Leitsatz (amtlich)

Die auf dem Arbeitsvertrag und dem Kündigungsschutzgesetz beruhende - zeitlich begrenzte - Fortzahlung eines geminderten Gehalts steht beim Wechsel von der Tätigkeit des Grubensteigers zu der des Lichtpausers der Annahme der Berufsunfähigkeit nicht entgegen (Fortsetzung von BSG 11.3.1982 5b/5 RJ 166/80 = SozR 2200 § 1246 Nr 88, BSG 14.7.1982 5a RKn 7/81 = BSGE 54, 38 = SozR 2200 § 1246 Nr 95, BSG 29.11.1984 5b RJ 46/84 = SozR 2200 § 1246 Nr 124).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 Fassung: 1957-02-23; RKG § 46 Abs 2 Fassung: 1957-05-21

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 29.05.1984; Aktenzeichen L 15 Kn 20/84)

SG Duisburg (Entscheidung vom 13.01.1984; Aktenzeichen S 3 Kn 42/83)

 

Tatbestand

Der 1936 geborene Kläger begann 1954 im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau als Schlepper und Gedingeschlepper, war sodann Lehrhauer und Hauer, besuchte von 1958 bis 1961 die Bergschule - Fachrichtung Bergtechnik - und war nach Übernahme in das Angestelltenverhältnis ab Mai 1963 bis Anfang 1977 als technischer Angestellter unter Tage, zuletzt als Grubensteiger (Gehaltsgruppe 02) tätig. Wegen arthrotischer Veränderungen der Kniegelenke, die als Berufskrankheit mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH anerkannt sind, mußte er seine Tätigkeit als Grubensteiger aufgeben. Er blieb als technischer Angestellter (Platzmeister) über Tage im Bergbau tätig, war in der Zeit vom 23. November 1981 bis zum 5. September 1982 arbeitsunfähig krank und wurde nach seinem anschließenden Tarifurlaub ab 22. Oktober 1982 als Lichtpauser in der Markscheiderei eingesetzt. Gemäß seinem Arbeitsvertrag und den Kündigungsschutzbestimmungen erhielt er jedoch bis zum 30. Juni 1983 das Gehalt der Tarifgruppe 13 der Anlage A zum Angestellten-Manteltarifvertrag im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau. Seit dem 1. Juli 1983 bezieht er aufgrund einer Änderungskündigung das Gehalt der Gruppe 11 der technischen Angestellten über Tage des genannten Tarifvertrages.

Die Beklagte bewilligte dem Kläger, der bereits seit März 1977 Rente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit bezog, auf seinen Antrag hin für die Zeit vom 1. August 1982 bis zum 5. September 1982 Rente wegen Berufsunfähigkeit, lehnte den Anspruch aber für die weitere Zeit ab (Bescheide vom 15. und 23. November 1982; Widerspruchsbescheid vom 14. März 1983). Während des Klageverfahrens bewilligte sie dem Kläger ab 1. Juli 1983 wiederum Rente wegen Berufsunfähigkeit (Bescheid vom 4. August 1983). Das Sozialgericht (SG) hat die auf Berufsunfähigkeitsrente für die Zeit vom 6. September 1982 bis zum 30. Juni 1983 gerichtete Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen (Urteil vom 13. Januar 1984). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger auch für die Zeit vom 6. September 1982 bis zum 30. Juni 1983 Rente wegen Berufsunfähigkeit nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren (Urteil vom 29. Mai 1984). Es hat ausgeführt, im Vergleich zum bisherigen Beruf des Grubensteigers sei dem Kläger die seit dem 22. Oktober 1982 verrichtete Tätigkeit eines Lichtpausers nicht zumutbar iS von § 46 Abs 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG). Daß der Kläger in der streitigen Zeit wegen der einzuhaltenden Kündigungsfristen und des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) noch das Gehalt der Gruppe 13 der technischen Angestellten über Tage bezogen habe, stehe seinem Rentenanspruch nicht entgegen, weil dies auf die Qualität der Arbeit in der Lichtpauserei ohne Einfluß sei.

Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 46 Abs 2 RKG, die sie darin erblickt, daß das LSG die Lohnersatzfunktion der Berufsunfähigkeitsrente nicht beachtet und dem Kläger einen Schutz ohne soziale Schutzbedürftigkeit gewährt habe.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. Mai 1984 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Duisburg vom 13. Januar 1984 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen. Das LSG hat dem Kläger für die streitige Zeit zu Recht die Berufsunfähigkeitsrente zuerkannt.

Wie der erkennende und der 5b-Senat in ständiger Rechtsprechung und übereinstimmend mit dem Urteil des 1. Senats vom 12. November 1980 (SozR 2200 § 1246 Nr 69) bereits mehrfach entschieden haben, kommt es in der Frage der Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit nicht entscheidend auf die Lohnhöhe an, die durch eine tarifliche Lohnsicherung bei gesundheitlich bedingter Umsetzung auf einen an sich geringer bezahlten Arbeitsplatz gewährt wird, weil sich die Zumutbarkeit einer Tätigkeit nur nach dem Qualitätsunterschied zwischen dem bisherigen Beruf und der Verweisungstätigkeit richtet (SozR 2200 § 1246 Nrn 49, 88, 95 sowie das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil vom 29. November 1984 - 5b RJ 46/84 -). Diese Rechtsauffassung muß auch für den hier zu beurteilenden Fall einer sich aus dem Anstellungsvertrag in Verbindung mit dem KSchG herleitenden Fortzahlung eines im Vergleich zur ausgeübten Tätigkeit höheren Gehalts gelten. Ist nämlich eine Tätigkeit wegen ihres im Vergleich zur zuletzt ausgeübten Tätigkeit wesentlich geringeren Qualität dem Versicherten im Rahmen des § 46 Abs 2 RKG nicht zumutbar, so darf er mit der Folge der Rentenversagung auf diese Tätigkeit selbst dann nicht verwiesen werden, wenn er dafür aus Rechtsgründen für eine bestimmte Zeit noch das Gehalt aus der früheren Tätigkeit bezieht. Diese Betrachtungsweise folgt aus dem mehrstufigen Aufbau der Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, wie der 5b-Senat im Urteil vom 29. November 1984 aaO näher ausgeführt hat.

Abweichend von der eben zitierten Rechtsprechung hat der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) bei Versicherten, die ihre bisherige Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr verrichten konnten und deshalb innerbetrieblich auf ihnen nach § 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht zumutbarer Arbeitsplätze umgesetzt wurden, eine soziale Betroffenheit als Voraussetzung des Anspruchs auf die Berufsunfähigkeitsrente gefordert und diese bei tariflicher Verdienstsicherung in Höhe des zuvor verdienten Lohnes verneint (Urteile vom 19. Januar 1978 und 19. März 1980 in SozR 2200 § 1246 Nrn 26 und 60). Der 4. Senat, der mit den übrigen Arbeiterrentenversicherungs-Senaten des BSG davon ausgeht, daß bei der qualitativen Beurteilung des bisherigen Berufs und der Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit der tatsächlich gezahlte Lohn nicht rechtserheblich ist (Urteil des 5. Senats vom 11. Juli 1972 in SozR Nr 103 zu § 1246 RVO, Urteil des 4. Senats vom 26. April 1977 - 4 RJ 93/76 -, Urteil des 1. Senats vom 12. November 1980 in SozR 2200 § 1246 Nr 69), schränkt seine Auffassung zur sozialen Betroffenheit als Voraussetzung des Anspruchs auf Berufsunfähigkeitsrente indes erstens dahin ein, daß er die Fortzahlung des bisherigen Lohnes aus Kulanzgründen nicht im Sinne des Ausschlusses der sozialen Betroffenheit wertet und daß er zweitens eine soziale Betroffenheit auch dann annimmt, wenn die vom Versicherten noch ausführbare Tätigkeit so einfacher Art ist, daß sie im Arbeitsleben einen "erheblichen - und damit nicht mehr zumutbaren Abstieg" des Versicherten zur Folge hat, der auch durch die Weiterzahlung des früheren Lohnes nicht mehr ausgeglichen werden kann (SozR 2200 § 1246 Nr 93).

Der erkennende Senat sieht wegen der in gewissem Umfang vom Grundsatz der Beurteilung des Qualitätsunterschiedes zwischen bisherigem Beruf und Verweisungstätigkeit allein nach qualitativen Merkmalen abweichenden Auffassung des 4. Senats jedoch auch im vorliegenden Fall keinen Anlaß, den großen Senat gemäß § 42 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) anzurufen. Im Unterschied zur tariflichen Verdienstsicherung ist nämlich die sich hier aus dem Anstellungsvertrag in Verbindung mit den Kündigungsschutzbestimmungen ergebende Fortzahlung des früheren Gehalts zeitlich eng begrenzt. Im übrigen ist zu berücksichtigen, daß der Kläger im Alter von 41 Jahren beim Übergang von der Tätigkeit des Grubensteigers zu der des Platzmeisters bereits die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit nach § 45 Abs 1 Nr 1 RKG erhalten hat, woraus sich unter Berücksichtigung des Absatzes 2 dieser Bestimmung ergibt, daß schon die Tätigkeit als Platzmeister der zuvor verrichteten Tätigkeit als Grubensteiger nicht im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig gewesen sein kann. Somit hat der Kläger für die begrenzte Zeit des sich aus seinem Anstellungsvertrag und dem KSchG ergebenden Fortzahlung des Gehalts der Gruppe 13 der technischen Angestellten über Tage nicht die Fortzahlung des Gehalts als Grubensteiger in der Gruppe 02 der technischen Angestellten unter Tage erhalten. In beiden Punkten unterscheidet sich der hier zu beurteilende Sachverhalt somit von den vom 4. Senat entschiedenen Fällen der tarifvertraglichen Lohnfortzahlung. Die zeitlich begrenzte Fortzahlung eines ohnehin schon geminderten Gehalts könnte keinesfalls als zumutbarer Ausgleich für den Abstieg von der Tätigkeit einer Aufsichtsperson in einem größeren Bereich (Gruppe 02 der technischen Angestellten unter Tage) zur einfachen und vorwiegend schematischen Tätigkeiten des Lichtpausers (Gruppe 11 der technischen Angestellten über Tage) betrachtet werden.

Die Revision der Beklagten muß somit gemäß § 170 Abs 1 Satz 1 SGG zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661970

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