Leitsatz (redaktionell)
Ein Prozeßbevollmächtigter ist von der Ausübung des Richteramtes in dem die gleiche Sache betreffenden Verfahren vor dem LSG ausgeschlossen, auch wenn er in dem Verfahren vor dem SG selbst nicht tätig geworden und nicht aufgetreten ist. Ist die Vollmacht für mehrere Vertreter erteilt, so begründet sie die Ausschließung für jeden von ihnen ohne Rücksicht darauf, ob er tätig geworden ist oder nicht.
Die fehlerhafte Besetzung des LSG kann in jedem Falle noch im Revisionsverfahren gerügt werden.
Normenkette
SGG § 60 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 41 Nr. 4
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 16. November 1962 wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger erhielt durch Bescheid vom 13. Oktober 1954 für Schädigungsfolgen im Sinne der Verschlimmerung Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v. H. Am 5. August 1955 wurde Rechtsanwalt S-D vom Amtsgericht Charlottenburg zum Gebrechlichkeitspfleger des Klägers für die Wahrnehmung seiner Vermögensangelegenheiten bestellt. Im Verfahren vor dem Sozialgericht (SG), mit dem der Kläger die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen und die Zahlung einer höheren Rente bezweckte, hatte der Kläger zuerst Vertretern des Verbandes der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands, Berlin, dann Rechtsanwalt K und zuletzt am 29. Juni 1957 dem Bundesvorsitzenden R und dem Sozialreferenten F vom Bund hirnverletzter Kriegs- und Arbeitsopfer e. V., Berlin, Prozeßvollmacht erteilt. Da die Gebrechlichkeitspflegschaft inzwischen durch Verfügung des Amtsgerichts Charlottenburg vom 15. Februar 1956 aufgehoben worden war, wurde auf Veranlassung des SG (vgl. Schreiben an das Bezirksamt Wilmersdorf - Gesundheitsamt - vom 17. Mai 1960) und auf Antrag des Gesundheitsamtes durch Urkunde des Amtsgerichts Charlottenburg vom 20. Juli 1960 Rechtsanwalt Dr. G für die Wahrnehmung der Interessen des Klägers im Rechtsstreit gegen das Landesversorgungsamt zum Pfleger bestellt, der mit Schriftsatz vom 4. August 1960 unter Vorlage der Bestallungsurkunde die bisherigen Anträge wiederholte. Mit Schriftsatz vom 25. April 1961 teilte der Vorstand des Bundes hirnverletzter Kriegs- und Arbeitsopfer dem SG mit, daß Rechtsanwalt Dr. G die weitere Bevollmächtigung abgelehnt habe und die vom Kläger erteilte Vollmacht daher "gegenstandslos" geworden sei. Das SG wies die Klage durch Urteil vom 27. April 1961 ab.
Gegen dieses Urteil legte Rechtsanwalt Dr. G Berufung ein. Das Landessozialgericht (LSG) entschied auf Antrag des Beklagten nach Lage der Akten (§ 126 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und wies die Berufung durch Urteil vom 16. November 1962 zurück. Es lehnte die Anerkennung weiterer Gesundheitsstörungen ab, weil die vom Kläger behaupteten schädigenden Vorgänge im Wehrdienst nicht festgestellt werden könnten und weil auch die Gesundheitsstörungen mit schädigenden Einwirkungen des Wehrdienstes nicht in Zusammenhang stünden. An der Sitzung, in der über die Berufung des Klägers entschieden wurde, haben als Landessozialrichter Stadtinspektor M und Verbandsvorsitzender Heinz R als ehrenamtliche Beisitzer mitgewirkt. Das Urteil, in dem die Revision nicht zugelassen wurde, ist dem Pfleger des Klägers am 11. Dezember 1962 zugestellt worden.
Am 10. Januar 1963 hat der Kläger durch die von seinem Pfleger Rechtsanwalt Dr. G bevollmächtigten Vertreter des Blockes Deutscher Hirnbeschädigter e. V., Berlin, Revision eingelegt. Er beantragt,
in Abänderung des Urteils des LSG vom 16. November 1962 das Urteil des SG vom 27. April 1961 sowie den Bescheid des Versorgungsamts I Berlin vom 13. Oktober 1954 und den Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts Berlin vom 21. Oktober 1955 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, eine Hirnatrophie mit besonderer Bevorzugung des Stammhirns, vegetative Dysregulation und Persönlichkeitsabbau als Versorgungsleiden anzuerkennen und ihm vom 1. Juli 1951 an Versorgung nach einer MdE um 100 v. H. zu gewähren,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Berlin zurückzuverweisen.
Die Frist für die Begründung der Revision ist bis zum 11. März 1963 verlängert worden. Mit der Revisionsbegründung vom 8. März 1963, die am 9. März 1963 beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen ist, rügt der Kläger Mängel des Verfahrens des LSG (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) und Verletzung des Gesetzes bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs der geltend gemachten Gesundheitsstörungen mit Schädigungen im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Er trägt vor, das LSG habe die §§ 103, 106, 128 und andere Vorschriften des SGG verletzt. Es habe nicht geprüft, ob die MdE für die anerkannten Schädigungsfolgen unter Berücksichtigung der "Tabellenrichtsätze" oder seiner besonderen beruflichen Betroffenheit nicht mit mehr als 30 v. H. zu bewerten sei, ob die Anerkennung nicht im Sinne der Entstehung hätte ausgesprochen werden müssen und ob die Schädigung des Gehirns nicht mit den bereits anerkannten Gesundheitsstörungen in Zusammenhang stünde. Der Kläger hat ferner die nicht ordnungsgemäße Besetzung des LSG gerügt, weil an der Sitzung vom 16. November 1962 Landessozialrichter R teilgenommen habe, der in gleicher Sache im Verfahren vor dem SG als Prozeßbevollmächtigter des Klägers bestellt gewesen sei. Schließlich habe das LSG den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt, da es mit der Verhandlung begonnen habe, ohne das Erscheinen des Rechtsanwalts Dr. G abzuwarten, der, durch die Wahrnehmung eines anderen Termins abgehalten, nur etwa 14 Minuten nach dem festgesetzten Beginn erschienen sei.
Der Beklagte stellt keinen Antrag.
Die Revision ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; der Kläger rügt zu Recht einen wesentlichen Mangel des Verfahrens.
An dem Urteil des LSG vom 16. November 1962 hat Landessozialrichter Heinz R als ehrenamtlicher Besitzer mitgewirkt. Er ist von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen gewesen, weil er - wie sich aus der dem SG Berlin eingereichten Vollmacht vom 29. Juni 1957 und den unwidersprochen gebliebenen Angaben des Klägers in der Revisionsbegründung ergibt - im Verfahren vor dem SG als Prozeßbevollmächtigter des Klägers bestellt und aufzutreten berechtigt gewesen ist (§ 60 Abs. 1 SGG i. V. m. § 41 Nr. 4 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Prozeßbevollmächtigter im Sinne von § 41 Nr. 4 ZPO ist jeder, der jetzt oder früher als prozessualer Bevollmächtigter zur Vertretung befugt war. Ist die Vollmacht für mehrere Vertreter erteilt gewesen, so begründet sie die Ausschließung für jeden von ihnen ohne Rücksicht darauf, ob er tätig geworden ist oder nicht (vgl. Baumbach/Lauterbach, ZPO, 26. Aufl., Anm. 2 D zu § 41 ZPO). Die Vollmacht, die der Kläger den Herren R und F zur Wahrnehmung seiner Rechtsansprüche in seinen Versorgungsangelegenheiten vor allen Gerichten erteilt hat, hat sich auf die Tätigkeit im sozialgerichtlichen Verfahren zwischen dem Kläger und dem Beklagten erstreckt. Es kommt nicht darauf an, ob der Bevollmächtigte als solcher im Verfahren tätig geworden ist (Baumbach/Lauterbach aaO); er ist von der Ausübung des Richteramtes auch ausgeschlossen, wenn er selbst keine prozessualen Erklärungen abgegeben hat und nicht als Prozeßbevollmächtigter aufgetreten ist. Es ist für die Anwendung des § 41 Nr. 4 ZPO auch unerheblich, daß Rechtsanwalt Dr. G nach seiner Bestellung zum Gebrechlichkeitspfleger als gesetzlicher Vertreter des Klägers das sozialgerichtliche Verfahren selbst geführt und die den Herren Risse und Freigang erteilte Vollmacht widerrufen hat. Es besteht auch sonst kein Grund, die Wirksamkeit dieser Vollmacht und der darauf beruhenden Vertretungsbefugnis in Zweifel zu ziehen. Heinz R ist daher von der Ausübung des Richteramtes in dem die gleiche Sache betreffenden Verfahren vor dem LSG ausgeschlossen gewesen, auch wenn er, wie die Prozeßakten erkennen lassen, im Verfahren vor dem SG selbst nicht tätig geworden und nicht aufgetreten ist.
Der Kläger hat das Recht, diesen Mangel zu rügen, nicht etwa verloren, weil ihm oder seinem gesetzlichen Vertreter, der nach der Sitzungsniederschrift - wenn auch verspätet - ebenfalls erschienen war, nicht entgangen sein konnte, daß sich unter den Landessozialrichtern sein früherer Bevollmächtigter befand. Die fehlerhafte Besetzung des LSG kann in jedem Fall noch im Revisionsverfahren gerügt werden, da die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts zu den sogenannten unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen gehört (vgl. Baumbach/Lauterbach aaO Anm. 3 A und B zu § 295 ZPO). Wird der Mangel einer solchen Voraussetzung gerügt, so wird die Revision auch dann statthaft, wenn er schon im Berufungsverfahren hätte geltend gemacht werden können. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob dies dem gesetzlichen Vertreter des Klägers im vorliegenden Falle überhaupt möglich war; die Sitzungsniederschrift besagt nämlich, daß er verspätet erschienen ist, enthält aber darüber nichts, ob er schon erschienen war, ehe sich das Gericht zur Beratung zurückzog.
Da die Rüge der vorschriftswidrigen Besetzung des Gerichts in der gesetzlich gebotenen Form erhoben (§§ 164, 166 SGG) und gerechtfertigt ist, ist die Revision schon aus diesem Grunde statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Es brauchte nicht mehr geprüft zu werden, ob auch die weiteren Verfahrensrügen des Klägers durchgreifen und ob die Revision auch nach § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG statthaft ist. Die Revision ist auch begründet. Die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts gehört zu den sogenannten absoluten Revisionsgründen im Sinne von § 551 ZPO, die auch im sozialgerichtlichen Verfahren zu beachten sind (§ 202 SGG; BSG 5, 176 ff). Sie begründen eine unwiderlegbare Vermutung dafür, daß das angefochtene Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruht. Das Urteil des LSG war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Fundstellen