Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 13.08.1968) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. August 1968 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Unter den Beteiligten ist streitig, ob bei oder nach der Festsetzung des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) nach § 565 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF auch Verdiensterhöhungen, die von der Erreichung eines bestimmten Lebens- oder Berufsjahres an allgemein festgesetzt sind, soweit sie zwischen der Beendigung der Berufsausbildung und der Vollendung des 30. Lebensjahres liegen, zu berücksichtigen sind.
Der am 4. Dezember 1935 geborene Kläger erlitt am 1. April 1955 einen Arbeitsunfall (Wegeunfall) mit einem Oberschenkelbruch und einer Kniescheibenverletzung. Er war damals Bergvermessungstechnikerlehrling im Bergbau. Die Lehrzeit sollte am 31. März 1956 beendet werden, sie mußte dann aber wegen des Unfalles bis zum 30. September 1956 verlängert werden. Der Kläger legte die Prüfung als Bergvermessungstechniker ab, konnte aber wegen der Unfallfolgen nicht mehr unter Tage tätig sein und deshalb das angestrebte Berufsziel als Vermessungssteiger unter Tage nicht erreichen. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) ist er seit dem 1. November 1959 als Ingenieur für Vermessungstechnik bei der Stadt Bochum tätig, zuletzt als Stadtvermessungsoberinspektor.
Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 13. Dezember 1955 vom 1. Oktober 1955 an Unfallrente. Der Rente wurde ein JAV von 3000 DM (Ortslohn) zugrunde gelegt, weil der Ortslohn den vom Kläger zur Zeit des Unfalls erzielten JAV überstieg. Hit Bescheid vom 14. Juni 1957 stellte die Beklagte den der Rentengewährung zugrunde liegenden JAV neu fest, und zwar für die Zeit vom 1. April 1956 (voraussichtlicher Abschluß der Lehrzeit) bis zum 31. März 1957 auf 3861,60 DM und vom 1. April 1957 (erste tarifliche Gehaltssteigerung) ab auf 4314,00 DM.
Mit Schreiben vom 30. Oktober 1960 beantragte der Kläger, den der Rentengewährung zugrunde liegenden JAV mit Wirkung vom 1. April 1958, mit Wirkung vom 1. April 1959, mit Wirkung vom 1. April 1960, mit Wirkung vom 1. April 1961 und mit Wirkung vom 1. Januar 1962 neu festzusetzen, da sich zu den genannten Zeitpunkten sein tariflicher Verdienst gesteigert hätte, wenn er weiterhin im Bergvermessungsdienst tätig gewesen wäre.
Mit Bescheid vom 23. Dezember 1960 lehnte die Beklagte die begehrte Berücksichtigung von Steigerungsbeträgen bei der Festsetzung des JAV ab. Sie erklärte sich bereit, den JAV ab 1. Januar 1962, dem Tag des vermutlichen endgültigen Abschlusses der Berufsausbildung (Bergschulabschluß und Prüfung zum Bergvermessungssteiger), neu festzusetzen. Das ist später auch mit Bescheid vom 1. Februar 1962 geschehen.
Gegen den Bescheid vom 23. Dezember 1960 erhob der Kläger Klage vor dem Sozialgericht (SG) Dortmund mit dem Antrag, die Rente ab 1. Oktober 1960, ab 1. März 1961, ab 1. April 1961 und ab 1. Juli 1961 neu zu berechnen. Die Klage wurde mit Urteil vom 5. Oktober 1961 abgewiesen. Das Urteil wurde rechtskräftig. Einen erneuten Antrag des Klägers, den JAV neu festzusetzen, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 6. April 1966 ab. Hiergegen erhob der Kläger wieder Klage vor dem SG Dortmund, die mit Urteil vom 24. November 1966 abgewiesen wurde. Auf die hiergegen vom Kläger eingelegte Berufung hat das LSG Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 13. August 1968 das Urteil des SG Dortmund vom 24. November 1966 abgeändert und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 6. April 1966 verurteilt, die Unfallrente des Klägers für die Zeit ab 1. Januar 1963 neu festzustellen und bei dem zugrunde zu legenden JAV die tariflichen Steigerungen nach Berufsjahren bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres (4. Dezember 1965) zu berücksichtigen. Das LSG glaubt dem Wortlaut des § 565 Abs. 1 RVO aF entnehmen zu können, daß die Angleichung der Rente an einen mit dem Berufsalter gestiegenen JAV nicht nur zu einem fest bezeichneten Zeitpunkt, nämlich dem Ende der Ausbildung, sondern vielmehr während des gesamten Zeitraumes bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres, gegebenenfalls also mehrfach zu erfolgen habe. Diese Wortauslegung stehe im Einklang mit Sinn und Zweck der gesetzlichen Bestimmung. Allgemein gelte zwar im Recht der Unfallversicherung der Grundsatz, daß sich die Höhe der Rente nach dem JAV im letzten Jahr vor dem Unfall richte (vgl. § 564 RVO aF) und zukünftige Erwerbsaussichten in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht berücksichtigt werden, jedoch sehe § 565 RVO aF in begrenztem Rahmen eine spätere Angleichung der Rentenhöhe an die mutmaßliche zukünftige Einkommensentwicklung des Versicherten und damit eine nach der Sachlage gebotene Ausnahme von diesem Grundsatz vor. Der regelmäßige Arbeitsverdienst liege bei Ausbildungsende zunächst auch häufig noch relativ niedrig, wenn man ihn mit den Steigerungsmöglichkeiten vergleiche, die im Laufe des Berufslebens ohne den Unfall noch hätten erwartet werden können. Deshalb sei es einleuchtend, wenn es der Gesetzgeber nicht bei dem in einer Anfangsstellung erzielbaren Entgelt habe belassen wollen und statt dessen die Grenze für weitere Anhebungen des JAV auf den Zeitpunkt der Vollendung des 30. Lebensjahres festgelegt habe. Bei der Vorschrift des § 565 RVO aF handele es sich um eine Sonderregelung mit Ausnahmecharakter für Arbeitsunfälle während der Ausbildung, so daß ein Vergleich mit den übrigen Versicherten nicht statthaft sei, es könne also nicht berücksichtigt werden, daß damit derjenige Versicherte, der den Arbeitsunfall während der Ausbildung erleide, besser als der gestellt werde, bei dem der Versicherungsfall erst nach Ausbildungsende, aber noch vor Vollendung des 30. Lebensjahres eintrete. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.
Mit der von ihr eingelegten Revision macht die Beklagte geltend, gerade der vom LSG herausgestellte Ausnahme Charakter des § 565 RVO aF gebiete es, diese Vorschrift eng auszulegen. Die Folgerungen, die das LSG aus dem Wortlaut dieser Vorschrift gezogen habe, seien nicht zwingend. Wenn eine Vorschrift den Zweck habe, Härten zu vermeiden – wie auch das LSG meine –, dann könne eine solche Vorschrift nicht zu einer ungerechtfertigten Besserstellung der von dieser Vorschrift betroffenen Personengruppe gegenüber anderen Versicherten führen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. August 1968 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 24. November 1966 zurückzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. August 1968 zurückzuweisen.
Der Kläger hält das Urteil des LSG für richtig und überzeugend. Viele Berufsgenossenschaften hätten seit dem Jahre 1942 das Gesetz in dem Sinne gehandhabt, wie das LSG entschieden habe. Der Kläger würde also, wenn von dieser Praxis abgewichen würde, ungünstiger dastehen als die Verletzten, bei denen bis zum 30. Lebensjahr der JAV in dem vom Kläger erstrebten Sinn festgesetzt worden sei. Unter diesen Voraussetzungen könne man zu dem Ergebnis kommen, daß sich hier ein Gewohnheitsrecht, mindestens aber eine Übung herausgebildet habe, die mit Überzeugung angewendet worden sei.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Nach § 563 RVO aF wurde die Rente grundsätzlich nach dem JAV, d. h. nach dem Arbeitsentgelt berechnet, den der Verletzte während des letzten Jahres vor dem Unfall bezogen hat. Befand sich der Verletzte zur Zeit des Unfalls noch in einer Berufs- oder Schulausbildung, so wurde nach § 565 RVO aF von dem Zeitpunkt an, in welchem die begonnene Ausbildung voraussichtlich abgeschlossen gewesen wäre, der JAV nach dem Entgelt berechnet, der dann für Personen gleicher Ausbildung durch Tarif oder sonst allgemein für einzelne Berufsjahre festgesetzt war; hierbei waren Verdiensterhöhungen, die von der Erreichung eines bestimmten Lebens- oder Berufsjahres an allgemein festgesetzt waren, die der Verletzte aber voraussichtlich erst nach Vollendung seines 30. Lebensjahres erreicht hätte, nicht zu berücksichtigen. Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ist nicht eindeutig zu entnehmen, ob solche Verdiensterhöhungen auch insoweit zu berücksichtigen sind, als sie nach dem voraussichtlichen Ende der Ausbildung liegen. Da der Wortlaut des Gesetzes nicht eindeutig ist, laßt sich nur aus der historischen Entwicklung, aus dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift und aus dem Gesetzeszusammenhang schließen, ob dies gewollt war.
Es ist davon auszugehen, daß sich die Höhe der Verletztenrente in der Regel nach dem tatsächlichen Arbeitsverdienst richtet, den der Verletzte im Jahr vor dem Arbeitsunfall erzielt hat, und daß dieser grundsätzlich für alle Zukunft maßgebend bleibt, spätere höhere Erwerbsaussichten des Verletzten also nicht berücksichtigt worden. Von diesem Grundsatz enthielt § 565 RVO aF eine Ausnahme. Diese Vorschrift sollte die Rechtslage für Personen, die sich zur Zeit des Unfalls noch in einer Berufs- oder Schulausbildung befanden oder die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten und deswegen einen besonders niedrigen JAV hatten, verbessern. Für diese Personen wäre es eine besondere Härte, wenn die für die Zeit des Unfalls maßgeblichen, besonders niedrigen Entgelte für alle Zeiten maßgeblich bleiben würden. Deshalb sollte von dem Zeitpunkt an, in welchem die begonnene Ausbildung voraussichtlich abgeschlossen gewesen oder das 21. Lebensjahr vollendet worden wäre, der JAV erneut nach dem Entgelt festgesetzt werden, welches dann Personen gleicher Ausbildung beanspruchen könnten. An die Stelle des normalen JAV sollte also der JAV treten, den der Verletzte nach Beendigung seiner Ausbildung oder der Vollendung des 21. Lebensjahres erreicht hätte. Dieses Ziel wird mit der von der Beklagten vertretenen Auslegung des § 565 RVO aF zwar grundsätzlich erreicht, doch fragt sich, ob darüber hinaus nicht auch noch insoweit eine Ausnahme zugunsten dieser Verletzten gewollt war, als die Lohnerhöhungen, die wegen der Zahl der Lebens- oder Berufsjahre allgemein festgesetzt sind und die nach Abschluß der Ausbildung bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres eintreten, zusätzlich zu berücksichtigen sind. Insofern könnten diese Personen in solchen Fällen in späteren Jahren infolge des Unfalls zusätzlich geschädigt sein, wenn diese Lohnerhöhungen bei ihrer Verletztenrente nicht berücksichtigt werden würden. Der Senat hat diese Frage zugunsten dieser Personen entschieden. Er ist der Auffassung, daß die Beklagte den JAV für die hier streitige Zeit ab 1. Januar 1963 nach Verdiensterhöhungen, die von der Erreichung eines bestimmten Lebens- oder Berufsjahres an allgemein bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres festgesetzt waren, neu zu berechnen und zu berücksichtigen hat, weil davon ausgegangen werden muß, daß der Gesetzgeber dieses Ergebnis mit der in § 565 RVO aF getroffenen Regelung erreichen wollte. Das ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
Vor dem Inkrafttreten des § 565 RVO aF war die Festsetzung des JAV für jugendliche Verletzte in § 569 a RVO. besonders geregelt. Es wurde bei der Neufestsetzung der Rente bei Erreichung des 21. Lebensjahres nicht nur der für einen gleichartigen Versicherten erzielte höhere Jahresentgelt berücksichtigt, sondern zusätzlich auch noch die tariflich bei Erreichung eines späteren Lebensjahres festgesetzten höheren Verdienste. Diese Vorschrift galt nach § 569 b RVO damaliger Fassung für Verletzte, die zur Zeit des Unfalls noch in Berufs- oder Schulausbildung waren, entsprechend. Danach war die streitige Rechtsfrage damals eindeutig zugunsten der Versicherten geregelt. Der im vorliegenden Fall anwendbare, seit dem 1. Januar 1942 in Kraft befindlich gewesene § 565 RVO aF hatte die vorhergenannten §§ 569 a und 569 b Abs. 3 und 4 RVO in einer Vorschrift zusammengefaßt. Es kann, obwohl der Gesetzestext nicht eindeutig ist, nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber hinsichtlich der hier streitigen Frage damit etwas grundsätzlich anderes bestimmen wollte. Man muß darüber hinaus auch noch bedenken, daß der Gesetzgeber in dem Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 30. April 1963 wiederum eine Regelung getroffen hat, die hinsichtlich der hier streitigen Frage zu einem grundsätzlich gleichen Ergebnis führt wie bei der ersten Regelung. Es kann also nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber nur in der Zwischenzeit vom 1. Januar 1942 bis zum 30. Juni 1963 die hier streitige Rechtsfrage grundsätzlich anders hätte regeln wollen als vorher und nachher.
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des LSG mußte demnach zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Unterschriften
Dr. Dapprich, Rauscher, Schröder
Fundstellen