Leitsatz (amtlich)
Die VV BVG § 35 Nr 8 begründet keine unwiderlegbare Rechtsvermutung, daß Doppelamputierte stets hilflos sind. Vielmehr setzt die Gewährung einer Pflegezulage auch in diesen Fällen voraus, daß Hilflosigkeit festgestellt wird (Bestätigung von BSG 1966-09-30 9 RV 1006/63 = SozR Nr 18 zu § 35 BVG).
Normenkette
BVG § 35 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1966-12-28; BVGVwV § 35 Nr. 8 Fassung: 1969-06-26
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 26. Februar 1975 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der im Jahre 1923 geborene Kläger bezieht wegen "Verlust des linken Beines im Unterschenkel, Verlust des rechten Fußes im Fußgelenk (Pirogoff), Teilverlust sämtlicher Finger rechts mit erheblicher Gebrauchsbehinderung der rechten Hand und Verlust des linken Kleinfingers" Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v. H. Sein im Jahre 1970 gestellter Antrag auf Gewährung einer Pflegezulage wurde vom Versorgungsamt Dortmund durch Bescheid vom 25. Januar 1971 abgelehnt; der Widerspruch war vergeblich (Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts N vom 9. Juli 1971). Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat nach Erhebung weiterer Beweise durch Urteil vom 7. Mai 1974 die Klage abgewiesen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat nach Anhörung eines medizinischen Sachverständigen durch Urteil vom 26. Februar 1975 das Urteil des SG abgeändert und den Beklagten verurteilt, dem Kläger ab 1. Oktober 1970 (Antragsmonat) Pflegezulage nach Stufe I zu gewähren. In den Urteilsgründen heißt es, der Kläger erfülle die Voraussetzungen, unter denen nach der Verwaltungsvorschrift (VV) Nr. 8 zu § 35 Bundesversorgungsgesetz (BVG) eine Pflegezulage mindestens der Stufe I zu gewähren sei. Durch diese VV habe die Versorgungsverwaltung eine Selbstbindung geschaffen, an die sie sich im Interesse einer gleichmäßigen Behandlung des Personenkreises aller Doppelamputierten zu halten habe, weil sie sonst den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG) verletzen würde. Bei Doppelamputierten im Sinne der VV Nr. 8 zu § 35 BVG erübrige sich die Prüfung, ob der Beschädigte infolge der Schädigung hilflos sei; dies werde vielmehr unwiderlegbar vermutet. Beim Kläger liege neben dem Verlust des linken Beines im Unterschenkel eine Absetzung des rechten Fußes nach Pirogoff vor, die nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme als Verlust des ganzen Fußes zu werten sei. Der Kläger müsse daher als Doppelamputierter angesehen werden.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt; er rügt eine Verletzung des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG. Zur Begründung führt er aus, das LSG habe nicht festgestellt, daß der Kläger hilflos im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG sei. Entgegen der Auffassung des LSG begründe die VV Nr. 8 keine unwiderlegbare Vermutung dahin, daß Doppelamputierte hilflos seien. Dies stehe im Widerspruch zum Gesetz; VVen komme jedoch keine Gesetzeskraft zu. Die VV Nr. 8 zu § 35 BVG könne daher nur als Hinweis oder "Richtlinie" für die Bearbeitung einschlägiger Fälle angesehen werden, welche die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen unberührt lasse. Hierfür spreche auch der Wortlaut, wonach bei Doppelamputierten "im allgemeinen" eine Pflegezulage der Stufe I als angemessen angesehen werde. Die Versorgungsverwaltung sei jedoch nicht verpflichtet, in diesen Fällen stets Hilflosigkeit zu unterstellen. Aus dem Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) vom 20. Oktober 1958 (BVBl 1958, 153) und aus der VV Nr. 4 zu § 30 BVG gehe hervor, daß die Amputation nach Pirogoff nicht als Verlust des ganzen Fußes angesehen werde.
Der Beklagte beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 26. Februar 1975 die Berufung des Klägers zurückzuweisen, hilfsweise, unter Aufhebung des Urteils vom 26. Februar 1975 die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision des Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Beklagten ist im Sinne des Hilfsantrags begründet, weil die bisher getroffenen Feststellungen zur Entscheidung des Falles nicht ausreichen.
Die Gewährung einer Pflegezulage nach Stufe I setzt gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG voraus, daß der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf. Ob dies bei dem Kläger der Fall ist, hat das LSG nicht festgestellt. Es hat sich vielmehr auf die VV Nr. 8 zu § 35 BVG gestützt. Danach ist bei Doppelamputierten ohne weitere Gesundheitsstörungen im allgemeinen eine Pflegezulage nach Stufe I angemessen, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um paarige oder nicht-paarige Gliedverluste handelt. Nach Auffassung des LSG wird aufgrund dieser VV unwiderlegbar vermutet, daß Doppelamputierte hilflos im Sinne des § 35 Abs. 1 BVG sind, so daß ihnen zumindest eine Pflegezulage nach Stufe I zusteht.
Diese Auffassung ist unrichtig; sie kann vom Senat nicht geteilt werden. Schon aus dem Wortlaut der VV Nr. 8 zu § 35 BVG, wonach bei Doppelamputierten "im allgemeinen" die Gewährung einer Pflegezulage nach Stufe I angemessen ist, ergibt sich, daß die Tatsache der Doppelamputation für sich allein nicht ausreichend sein kann. Vielmehr sind nach § 35 Abs. 1 BVG Ermittlungen in bezug auf das Vorliegen von Hilflosigkeit und die Stufe der Pflegezulage anzustellen. Bereits die Wortfassung der VV läßt also erkennen, daß mit ihr keine unwiderlegbare Vermutung aufgestellt werden sollte (vgl. BSGE 3, 217, 222; SozR BVG § 35 Nr. 18). Eine solche Auffassung würde auch dem Wesen der VVen nicht gerecht werden. Sie sind als Vorschriften zur leichteren Handhabung und Durchführung, nicht aber zur Ergänzung oder Abänderung des Gesetzes ergangen. VVen sind für die Versorgungsverwaltung bestimmte Interpretationsvorschriften, denen zu entnehmen ist, in welcher Weise nach Meinung der Verwaltung das Gesetz auszulegen ist (vgl. BSGE 8, 133). Dagegen müßte eine unwiderlegbare Vermutung auch die Gerichte binden, so daß den VVen normative Wirkung zukäme, was jedoch ihrem Wesen widerspricht (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - BSGE 6, 252; 8, 140; 10, 112; 11, 191).
Demgemäß hat der 9. Senat des BSG bereits in seinem Urteil vom 30. September 1966 (vgl. SozR BVG Nr. 18 zu § 35) ausgesprochen, daß die VV Nr. 8 zu § 35 BVG nicht die Prüfung ersetzt, ob Hilflosigkeit bei dem Beschädigten vorliegt. Ergänzend dazu hat der 8. Senat des BSG in seinem Urteil vom 30. Januar 1969 - 8 RV 467/68 - ausgeführt, daß Hilflosigkeit nur bei Blinden (nach § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG) und bei erwerbsunfähigen Hirnverletzten (nach § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG) unwiderlegbar vermutet wird, so daß nur insoweit Pflegezulage ohne Prüfung der Hilflosigkeit gewährt werden kann. Dieser Rechtsprechung steht auch die Entscheidung des erkennenden Senats vom 17. April 1970 - 10 RV 348/67 - nicht entgegen. Der Senat hat darin lediglich ausgesprochen, daß die VV Nr. 8 zu § 35 BVG die Anwendung der Vorschriften über die Gewährung der Pflegezulage erleichtert, jedoch gleichzeitig betont, daß die gesetzliche Grundlage § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG bildet; dessen Voraussetzungen müssen gegeben sein.
Der Kläger vermag sein Begehren auch nicht auf eine "Selbstbindung" der Verwaltung zu stützen. Eine ständige, durch das Gesetz nicht gedeckte und deshalb rechtswidrige Verwaltungsübung würde auch nicht über den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) zu einem Anspruch auf eine entsprechende Leistung führen können; der Gleichheitsgrundsatz gibt keinen Anspruch auf Fehlerwiederholung her (vgl. BSG SozR BVG § 35 Nr. 18 mit weiteren Nachweisen). Eine Verwaltungsübung, wie sie der Kläger in Anspruch nehmen will, hätte sich hier überdies gegen die Rechtsprechung des BSG entwickeln müssen (vgl. BSG a. a. O.). Ferner hat der BMA bereits in seinem Rundschreiben vom 20. Oktober 1958 (BVBl 1958, S. 153 Nr. 97) die Auffassung vertreten, daß eine Amputation nach Pirogoff nicht als Verlust des ganzen Fußes zu werten sei. Ob dieser Auffassung aus medizinischer Sicht zu folgen ist, braucht der Senat bei dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht zu entscheiden. Maßgegend ist vielmehr, daß sich für Fälle der vorliegenden Art weder eine ständige Verwaltungsübung noch eine "Selbstbindung" der Verwaltung herleiten läßt.
Das LSG hat keine Feststellungen darüber getroffen, ob bei dem Kläger Hilflosigkeit im Sinne vom § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG vorliegt. Dem Senat ist es verwehrt, selbst die notwendigen Ermittlungen anzustellen. Er ist daher nicht in der Lage, abschließend über den Fall zu entscheiden (§ 170 Abs. 2 SGG). Das Urteil des LSG muß daher aufgehoben und die Sache an das LSG zurückverwiesen werden. Bei der neuen Entscheidung wird das LSG neben den Amputationen an den unteren Extremitäten auch die übrigen Schädigungsfolgen, insbesondere die schwere Verletzung und Behinderung der rechten Hand, zu berücksichtigen haben. Das LSG wird aber auch den Einfluß etwaiger schädigungsunabhängiger Gesundheitsstörungen bei der Prüfung der Hilflosigkeit berücksichtigen müssen (vgl. BSGE 13, 40). Schließlich kann von Bedeutung sein, was das BSG zur Hilflosigkeit bei Prothesenträgern ausgeführt hat (vgl. SozR BVG § 35 Nr. 18 am Ende).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen