Entscheidungsstichwort (Thema)
Ernährereigenschaft des verstorbenen Sohnes. Unterhaltspflicht anderer Kinder
Leitsatz (redaktionell)
1. Ernährer ist auch, wer seine Eltern längere Zeit regelmäßig unterstützt. Um die Leistungsfähigkeit des verstorbenen Sohnes zu prüfen, muß festgestellt werden, wie die Einkommensverhältnisse in den Berufen sind, die für ihn voraussichtlich in Betracht gekommen wären.
2. Bei Vorhandensein anderer, noch lebender Kinder sind deren Einkommensverhältnisse, ihre etwaigen Unterhaltszahlungen und ihr persönliches Verhältnis zu den Eltern zu ermitteln.
Normenkette
BVG § 50 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. Oktober 1956 wird aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Klägerin beantragte am 5. Mai 1951 Elternrente mit der Begründung, ihr Sohn Paul, der am 23. September 1923 geboren und am 26. Juli 1943 gefallen ist, wäre, wenn er heimgekehrt wäre, ihr Ernährer geworden. Von ihrem Ehemann lebt die Klägerin seit 1936 getrennt, sie erhält nach ihren Angaben von ihm seit Kriegsende keinen Unterhalt. Die Klägerin hat noch einen Sohn und eine Tochter. Der im Jahre 1926 geborene Sohn Günther kehrte im Jahre 1947 aus der Kriegsgefangenschaft zurück, heiratete nach Abschluß seines Chemiestudiums im Jahre 1955 und lebt jetzt in den USA; die im Jahre 1927 geborene Tochter Irene ist Postangestellte, sie trug bisher zum Unterhalt der Klägerin - in deren Haushalt sie bis jetzt lebte - regelmäßig bei. Das Versorgungsamt Heidelberg lehnte den Antrag der Klägerin durch Bescheid vom 20. Juni 1953 ab, weil nicht anzunehmen sei, daß der gefallene Sohn Paul der Ernährer der Klägerin geworden wäre, er hätte wahrscheinlich wie sein Bruder studiert und hätte deshalb die Klägerin nicht unterstützen können, außerdem sei in erster Linie der Ehemann der Klägerin unterhaltspflichtig. Die Klägerin legte Berufung beim Oberversicherungsamt Karlsruhe ein; die Berufung ging am 1. Januar 1954 als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Mannheim über. Das SG. wies die Klage durch Urteil vom 26. Mai 1954 ab. Die Berufung wies das Landessozialgericht (LSG.) Baden-Württemberg durch Urteil vom 23. Oktober 1956 zurück: Der Sohn Paul sei bis zu seiner Einberufung nicht der Ernährer der Klägerin gewesen, es sei aber auch nicht wahrscheinlich, daß er der Ernährer geworden wäre; er hätte wahrscheinlich einen praktischen Beruf ergriffen, daraus ergebe sich aber nicht, daß er als Ernährer der Klägerin angesehen werden müsse; als Ernährer könne vielmehr nur angesehen werden, wer annähernd die Hälfte des Lebensunterhalts seiner Eltern bestreite; in diesem Umfange hätte der Sohn Paul seine Mutter nicht unterstützen können; dies sei auch dann nicht wahrscheinlich, wenn man im Gegensatz zum SG. zum Vergleich nicht in erster Linie das Verhalten des Sohnes Günther berücksichtige, der zum Unterhalt der Klägerin bisher offenbar kaum etwas beigesteuert und nach Abschluß seiner langen Berufsausbildung sofort geheiratet habe und ausgewandert sei, sondern auch das Verhalten der Tochter Irene berücksichtige; diese führe mit der Klägerin einen gemeinsamen Haushalt, sie habe bisher dessen gemeinsame Ausgaben mit ihrem verhältnismäßig bescheidenen Einkommen als Postangestellte bestritten; es sei anzunehmen, daß auch Paul, wenn er heimgekehrt wäre, alsbald geheiratet und in erster Linie für seine eigene Familie zu sorgen gehabt hätte; selbst wenn er aber für einige Jahre etwa die Hälfte des Lebensunterhalts der Klägerin bestritten hätte und man weiter annehme, daß seine Geschwister für die andere Hälfte aufgekommen wären, so würde dies nicht ausreichen, um ihn als Ernährer ansehen zu können; dazu sei eine langandauernde "Unterhaltsbereitschaft und Unterhaltsfähigkeit" erforderlich. Die Revision ließ das LSG. zu. Das Urteil wurde am 3. Dezember 1956 durch eingeschriebenen Brief an die Klägerin abgesandt. Am 27. Dezember 1956 legte sie Revision ein und beantragte,
das Urteil des LSG. Baden-Württemberg vom 23. Oktober 1956 und das Urteil des SG. Mannheim vom 26. Mai 1954 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr Elternrente zu gewähren.
Zugleich begründete sie die Revision: Die Annahme des LSG., daß die Ernährereigenschaft "Unterhaltsfähigkeit und Unterhaltswilligkeit" für die Dauer voraussetze, finde im Gesetz keine Stütze; es genüge vielmehr, daß der zum Unterhalt verpflichtete Sohn überhaupt eine gewisse, nicht ganz unerhebliche Zeit zum Unterhalt in Höhe eines Betrages, der etwa der Hälfte des gesamten, für den Unterhalt verfügbaren Einkommens entspreche, beigetragen hätte oder beizutragen verpflichtet gewesen wäre; dies sei bei dem Sohn Paul zu unterstellen, denn er hätte als Facharbeiter einen ausreichenden Lohn erzielt; das LSG. habe somit den § 50 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) unrichtig angewandt; es habe aber auch seine Pflicht, den Sachverhalt zu erforschen (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), verletzt; das LSG. habe aufklären müssen, in welchem Umfange der Sohn Günther seit seiner Verheiratung und Auswanderung zum Unterhalt der Klägerin beitrage; es sei nicht richtig, daß er zum Unterhalt seiner Mutter nichts beitrage, vielmehr habe er trotz seiner Verheiratung und Auswanderung die Klägerin laufend mit monatlich durchschnittlich 188,- DM unterstützt; das LSG. sei bei seiner Entscheidung insoweit von einer unrichtigen Annahme ausgegangen.
Der Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist statthaft, denn das LSG. hat sie in dem Urteil zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). An die Zulassung der Revision durch das LSG. ist das Bundessozialgericht (BSG.) gebunden (BSG. 2 S. 81 [83]; BSG. Urteil vom 20.2.1957, SozR. Nr. 19 zu § 150 S≪!X!≫G). Zwar hat das LSG. die Revision zugelassen, weil "ihm die Rechtsfrage, ob und gegebenenfalls in welchem Maße die Ernährereigenschaft eine anhaltende Dauer der Unterhaltsfähigkeit und -willigkeit voraussetzt, von grundsätzlicher Bedeutung zu sein schien", es hat aber zu dieser Frage keinen bestimmten Standpunkt eingenommen und seiner Entscheidung zugrunde gelegt; es hat nämlich die Ansprüche der Klägerin deshalb für unbegründet gehalten, weil nach seiner Meinung der Sohn Paul, wenn er heimgekehrt wäre, überhaupt nicht in nennenswertem Umfange zum Unterhalt der Klägerin hätte beitragen können; trotzdem kann nicht gesagt werden, es liege hier ein Fall vor, in dem die Revision "offensichtlich und auf den ersten Blick erkennbar" (vgl. Urteil des BAG. vom 28.3.1958, NJW. 1958 S. 1014) entgegen dem Gesetz zugelassen worden sei; die Zulassung ist deshalb für das BSG. bindend.
Die hiernach statthafte Revision ist frist- und formgerecht eingelegt und damit zulässig; sie ist auch begründet.
Nach § 50 Abs. 1 BVG wird für die Dauer der Bedürftigkeit Elternrente gewährt, wenn der Verstorbene der Ernährer seiner Eltern gewesen ist oder geworden wäre. Unstreitig ist der Sohn Paul vor seiner Einberufung nicht der Ernährer der Klägerin gewesen. Die Entscheidung, ob ein Sohn der Ernährer seiner Eltern geworden wäre, hängt davon ab, in welchem Umfange er zum Lebensunterhalt der Eltern im Verhältnis zu deren sonstigen Einkünften hätte beitragen können und müssen. Dabei sind die Lebensverhältnisse des Sohnes, wie sie sich im Falle seiner Rückkehr vermutlich gestaltet hätten, und die Lebensverhältnisse der Eltern, wie sie sich tatsächlich ergeben haben, gegeneinander abzuwägen. Zur Anerkennung der Ernährereigenschaft genügt es nicht, daß der Verstorbene zu den Mitteln, die den Eltern aus anderen Quellen zur Verfügung stehen, nur das beigesteuert hätte, was zum angemessenen Lebensunterhalt noch gefehlt hätte; entscheidend ist vielmehr, ob sein Unterhaltsbeitrag wertmäßig jedenfalls annähernd an die Höhe des zum Lebensunterhalt sonst zur Verfügung stehenden Einkommens heranreichte (BSG. 2 S. 94 [98]). "Einkommen" der Eltern sind auch die Leistungen, die ihnen auf Grund und im Rahmen der Unterhaltspflicht anderer Kinder zufließen. Ernährer ist auch, wer seine Eltern längere Zeit regelmäßig unterstützt (vgl. auch VV Nr. 1 Abs. 2 zu § 50 BVG).
Das LSG. hat festgestellt, daß der Sohn Paul wahrscheinlich nicht wie der Sohn Günther studiert, sondern einen praktischen Beruf ergriffen hätte. Diese Feststellung ist von der Revision nicht angegriffen worden; sie ist daher für das BSG. bindend (§ 163 SGG). Dagegen ist die Feststellung des LSG., Paul würde nur ein durchschnittliches Einkommen haben, außerdem hätte er, da er wahrscheinlich wie Günther alsbald nach der Berufsausbildung eine eigene Familie gegründet hätte, nicht längere Zeit etwa die Hälfte des Lebensunterhalts der Klägerin bestreiten können, nicht in verfahrensrechtlich einwandfreier Weise zustandegekommen. Das LSG. hätte feststellen müssen, wie die Einkommensverhältnisse in den Berufen sind, die für den Sohn Paul, wenn er heimgekehrt wäre, voraussichtlich in Betracht gekommen wären. Ohne eine selche Feststellung hat das LSG. nicht zu dem Ergebnis kommen können, das Einkommen des Sohnes Paul entspräche etwa dem Einkommen der Tochter Irene, welche Postangestellte ist. Sodann hat das LSG. bei der Beurteilung des Verhaltens der Geschwister des Verstorbenen gegenüber der Mutter - aus dem Verhalten der Geschwister kann unter Umständen gefolgert werden, wie der Verstorbene sich verhalten hätte (vgl. VV Nr. 2 Abs. 3 zu § 50 BVG; auch BSG. 2 S. 94 [99]) - Feststellungen darüber treffen müssen, wie sich der Sohn Günther tatsächlich verhalten hat. Es hätte dabei auch das persönliche Verhältnis zwischen der Mutter und ihren Kindern würdigen müssen. Das LSG. hat zwar festgestellt, daß Irene ihre Mutter unterstützt. Über die Einkommensverhältnisse des Sohnes Günther und über sein Verhalten gegenüber der Klägerin hat es dagegen überhaupt nichts ermittelt; es hat ausgeführt, Günther habe "zum Unterhalt der Klägerin bisher offenbar kaum etwas beigesteuert"; es ist jedoch nicht ersichtlich, wie das LSG. zu dieser Annahme gekommen ist. Aus den Akten ergibt sich hierüber nichts. Die Tatsache allein, daß der Sohn Günther verheiratet ist und in den USA lebt, hat das LSG. nicht berechtigt, zu unterstellen, daß Günther seine Mutter nicht unterstützt. Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, daß - wie in der Revision vorgetragen wird - der Sohn Paul, sobald er dazu in der Lage gewesen wäre, die Hälfte des Unterhalts der Klägerin an Stelle der Tochter Irene übernommen hätte. Bas LSG. hat sich auch mit der Frage befassen müssen, ob nicht aus der Tatsache, daß der Sohn Günther infolge seines Studiums bis zum Jahre 1955 zum Unterhalt der Klägerin nicht hat beitragen können, zu folgern ist, daß jedenfalls in dieser Zeit der Sohn Paul, ebenso wie seine Schwester Irene, zum Unterhalt der Klägerin wesentlich beigetragen hätte. Wenn die Tochter Irene in dieser Zeit deshalb, weil Paul nicht mehr lebte und Günther studierte, den gesamten Unterhalt der Klägerin bestritten hat, so kann daraus allein nicht gefolgert werden, daß Paul, falls er gelebt hätte, nicht etwa die Hälfte des Unterhalts der Klägerin bestritten hätte. Es kann auch darauf ankommen, ob es richtig ist, daß die Tochter Irene vor der Heirat steht und ob dies für ihre Unterhaltspflicht und ihre Unterhaltsleistungen an die Klägerin schon in der Vergangenheit oder erst für die Zukunft erheblich ist. Das LSG. hat unter diesen Umständen seiner Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 103 SGG) nicht genügt.
Das Urteil beruht auf diesem Mangel des Verfahrens, denn es ist möglich, daß das LSG. bei richtiger Anwendung der verfahrensrechtlichen Vorschriften zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre (BSG. 2 S. 197 [201]). Das Urteil ist daher aufzuheben. Der Senat kann nicht selbst entscheiden, da hierzu noch tatsächliche Feststellungen erforderlich sind. Die Sache ist deshalb zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Falls das LSG. dazu käme, die Ernährereigenschaft des Sohnes Paul zu bejahen, würde es weiter zu prüfen haben, ob sie Klägerin einen durchsetzbaren Anspruch auf Unterhalt gegen ihren Ehemann und gegen ihre Kinder Günther und Irene hat und wie sich dies auf die Frage auswirkt, ob die Klägerin bedürftig ist (vgl. zu § 50 Abs. 1 BVG auch das Urteil des BSG. vom 11.2.1958, 10 RV 81/56, KOV 1958 S. 197, und zu der rechtsähnlichen Vorschrift des § 593 RVO das Urteil des BSG. vom 21.10.1958, 2 RU 75/56).
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen