Leitsatz (amtlich)
Soldaten der Reichswehr, die nach Einführung der Wehrpflicht über die Erfüllung der aktiven Dienstpflicht hinaus im Dienst verblieben sind, haben ihren gesamten Wehrdienst berufsmäßig und nicht aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht (AVG § 28 Abs 1 Nr 1 = RVO § 1251 Abs 1 Nr 1) geleistet.
Normenkette
AVG § 28 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1965-06-09; AVG § 28 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1957-02-23, § 1242b Fassung: 1937-12-21
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 10.05.1979; Aktenzeichen L 1 An 12/79) |
SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 20.12.1978; Aktenzeichen S 20 (7) An 11/77) |
Tatbestand
Streitig ist die Anerkennung der Zeit vom 21. Mai 1935 bis zum 30. September 1935 als Ersatzzeit.
Der 1912 geborene Kläger trat am 1. Oktober 1934 als Freiwilliger in die Reichswehr ein. An zwei je einjährige Dienstverpflichtungen schloss sich im Oktober 1936 eine Dienstverpflichtung für insgesamt 12 Jahre an. Da der Kläger durch ein Feldgerichtsurteil vom 25. September 1940 seine Eigenschaft als Berufssoldat verloren hatte und er somit nicht zum Personenkreis des § 72 des Gesetzes zu Art 131 Grundgesetz gehört, teilte ihm das Landesamt für Besoldung und Versorgung Nordrhein-Westfalen mit, daß seine Wehrdienstzeit vom 10. Oktober 1936 bis zum 24. September 1940 sowie die anschließende Kriegsdienstzeit bis zum 8. Mai 1945 lediglich für die Nachversicherung in Betracht komme, die gemäß § 1242b Reichsversicherungsordnung (RVO) aF erst für die Zeit nach Beendigung der zweijährigen Dienstzeit ab 1. Oktober 1936 durchzuführen sei.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger Altersruhegeld für die Zeit ab 1. Februar 1976 und lehnte dabei dessen Verlangen, die Zeit vom 1. Oktober 1934 bis zum 30. September 1936 als Ersatzzeit zu berücksichtigen, ab (Bescheide vom 8. Juni, 13. Juli und 15. Dezember 1976).
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, die Zeit vom 21. Mai 1935 bis zum 30. September 1936 als Ersatzzeit anzuerkennen (Urteil vom 20. September 1978). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) unter Klagabweisung im übrigen die Beklagte verurteilt, das Altersruhegeld unter Anrechnung der Zeit vom 21. Mai bis zum 30. September 1935 als Ersatzzeit neu zu berechnen (Urteil vom 10. Mai 1979). Zur Begründung wird ausgeführt, die Militärdienstzeit des Klägers sei vom Inkrafttreten des Wehrgesetzes (21. Mai 1935) bis zum Ablauf des 30. September 1935 als aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht geleistet anzusehen, da sich der Kläger bis zum 30. September 1935 nur für eine Wehrdienstzeit von einem Jahr verpflichtet habe und erst nach dieser Zeit eine Verpflichtung als länger Dienender eingegangen sei. Daraus, daß der Kläger seit dem 1. Oktober 1934 faktisch ununterbrochen Soldat gewesen sei und Gebührnisse der Reichsbesoldungsordnung bezogen habe, sei nicht auf einen berufsmäßig geleisteten Militärdienst zu schließen, weil in dieser Zeit noch keine besondere Besoldungsregelung für Wehrpflichtige gegolten habe.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben, soweit
die Beklagte verurteilt wurde, und die Klage
in vollem Umfang abzuweisen.
Die Beklagte rügt Verletzung des § 28 Abs 1 Nr 1 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG). Sie meint, daß der Kläger vom Eintritt in die Reichswehr an berufsmäßigen Wehrdienst geleistet habe. Sie beruft sich auf Verwaltungsvorschriften zu den §§ 72 ff des Gesetzes zu Art 131 Grundgesetz sowie auf ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen.
Der Kläger ist im Verfahren nicht vertreten.
Beide Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Auf die Revision der Beklagten waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben, soweit der Klage stattgegeben wurde; die Klage war in vollem Umfang abzuweisen. Da der Kläger ab 1. Oktober 1934 berufsmäßigen Wehrdienst geleistet hat, kann seine Wehrdienstzeit nicht als Ersatzzeit angerechnet werden.
1. Maßgebend ist § 28 Abs 1 Nr 1 AVG (= § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO) idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965. Dieser bestimmt - insoweit übereinstimmend mit der früher geltenden Regelung idF des Gesetzes vom 23. Februar 1957 -, daß als Ersatzzeit angerechnet werden Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes iS der §§ 2 und 3 Bundesversorgungsgesetz (BVG), der aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden ist. Auf die davor geltende Regelung des § 31 AVG alter Fassung iVm § 1263 RVO alter Fassung braucht trotz Art 2 § 9 Angestelltenversicherungsneuregelungsgesetz (AnVNG) vom 23. Februar 1957 nicht näher eingegangen zu werden, da deren Formulierung vergleichsweise enger ist.
2. Die Rechtsprechung hat sich bereits wiederholt damit befaßt, unter welchen Voraussetzungen Wehrdienstzeiten ab Mai 1935 den Ersatzzeittatbestand des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG erfüllen. Hiernach ist eine Wehrdienstzeit, während der nach dem mit seinem Erlaß in Kraft getretenen Wehrgesetz vom 21. Mai 1935 (RGBl S 609) Wehrpflicht bestand, als Ersatzzeit auch dann anzuerkennen, wenn sich der Versicherte bereits zu einem früheren als dem für die Erfüllung der aktiven Dienstpflicht vorgeschriebenen Zeitpunkt oder als Angehöriger der Ersatzreserve freiwillig Wehrdienst geleistet hat; andererseits können Friedensdienstzeiten eines Berufssoldaten aber selbst dann nicht als Ersatzzeit berücksichtigt werden, wenn der Berufssoldat ohne die Ausübung seines Berufes während derselben Zeit aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht Militärdienst zu leisten gehabt hätte (BSG SozR 2200 § 1251 Nr 57 mwN).
Das LSG hat bei der Beurteilung, ob der Kläger berufsmäßig Wehrdienst leistete, nicht ausreichend berücksichtigt, daß der Kläger schon vor dem Inkrafttreten des Wehrgesetzes in die Reichswehr eingetreten ist.
Denn der vom LSG herangezogene Grundsatz, daß eine Zeit des militärischen Dienstes auch dann bis zur Dauer einer der aktiven Dienstpflicht entsprechenden Dienstzeit als Ersatzzeit zu berücksichtigen ist, wenn sich der Versicherte erst nach dieser Zeit oder für die Zeit nach ihrer Beendigung als "länger Dienender" zur Ableistung längeren Wehrdienstes verpflichtet hat, gilt nur mit der Einschränkung, daß der Wehrdienst vorher noch nicht berufsmäßig ausgeübt wurde (BSG SozR 2200 § 1251 Nr 25 und Nr 57). Dies ist jedoch bei den vor dem 21. Mai 1935 in die Reichswehr eingetretenen Soldaten der Fall. Damals gab es keine Wehrpflicht; der Wehrdienst wurde also nicht im Hinblick auf die Wehrpflicht, sondern berufsmäßig begonnen. Die spätere Einführung der Wehrpflicht konnte dem Wehrdienst nicht rückwirkend den Charakter der Berufsmäßigkeit nehmen (vgl BSG SozR 2200 § 1251 Nr 57 auf Bl 147 mwN). Ob und inwieweit derartige Dienstzeiten auf die aktive Dienstpflicht nach dem Wehrgesetz anzurechnen waren, ist daher ohne Bedeutung.
Die Soldaten der Reichswehr haben ihren berufsmäßig begonnenen Wehrdienst in der Regel auch nach Eintritt der Wehrpflicht im Mai 1935 berufsmäßig fortgesetzt. Das gilt insbesondere für diejenigen, die sich zuvor auf 4 1/2 Jahre (oder länger) verpflichtet hatten (BSG SozR 2200 § 1251 Nr 57 und SozR Nr 65 zu § 1251 RVO). In der Regel gilt dies aber auch für Soldaten, die in der Übergangszeit von Januar 1933 bis Mai 1935, zumeist aufgrund einjähriger Dienstverpflichtung, in die Reichswehr eingetreten sind. Ist ein Soldat der Reichswehr für die Zeit ab Oktober 1935 sogleich eine längere Dienstverpflichtung eingegangen, so ist der gesamte Wehrdienst als berufsmäßig anzusehen, wie der 5. Senat bereits entschieden hat (Urteil vom 28. März 1980 - 5 RJ 28/79 -). Es kann aber auch keinen Unterschied begründen, ob die längere Dienstverpflichtung sogleich oder erst nach einer weiteren kurzfristigen Dienstverpflichtung folgt. In derartigen Fällen für die Zeit bis zur Einführung der Wehrpflicht Berufsmäßigkeit des Wehrdienstes zu bejahen, für die Zeit ab Einführung der Wehrpflicht für die Dauer der aktiven Dienstpflicht Berufsmäßigkeit zu verneinen und für die anschließende Zeit wiederum Berufsmäßigkeit des Wehrdienstes anzunehmen, wäre gekünstelt. Ist ein Soldat der Reichswehr nach Einführung der Wehrpflicht über die Erfüllung der aktiven Dienstpflicht hinaus im Dienst verblieben, so ist auch der anschließende Wehrdienst als berufsmäßig geleistet anzusehen. Etwas anderes ist auch dem Urteil des erkennenden Senats vom 19. August 1976 (BSG SozR 2200 § 1251 Nr 24) nicht zu entnehmen. Dort stand bereits die Kürze des Wehrdienstes der Annahme einer Berufsmäßigkeit entgegen, während der Kläger weit über die Dauer der aktiven Dienstpflicht hinaus bis 1940 ununterbrochen berufsmäßigen Wehrdienst geleistet hat.
3. Die Ausgestaltung der Nachversicherung nach § 1242b RVO idF des § 9 des Ausbaugesetzes vom 21. Dezember 1937 (RGBl S 1393) steht dieser Auslegung nicht entgegen. Zwar ist die Nachversicherung von Soldaten erst für die Zeit nach Vollendung einer zweijährigen Dienstzeit durchzuführen; es spricht jedoch nichts dafür, daß der Gesetzgeber eine nahtlose Regelung für Ersatzzeit und anschließende Zeit der Nachversicherung treffen wollte, also von einer Anrechenbarkeit der beiden ersten Dienstjahre als Ersatzzeit ausging. Denn dem Gesetzgeber des Jahres 1937 war durchaus bewußt, daß die Dauer der aktiven Dienstpflicht bis zum Erlaß vom 24. August 1936 (Heeresverordnungsblatt 1936 S 320) nur ein Jahr betragen hatte (vgl BVerwGE 40, 303). Im übrigen käme für die Soldaten, die sich schon bei der Reichswehr auf 12 Jahre verpflichtet hatten, eine Anrechnung der beiden ersten Dienstjahre als Ersatzzeit ohnehin nicht in Betracht, so daß aus der Nachversicherungsregelung nicht auf eine Anrechenbarkeit als Ersatzzeit geschlossen werden kann.
4. Den Ersatzzeittatbestand des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG hinsichtlich der schon bei der Reichswehr begonnenen Wehrdienstzeiten in dieser Weise auszulegen, erscheint auch im Hinblick auf den Regelungszusammenhang geboten. Denn Soldaten, die vor Mai 1935 in die Reichswehr eingetreten waren, konnten nach dem Soldaten-Versicherungsgesetz vom 31. Mai 1922 (Reichsgesetzblatt S 542) den gesetzlichen Rentenversicherungen beitreten, und zwar auch für Dienstzeiten nach dem 21. Mai 1935 (vgl Erlaß des Oberbefehlshabers des Heeres, Die Arbeiterversorgung, 1936, 92). Soweit von diesem Recht kein Gebrauch gemacht wurde, besteht nunmehr nach Art 2 § 44a AnVNG idF des Gesetzes vom 16. Oktober 1972 die Möglichkeit, Beiträge nachzuentrichten.
Für Soldaten, die aus der Reichswehr vor dem 21. Mai 1935 ausgeschieden sind, kommen weitergehende Rechte nicht in Betracht. Ihre Dienstzeit ist jedenfalls weder als Ersatzzeit anzurechnen, noch ist für sie eine Nachversicherung durchzuführen. Denn die Regelung der Nachversicherung in § 1242b RVO durch Gesetz vom 21. Dezember 1937 ist zum 1. Oktober 1935 in Kraft getreten und gilt damit nur für Soldaten, die nach diesem Zeitpunkt ausgeschieden sind. Wenn der Gesetzgeber denjenigen Soldaten, die (wie der Kläger) nach Oktober 1935 als Berufssoldaten im Dienst verblieben sind, einen Anspruch auf Nachversicherung einräumte, so erscheint dies - trotz der Ausklammerung der beiden ersten Jahre - als eine Vergünstigung. Die Gesamtregelung läßt damit keine Lücke im sozialversicherungsrechtlichen Schutz der Soldaten der Reichswehr erkennen, der durch eine entsprechende Anwendung des Ersatzzeittatbestandes "Wehrdienst aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht" geschlossen werden müßte.
5. Bei der Gesetzesregelung war schließlich auch der Zusammenhang mit § 72 Abs 1 des Gesetzes zu Art 131 Grundgesetz (G 131) zu berücksichtigen.
Nach dieser Vorschrift gelten Berufssoldaten für die Zeit vom Tage der Wirkung der Verpflichtung für eine längere Dienstzeit an, jedoch Berufssoldaten, die in die Reichswehr vor dem 1. Oktober 1935 eingetreten sind, vom Tage des Diensteintrittes an als nachversichert (Nr 8 der von der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschriften vom 20. Februar 1968). Zeiten des Pflichtwehrdienstes unterliegen nicht der Nachversicherung nach § 72 G 131, da sie der Ersatzzeitregelung des Sozialversicherungsrechts unterfallen. Das legt es nahe, die Berufsmäßigkeit in beiden Bereichen nach gleichen Kriterien zu beurteilen. Insoweit hat der Senat berücksichtigt, daß das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 24. Oktober 1978 - XII A 1434/77 - bei vergleichbarem Sachverhalt Berufsmäßigkeit des Wehrdienstes angenommen hat. Dementsprechend ist auch das Landesamt für Besoldung und Versorgung im Falle des Klägers von berufsmäßigem Wehrdienst ausgegangen, dessen Nachversicherung nach § 99 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes lediglich daran scheiterte, daß die Nachversicherung aufgrund des insoweit anzuwendenden § 1242b RVO aF erst für die Zeit nach Vollendung einer zweijährigen Dienstzeit durchzuführen ist. Da somit der gesamte Wehrdienst des Klägers bis 1940 berufsmäßig geleistet wurde, und daher nicht als Ersatzzeit angerechnet werden kann, war auf die Revision der Beklagten die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen