Leitsatz (amtlich)
Die Frage, ob die Berufung, die ein Beteiligter vor dem Inkrafttreten des 2. ÄnderG SGG eingelegt hat, statthaft ist, ist nach den Vorschriften der SGG §§ 145 ff (Fassung: 1953-09-03) zu beurteilen (Fortführung BSG 1958-09-04 11/9 RV 1144/55 = BSGE 8, 135).
Leitsatz (redaktionell)
1. Hat der Kläger im Verfahren vor dem SG Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um "mindestens 50 vH" begehrt und ist ihm Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 40 vH zugesprochen worden, so "betrifft" das Urteil einen Streit um den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit, von dem die Schwerbeschädigteneigenschaft abhängt, die nach BVG § 29 Abs 2 zu beurteilen ist.
Betrifft das Urteil des SG die Schwerbeschädigteneigenschaft, so ist die Berufung nach SGG § 148 Nr 3 (Fassung: 1953-09-03) auch dann nicht ausgeschlossen, wenn die Schwerbeschädigteneigenschaft im Berufungsverfahren nicht mehr streitig ist, weil der Kläger den Klageantrag in seinem ursprünglichen Umfange nicht mehr verfolgt und der Beklagte mit seiner Berufung nur die Herabsetzung der vom SG zugesprochenen Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 40 vH auf eine solche nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 vH anstrebt.
2. Die Auslegung der SGG §§ 145 ff (Fassung: 1953-09-03) durch das BSG in ständiger Rechtsprechung dahin, daß die Statthaftigkeit der Berufung nicht von dem Gegenstand des Berufungsverfahrens, sondern von dem Inhalt des erstinstanzlichen Urteils abhängt, wird durch das 2. ÄndG SGG (Fassung: 1958--06-25) (BGBl 1, 1958, 409) nicht in Frage gestellt.
Das 2. ÄndG SGG ist nicht als authentische Interpretation für die künftige Anwendung der Vorschriften in ihrer ursprünglichen Fassung zu werten; es hat nur die Neuregelung für künftige Berufungsfälle herbeigeführt und die weitere Anwendung der früheren Vorschriften auf "Altfälle" nicht ausschließen wollen.
Bei einer vor dem 1958-07-01 eingelegten Berufung ändert eine Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückweisung der Sache an das LSG nach dem 1958-07-01 nichts daran, daß hier über eine "alte" Berufung zu entscheiden ist.
Normenkette
SGG § 149 Fassung: 1953-09-03, § 144 Fassung: 1953-09-03, § 147 Fassung: 1953-09-03, § 148 Fassung: 1953-09-03, § 145 Fassung: 1953-09-03, § 146 Fassung: 1953-09-03; SGGÄndG 2
Tenor
Das Urteil des Landessozialgericht Berlin vom 14. August 1956 wird aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger beantragte im August 1950, ihm wegen der Folgen eines Unfalls, den er in der Kriegsgefangenschaft erlitten hat, Versorgung zu gewähren. Die Versorgungsbehörden in Berlin erkannten "Kompressionsfraktur des 11. und 12. Brustwirbelkörpers" als Schädigungsfolge im Sinne der versorgungsrechtlichen Vorschriften an, die Gewährung einer Rente lehnten sie ab, weil die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) des Klägers unter 25 v.H. liege (Bescheid des Versorgungsamts III Berlin vom 17.11.1951 und Einspruchsentscheidung des Landesversorgungsamts Berlin vom 20.3.1953). Vor dem Sozialgericht (SG.) beantragte der Kläger, die Verwaltungsentscheidungen zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, ihm eine Versorgungsrente nach einer MdE. von mindestens 50 v.H. zu gewähren. Der Beklagte, der dem Kläger "zunächst im Wege des Vergleichs" eine Rente nach einer MdE. von 30 v.H. zugesagt hatte, beantragte, die Klage, soweit der Kläger über das Vergleichsangebot hinausgehende Ansprüche stellte, abzuweisen. Das SG. Berlin änderte die Bescheide der Versorgungsbehörden ab und verurteilte den Beklagten, dem Kläger ab 1. Juli 1950 eine Rente nach einer MdE. von 40 v.H. zu gewähren. Der Beklagte legte Berufung beim Landessozialgericht (LSG.) Berlin ein und beantragte, das Urteil des SG. aufzuheben und die Klage insoweit abzuweisen, als der Kläger eine höhere Rente als nach einer MdE. von 30 v.H. begehre. Der Kläger beantragte, die Berufung als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, sie als unbegründet zurückzuweisen; er legte ferner durch eine in der mündlichen Verhandlung des LSG. vom 14. August 1956 überreichte Schrift Anschlußberufung ein mit dem Antrag, den Beklagten zu verurteilen, ihm eine Rente nach einer MdE. von 60 v.H. zu gewähren und als weiteres Leiden "die richtunggebende Verschlimmerung der Wirbelkörperfraktur - Scheuermann'sche Erkrankung -" anzuerkennen. Der Beklagte beantragte, die Anschlußberufung zurückzuweisen.
Das LSG. verwarf durch Urteil vom 14. August 1956 die Berufung des Beklagten und die Anschlußberufung des Klägers als unzulässig: Die Berufung sei nach. § 148 Ziff. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen; die Schwerbeschädigteneigenschaft sei nicht mehr streitig, wenn nur der Beklagte mit der Berufung die Herabsetzung der zugesprochenen Rente nach einer MdE. von 40 v.H. auf eine Rente nach einer MdE. von 30 v.H. anstrebe. Die unselbständige Anschlußberufung des Klägers sei damit nach §§ 202 SGG, 522 der Zivilprozeßordnung (ZPO) wirkungslos.
Die Revision ließ das LSG. nicht zu.
Das Urteil des LSG. wurde dem Beklagten am 31. August 1956 zugestellt. Er legte am 11. September 1956 Revision ein und beantragte,
das Urteil des LSG. Berlin vom 14. August 1956 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Er begründete die Revision am 18. September 1956: Das Urteil des LSG. leide an einem wesentlichen Verfahrensmangel; das LSG. habe die Berufung zu Unrecht als unzulässig verworfen, es hätte eine Sachentscheidung treffen müssen; ein Berufungsausschließungsgrund nach § 148 Ziff. 3 SGG habe nicht vorgelegen; das LSG. habe diese Vorschrift unrichtig angewandt.
Der Kläger beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
II
Die Voraussetzung für eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung - Einverständnis der Beteiligten (§§ 126 Abs. 2, 153, 165 SGG) - ist gegeben. Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Ziff. 2 SGG statthaft; mit Recht rügt der Beklagte, das Verfahren des LSG. leide an einem wesentlichen Mangel, weil es die Berufung als unzulässig verworfen habe, obwohl es eine Sachentscheidung hätte treffen müssen (BSG. 1, 283).
1. Die Statthaftigkeit der Berufung des Beklagten ist nach den §§ 145 ff. SGG in der Fassung vor dem Zweiten Gesetz zur Änderung des SGG vom 25. Juni 1958, BGBl. I S. 409, zu beurteilen. Dies ergibt sich daraus, daß die Prozeßhandlung, um die es hier geht (Einlegung der Berufung), beim Inkrafttreten des Zweiten Änderungsgesetzes bereits abgeschlossen gewesen und in diesem Gesetz eine Anwendung der neuen Berufungsvorschriften auf "Altfälle" nicht vorgesehen ist (vgl. Urteil des BSG. vom 4./20.9.1958 - 11/9 RV 1144/55 - mit weiteren Hinweisen). Zwar ist neues Verfahrensrecht grundsätzlich auf schwebende Verfahren anzuwenden (vgl. BSG. 1 S. 44, 264). Dies gilt aber nicht, wenn ein Beteiligter ein Rechtsmittel nach "altem" Recht wirksam eingelegt hat und die Voraussetzungen der Statthaftigkeit dieses Rechtsmittels erst später geändert worden sind. Abgeschlossene prozessuale Tatbestände werden, sofern dies nicht ausdrücklich im Gesetz bestimmt ist, durch ein neues Gesetz nicht erfaßt (vgl. auch Haueisen, NJW. 1958 S. 1067 Anm. 32; Brackmann, Zum Zweiten Gesetz zur Änderung des SGG, Wege zur Sozialversicherung, 1958, Heft 10 S. 293; Glücklich, Die Sozialgerichtsbarkeit, 1958, Heft 9 S. 289). Es trifft nicht zu, daß es hier ausnahmsweise einer ausdrücklichen Übergangsvorschrift nicht bedurft hat, weil aus dem Entlastungszweck des Änderungsgesetzes "hinreichend erkennbar" hervorgehe, daß der Gesetzgeber das Gesetz mit Wirkung vom 1. Juli 1958 auch auf alle bereits anhängigen Fälle angewendet wissen wolle (so Bayer. LSG., Die Sozialgerichtsbarkeit, 1958, Heft 9 S. 288); eine solche Absicht läßt das Änderungsgesetz nicht erkennen.
2. Nach der hier anzuwendenden Vorschrift des § 148 Ziff. 3 SGG a.F. können in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung Urteile mit der Berufung nicht angefochten werden, wenn sie den Grad der MdE. betreffen, soweit nicht die Schwerbeschädigteneigenschaft oder die Gewährung der Grundrente davon abhängt. Der Ausschluß der Berufung ist danach nicht nach dem Streitgegenstand des Berufungsverfahrens, sondern nach dem Inhalt der Entscheidung des SG. zu beurteilen (BSG. 1 S. 225 ff.; BSG. 3, S. 24, 217, 271; Urteil des BSG. vom 17.4.1958, SozR. Nr. 18 zu § 148; Urteil des BSG. vom 4./20.9.1958 - 11/9 RV 1144/55 -). Hat der Kläger - wie hier - im Verfahren vor dem SG. eine Versorgungsrente nach einer MdE. von "mindestens 50 v.H." begehrt und ist ihm eine Rente nach einer MdE. von 40 v.H. zugesprochen, so "betrifft" das Urteil einen Streit um den Grad der MdE., von dem die Schwerbeschädigteneigenschaft abhängt. Die Schwerbeschädigteneigenschaft im Sinne des § 148 Ziff. 3 SGG ist nicht nach dem Schwerbeschädigtengesetz, sondern nach § 29 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zu beurteilen (BSG. 6 S. 99). Betrifft aber das Urteil des SG. die Schwerbeschädigteneigenschaft, so ist die Berufung nach § 148 Nr. 3 SGG a.F. auch dann nicht ausgeschlossen, wenn die Schwerbeschädigteneigenschaft im Berufungsverfahren nicht mehr streitig ist, weil der Kläger den Klageantrag in seinem ursprünglichen Umfange nicht mit der Berufung verfolgt und der Beklagte mit seiner Berufung nur eine Herabsetzung der im ersten Rechtszuge zugesprochenen Rente nach einer MdE. von 40 v.H. auf eine Rente nach einer MdE. von 30 v.H. anstrebt (BSG. Urteil vom 17.4.1958, SozR. Nr. 18 zu § 148 SGG). Wenn das Bundessozialgericht (BSG.) in ständiger Rechtsprechung (s.o.) die §§ 145 ff. SGG a.F. bisher so ausgelegt hat, daß die Statthaftigkeit der Berufung nicht von dem Gegenstand des Berufungsverfahrens, sondern von dem Inhalt des erstinstanzlichen Urteils abhänge, so wird diese Auslegung durch das Änderungsgesetz vom 25. Juni 1958 nicht in Frage gestellt. Zwar ist schon zu §§ 145 ff. SGG a.F. die Auffassung vertreten worden, es komme für die Statthaftigkeit der Berufung auf den Streitgegenstand im Berufungsverfahren an (so u.a. Bettermann, NJW. 1956 S. 1176; LSG. Schleswig, Breith. 1958 S. 463); in der amtlichen Begründung zum Entwurf dieses Gesetzes (Bundestagsdrucksache 36) heißt es auch u.a., die Neufassung sei erfolgt, um es der Rechtsprechung zu ermöglichen, "dem wirklichen Willen des Gesetzgebers gerecht zu werden". Daraus darf aber nicht geschlossen werden, daß das Änderungsgesetz als authentische Interpretation für die künftige Anwendung der Vorschriften in ihrer ursprünglichen Fassung zu werten ist. Es mag sein, daß die an der Gesetzgebung beteiligten Organe bereits mit der ursprünglichen Fassung der §§ 145 ff. die Berufung so haben beschränken wollen, wie dies nunmehr durch die Neufassung geschehen ist; insoweit hat aber in der ursprünglichen Fassung des Gesetzes der Wille des Gesetzgebers keinen erkennbaren Ausdruck gefunden (vgl. hierzu besonders BSG. 3, 217 [221]).
Das Änderungsgesetz hat die Voraussetzungen für die Statthaftigkeit der Berufung geändert, es hat eine Neuregelung für künftige Berufungsfälle herbeigeführt. Aus dem Änderungsgesetz ist aber nicht zu entnehmen, daß es die weitere Anwendung der früheren Vorschriften auf die sog. "Altfälle" hat ausschließen wollen.
Da das LSG. zu Unrecht ein Prozeßurteil an Stelle des erforderlichen Sachurteils gefällt hat und somit der von dem Beklagten gerügte Verfahrensmangel vorliegt, ist die Revision nach § 162 Abs. 1 Ziff. 2 SGG statthaft.
Sie ist auch begründet; das Urteil des LSG. kann zu einem anderen Ergebnis führen, wenn in eine sachlich-rechtliche Nachprüfung eingetreten wird. Das angefochtene Urteil muß daher aufgehoben werden; die Sache ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen. Da die Berufung zulässig ist, entfällt auch die Annahme des LSG., die Anschlußberufung sei nach §§ 522 ZPO, 202 SGG wirkungslos geworden. Das LSG. hat sachlich nichts festgestellt. Der Senat hat daher nicht selbst in der Sache entscheiden können. Die Auffassung des Klägers, nach der Zurückweisung der Sache müsse das LSG. nunmehr die Berufung in Anwendung des § 148 SGG n.F. (wiederum) als unzulässig verwerfen, geht fehl. Die Zurückverweisung ändert nichts daran, daß hier über eine "alte" Berufung zu entscheiden ist; das LSG. ist im übrigen an die Rechtsauffassung des BSG., nach der die Berufung statthaft ist, gebunden (§ 170 Abs. 4 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen