Verfahrensgang

LSG für das Saarland (Urteil vom 17.04.1986)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 17. April 1986 aufgehoben.

Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin als Schwerbehinderte nach § 176c der Reichsversicherungsordnung (RVO) versicherungsberechtigt ist.

Die Klägerin (geb. 1940) war bis zur Scheidung ihrer Ehe Anfang 1976 gemäß § 205 RVO bei ihrem Ehemann mitversichert. Danach trat sie der Krankenkasse des Mannes (Betriebskrankenkasse der BASF-AG) als freiwilliges Mitglied bei und war dort bis Anfang März 1977 versichert. Die freiwillige Versicherung endete durch Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung, durch welche die Klägerin Mitglied einer Innungskrankenkasse wurde. Diese Beschäftigung gab sie aber schon nach 14 Tagen wieder auf. Danach wurde für sie eine freiwillige Versicherung nicht mehr begründet.

Von November 1977 bis September 1980 befand sich die Klägerin in dem psychiatrischen Landeskrankenhaus W. in stationärer Behandlung, nach Auskunft der Klinik wegen einer manisch-depressiven Psychose; aufgrund der ausgeprägten krankhaften Störungen sei die Klägerin in diesem Zeitraum nicht in der Lage gewesen, ihre eigenen Angelegenheiten zu besorgen. Von Ende September 1980 an wurde die stationäre Behandlung in dem Landeskrankenhaus M. fortgeführt, wo sich die Klägerin auch jetzt noch befindet.

Die Schwerbehinderteneigenschaft der Klägerin (MdE von 50 %) wurde mit Bescheid vom 27. Oktober 1983 festgestellt. Am 22. Dezember 1983 beantragte sie bei der Beklagten die Aufnahme als freiwilliges Mitglied nach § 176c RVO. Dies lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. August 1984 und Widerspruchsbescheid vom 13. Dezember 1984 ab. Zur Begründung führte sie aus, daß die Klägerin weder die erforderliche Vorversicherungszeit erfülle noch durch ihre Behinderung abgehalten gewesen sei, sie zu erfüllen; sie hätte sich nämlich nach dem Ende ihrer Erwerbstätigkeit freiwillig weiterversichern können.

Die gegen diese Bescheide erhobene Klage hatte Erfolg (Urteil des Sozialgerichts für das Saarland –SG– vom 5. August 1985). Die Berufung der Beklagten wurde zurückgewiesen (Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland –LSG– vom 17. April 1986). Das LSG hat ausgeführt: Das Gesetz fordere eine Vorversicherungszeit von drei Jahren innerhalb der letzten fünf Jahre vor dem Beitritt. Dieses Erfordernis entfalle jedoch, wenn der Behinderte diese Voraussetzungen wegen seiner Behinderung nicht habe erfüllen können. Auch insoweit komme es allein auf die letzten fünf Jahre vor dem Beitritt an. Hierzu hat das LSG festgestellt, daß die Klägerin in den letzten fünf Jahren nicht in der Lage gewesen sei, eine versicherungspflichtige Beschäftigung auszuüben, und daß in dieser Zeit auch die Voraussetzungen für einen freiwilligen Beitritt zur gesetzlichen Krankenversicherung nicht vorgelegen hätten.

Mit der Revision macht die Beklagte geltend, die Fünf-Jahres-Grenze gelte nur für die Vorversicherungszeit; dort habe sie den Zweck, einen Beitritt nur in zeitnahem Zusammenhang mit einer bisherigen Versicherung zuzulassen. Für die Frage, ob der Behinderte wegen seiner Behinderung die Vorversicherungszeit nicht erfüllen konnte, sei jedoch eine Beschränkung auf die in den letzten fünf Jahren eingetretenen Behinderungen nicht erkennbar. Es sei vielmehr generell ein Beitritt nur zugelassen, wenn allein die Behinderung der Grund dafür war, daß in den letzten fünf Jahren nicht mindestens drei Jahre lang eine Versicherung bestanden habe.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie bezieht sich im wesentlichen auf das angefochtene Urteil. Ergänzend trägt sie vor, daß bei ihr eine freiwillige Weiterversicherung im Anschluß an die letzte Beschäftigung nur deshalb nicht zustande gekommen sei, weil eine Büroangestellte ihres Arbeitgebers erklärt habe, daß eine solche nach zwei Wochen versicherungspflichtiger Beschäftigung nicht möglich sei, und sie (die Klägerin) aufgrund ihres Krankheitszustandes diese Auskunft hingenommen habe.

Beide Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–) entschieden wird.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG.

Allerdings scheitert ein Beitrittsrecht der Klägerin nach § 176c RVO entgegen der Ansicht der Beklagten nicht schon daran, daß die Klägerin im Jahre 1977, also vor den letzten fünf Jahren vor dem Beitritt zur Beklagten, eine Möglichkeit zur freiwilligen Weiterversicherung ungenutzt gelassen hat. Wie das LSG insoweit zutreffend entschieden hat, kommt es für die Frage, ob Behinderte die erforderliche Vorversicherungszeit von drei Jahren innerhalb der gesetzlichen Rahmenfrist von fünf Jahren vor dem Beitritt „wegen ihrer Behinderung nicht erfüllen konnten” und deshalb von diesem Erfordernis befreit sind, allein auf die Möglichkeiten an, die in den letzten fünf Jahren für sie gegeben waren.

Wie die Befreiung vom Erfordernis der Vorversicherungszeit im einzelnen abzugrenzen ist, läßt der Wortlaut der Vorschrift nicht erkennen; auch die Begründung für die Neufassung des § 176c RVO durch das Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz vom 22. Dezember 1981 (BGBl I, 1578) ist insoweit unergiebig (vgl. BT-Drucks 9/798, S 11 zu Art. 1 Nr. 1).

Für eine Begrenzung der Prüfung auf die letzten fünf Jahre vor dem Beitritt spricht indessen schon der enge systematische Zusammenhang zwischen der grundsätzlich geforderten Vorversicherungszeit und der im folgenden Halbsatz („… es sei denn …”) geregelten Ausnahme. Wenn für die Erfüllung der Vorversicherungszeit allein die genannte Rahmenfrist maßgebend ist, dann liegt es nahe, daß auch nur für diese Frist zu prüfen ist, ob die Behinderung eine Versicherung nicht zuließ. Die Prüfung noch weiter in die Vergangenheit zu erstrecken, hielt der Gesetzgeber offenbar nicht für angebracht, zumal es für einen bisher Nichtbehinderten in aller Regel möglich sein wird, innerhalb von fünf Jahren eine dreijährige Versicherungszeit zurückzulegen.

Zwar kann, wenn eine vor Beginn der genannten Rahmenfrist gegeben gewesene Möglichkeit zur freiwilligen Versicherung nicht genutzt wurde, schon dieses Versäumnis (und nicht erst die später eingetretene Behinderung) kausal für die Nichterfüllung der Vorversicherungszeit sein, sofern nämlich Kausalität im Sinne der strengen Bedingungslehre verstanden wird. Da im Sozialrecht aber nicht jede Bedingung des Erfolges, sondern nur eine wesentliche als Ursache im Rechtssinne gilt und in der gesetzlichen Krankenversicherung Beitrittsrechte grundsätzlich nicht dadurch ausgeschlossen werden, daß früher andere Versicherungsmöglichkeiten ungenutzt gelassen worden sind, können solche Versäumnisse grundsätzlich nicht als wesentliche Ursache für das Fehlen der Vorversicherungszeit angesehen werden. Das gilt namentlich dann, wenn sie zeitlich weit zurückliegen und deshalb in der Regel später wieder korrigierbar sind, jedenfalls mit zunehmendem zeitlichen Abstand an Bedeutung verlieren. Sofern der Gesetzgeber sie als beitrittsschädlich ansehen wollte, hat er dieses wie in § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 RVO ausdrücklich geregelt. Da eine derartige Regelung hier fehlt, behält das Beitrittsrecht nach § 176c RVO auch, wer die Vorversicherungszeit nicht erfüllt, wenn ihn seine Behinderung in den letzten fünf Jahren davon abgehalten hat, die Vorversicherungszeit durch eine Pflichtversicherung oder eine freiwillige (Weiter-)Versicherung zu erfüllen.

Bei dieser Lösung ist allerdings nicht zu verkennen, daß sie gewisse Manipulationsmöglichkeiten eröffnet; insbesondere könnten Personen, die bisher nicht versichert waren, nach Eintritt einer Behinderung mit dem Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter und ihrem Beitritt zur Kasse solange warten, bis mehr als zwei Jahre nach Eintritt der Behinderung verstrichen sind; schon dann wären sie nämlich wegen ihrer Behinderung häufig nicht mehr in der Lage, innerhalb der fünfjährigen Rahmenfrist eine Versicherungszeit von mindestens drei Jahren zurückzulegen. Solche Möglichkeiten, allein durch Zuwarten die Voraussetzungen für den Beitritt herbeizuführen, sind aber auch sonst gegeben. So könnten zB Eltern mit dem Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft warten, bis sie selbst drei Jahre versicherungspflichtig tätig waren. Diese und ähnliche Gestaltungsmöglichkeiten hat der Gesetzgeber indessen offenbar in Kauf genommen, weil er darauf vertraut hat, daß das Interesse an einer alsbaldigen Anerkennung als Schwerbehinderter Manipulationen der genannten Art weitgehend zurückdrängen wird (s. dazu auch Urteil des erkennenden Senats vom 19. Februar 1987 – 12 RK 37/84 –).

Sollte er sich in diesen Erwartungen getäuscht haben, kann es nicht Aufgabe der Gerichte sein, insoweit Abhilfe zu schaffen. Dies muß dann vielmehr dem Gesetzgeber selbst überlassen bleiben. Im übrigen sind die erheblichen verwaltungsmäßigen Schwierigkeiten zu bedenken, die sich ergeben würden, wenn nicht nur für die letzten fünf Jahre vor dem Beitritt, sondern, wie die Beklagte meint, auch für weiter zurückliegende Zeiten die uU nur noch schwer zu klärende Frage beantwortet werden müßte, ob irgendwann einmal für den Beitrittswilligen eine Möglichkeit zur Versicherung bestanden hat.

Obwohl es hiernach bei Anwendung des § 176c RVO auch im Falle einer behinderungsbedingten Nichterfüllung der Vorversicherungszeit allein auf die letzten fünf Jahre vor dem Beitritt ankommt, konnte der Senat den Rechtsstreit nicht abschließend entscheiden. Das LSG hat zwar festgestellt, daß die Klägerin in dieser Zeit nicht versicherungspflichtig beschäftigt war und auch keine solche Beschäftigung aufnehmen konnte. Es hat dabei jedoch nur eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt berücksichtigt und Möglichkeiten einer Beschäftigung nach dem Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter (SVBG) vom 7. Mai 1975 (BGBl I, 1061) nicht geprüft. Gerade diese sind es aber, die sich für schwer behinderte Personen wie die Klägerin in erster Linie oder allein anbieten.

So wäre zunächst zu prüfen gewesen, ob die Tätigkeiten, die die Klägerin während ihres Aufenthaltes in verschiedenen Landeskrankenhäusern verrichtet hat, den Voraussetzungen des § 2 SVBG entsprachen. Diese Prüfung war nicht deshalb entbehrlich, weil Beiträge für sie offenbar nicht entrichtet worden sind; denn eine Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung setzt die Entrichtung von Beiträgen nicht voraus; die Versicherung entsteht vielmehr kraft Gesetzes mit der Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung (§ 306 RVO). Weder dem SVBG noch dem § 176c RVO ist zu entnehmen, daß darin abweichend von den allgemeinen Grundsätzen des Krankenversicherungsrechts als weitere Voraussetzung der Versicherung die Entrichtung von Beiträgen gefordert wird (s. § 3 Abs. 1 SVBG).

Sollte sich im Falle der Klägerin ergeben, daß ihre Tätigkeiten in den Landeskrankenhäusern nicht oder nicht in ausreichendem Umfang versichert waren, dann ist außerdem noch zu fragen, ob für sie wenigstens die Möglichkeit bestanden hätte, im Rahmen der §§ 1 und 2 SVBG versicherungspflichtig tätig zu werden. Nur wenn auch dies zu verneinen wäre, wäre die Klägerin durch ihre Behinderung an der Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung gehindert gewesen.

Das LSG wird also noch prüfen müssen, welche Beschäftigungsmöglichkeiten für die Klägerin in den letzten fünf Jahren vor ihrem Beitritt bestanden und ob sie während dieser Zeit in den betreffenden Landeskrankenhäusern oder in sonstigen Einrichtungen oder in Werkstätten für Behinderte beschäftigt werden konnte. Sollte eine solche Beschäftigung nur aus Mangel an geeigneten Plätzen gescheitert sein, so wäre auch dies wegen der allgemein beschränkten Beschäftigungsmöglichkeiten für Behinderte ein Hindernis, das auf die Behinderung zurückzuführen wäre. Nicht beitrittsberechtigt wäre die Klägerin hingegen, wenn sie nach ihrem Gesundheitszustand eine nach §§ 1 und 2 SVBG versicherungspflichtige Tätigkeit hätte ausüben können, jedoch insoweit keine ausreichenden Bemühungen unternommen wurden.

Um die hiernach zu einer abschließenden Entscheidung noch erforderlichen Tatsachen aufzuklären, war die Sache an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI738423

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