschaftlichen Besitz des Klägers betrafen, aufzuklären. Da aus den angeführten Dokumentationen hervorgeht, in wie hohem Maße schon seit Herbst 1944 die Volksdeutschen im rumänischen Banat durch Begleiterscheinungen des Zusammenbruchs der deutschen Ostfront ihrer Existenzgrundlage beraubt wurden, erscheint die Annahme des LSG unvertretbar, der Kläger sei noch am 7. März 1945 uneingeschränkt Inhaber eines landwirtschaftlichen Anwesens und an einer Fortsetzung bzw. Wiederaufnahme dieser Erwerbstätigkeit nur durch die Handverletzung gehindert gewesen. Das LSG durfte sich unter diesen Umständen aufgrund seiner Pflicht zur Sachaufklärung von Amts wegen nicht mit der Feststellung begnügen, die Landwirtseigenschaft des Klägers vor der Schädigung sei unbestritten, er sei auch im Zeitpunkt der Schädigung Landwirt gewesen, weshalb es nicht darauf ankomme, daß er in der Bundesrepublik Deutschland auch als Gesunder wohl kaum wieder selbständiger Landwirt geworden wäre. Die damit erfolgreiche Verfahrensrüge läßt es nicht ausschließen, daß das LSG bei Vermeidung des Verfahrensfehlers zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Auf die danach begründete Revision ist das Urteil des LSG aufzuheben.
Auf die nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG aF statthafte Revision hat der Senat - unabhängig vom Rügevorbringen des Beklagten - das angefochtene Urteil in vollem Umfang materiell-rechtlich nachzuprüfen (vgl. BSG 3, 180, 186). Diese Prüfung ergibt hinsichtlich der vom Kläger bis zur Einberufung innegehabten Berufsstellung als selbständiger Landwirt ("vor der Schädigung ausgeübter Beruf" - erste Alternative des § 30 Abs. 2 Satz 1 BVG), daß es insoweit - entgegen der vom LSG übereinstimmend mit dem BSG-Urteil vom 17. März 1970 (BSG 31, 74 ff) zu § 30 Abs. 4 BVG vertretenen Auffassung (siehe aber später BSG 34, 216) - nicht entscheidend darauf ankommt, in welcher zeitlichen Reihenfolge die gesundheitliche Schädigung einerseits und der auf Vertreibung und/oder Enteignung beruhende, also schädigungsunabhängige Verlust der Berufsstellung andererseits sich ereignet haben. Nach der neueren Rechtsprechung des 10. Senats hat mit der Einfügung des "derzeitigen" Berufs in die Tatbestandsmerkmale des § 30 Abs. 2 BVG die früher als maßgebend erachtete Gegenüberstellung des Zustandes vor der Schädigung mit demjenigen unmittelbar nach der Schädigung ihre Bedeutung verloren (BSG 36, 285, 289 f = SozR Nr. 69 zu § 30 BVG); daher kann die Frage der MdE-Höherbewertung für den Zeitpunkt und unter den Verhältnissen der Schädigung nicht stets abschließend beurteilt werden; vielmehr sind auch nach der Schädigung eintretende Ereignisse beruflicher, wirtschaftlicher oder gesundheitlicher Art zu berücksichtigen und auf ihre ursächliche Bedeutung für das geltend gemachte berufliche Betroffensein zu prüfen (BSG 37, 80, 84, 85 = SozR 3100 § 30 Nr. 1). Ob diese Rechtsprechung auch immer dann gilt, wenn ein besonderes Betroffensein in dem bereits vor der Schädigung ausgeübten Beruf zu prüfen ist, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls trifft ihr tragender Gesichtspunkt, daß eine Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG nicht von dem zufälligen Geschehensverlauf abhängig gemacht werden darf, ob die gesundheitliche Schädigung dem Vertreibungsschicksal oder ähnlichen Umständen vorausgegangen oder nachgefolgt ist, für Fälle der vorliegenden Art zu, in denen die Berufsausübung spätestens kurz nach der Schädigung im Sinne des § 1 BVG aus schädigungsunabhängigen Gründen ohnedies unmöglich geworden ist. Für solche Fälle kommt es maßgebend darauf an, ob die vor der Schädigung innegehabte Berufsstellung später überhaupt noch von realer Bedeutung sein konnte, u. U. auch nur durch eine wirtschaftliche Versorgung aus dem früheren Beruf durch eine Rente aus der von der Arbeitsleistung abhängigen Versicherung. In einem Fall wie dem vorliegenden hätte sich ein berufliches Betroffensein, das durch ein schädigendes Ereignis im Sinne des § 1 BVG kurz vor dem Verlust des landwirtschaftlichen Betriebes eingetreten wäre, gar nicht mehr tatsächlich ausgewirkt, zumal der Kläger damals Soldat war. Entgegen der Auffassung des LSG wird nach § 30 Abs. 2 BVG gerade nicht eine abstrakte, sondern eine konkrete Berufsbetroffenheit berücksichtigt, die tatsächlich infolge einer kriegsbedingten gesundheitlichen Schädigung eingetreten sein muß und eine individuelle Beurteilung des Einzelfalles ermöglicht (vgl. BSG 15, 208, 210; 29, 139 ff). Unter diesem Aspekt kann aber - wie beim Berufsschadensausgleich, so auch bei beruflichem Betroffensein - ein vor der Schädigung ausgeübter Beruf jedenfalls dann nicht berücksichtigt werden, wenn im Einzelfall die Voraussetzungen für diese Berufstätigkeit schon in der ersten Nachkriegszeit aus schädigungsunabhängigen Gründen - z. B. Auflösung der Wehrmacht (BSG 26, 78, 80 = SozR Nr. 24 zu § 30) oder Vertreibung aus den Ostgebieten mit Verlust der dort betriebenen Landwirtschaft ohne Aussicht auf Wiedererlangung eines solchen Betriebes im Bundesgebiet (vgl. BSG 32, 1, 7 = SozR Nr. 9 zu § 40 a BVG; BSG 34, 216, 219, 220 = SozR Nr. 58 zu § 30 BVG) - nicht mehr gegeben waren.
Hiernach spielt es keine Rolle, ob der Kläger am 7. März 1945 noch als Inhaber des landwirtschaftlichen Anwesens in seinem Heimatort anzusehen war oder nicht.
Das Vertreibungsschicksal als solches hat freilich nicht in jedem Einzelfall den Verlust der Berufsstellung als selbständiger Landwirt mit sich gebracht. Ob hier für den Kläger ausnahmsweise - etwa durch verwandtschaftliche Beziehungen - bei unversehrter Heimkehr aus dem Kriegsdienst die Möglichkeit einer Berufsausübung als selbständiger Landwirt im Bundesgebiet bestanden hätte, wird das LSG gegebenenfalls aufzuklären haben. Weiterhin wird, falls der Landwirtsberuf als Anspruchsgrundlage ausscheidet, zu prüfen sein, ob der Kläger ein berufliches Betroffensein daraus herleiten kann, daß er in seiner seit 1950 verrichteten Berufstätigkeit als Kranführer infolge der Funktionsbehinderung der rechten Hand nur unter Inkaufnahme einer beträchtlichen Unfallgefährdung zu arbeiten vermag (s. Bl. 103-120 Versorg. Akte; vgl. BSG 13, 20, 23)
Da es noch auf vom LSG zu treffende Feststellungen ankommt, muß die Sache gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückverwiesen werden, dem auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens überlassen bleibt.
Fundstellen