Leitsatz (amtlich)
Ein in den Haushalt der versicherten Großmutter aufgenommenes Kind ist während eines Krankenhausaufenthalts der Großmutter und eines Lungenheilstättenaufenthalts des Kindes bis zum Tode der Großmutter weiter als in deren Haushalt aufgenommen anzusehen, selbst wenn die Mutter des Kindes wegen des zu erwartenden Todes der Großmutter die Übernahme des Kindes in ihren eigenen Haushalt nach dessen Entlassung aus der Lungenheilstätte beabsichtigt und für diesen Fall bereits Vorbereitungen trifft.
Normenkette
RVO § 1262 Abs. 2 Nr. 8 Fassung: 1964-04-14, § 1267 Fassung: 1964-08-17; BKGG § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 7 Fassung: 1964-04-14
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig-Holstein vom 22. Oktober 1969 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten der Revisionsinstanz zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem minderjährigen Kläger die Waisenrente aus der Versicherung seiner Großmutter zusteht.
Der Kläger ist am 24. Dezember 1960 geboren. Seine unverheiratete Mutter wohnte mit ihm bis September 1961 zeitweilig im Haushalt der versicherten Großmutter, Frau G St. Seitdem hat die Mutter des Klägers eine eigene Wohnung, während der Kläger im Haushalt der Versicherten verblieb, wo er von dieser versorgt wurde. Am 18. Februar 1964 wurde der Versicherten die Erlaubnis zur Aufnahme des Klägers als Pflegekind erteilt. Im Frühjahr 1965 wurde die Versicherte wegen eines später zum Tode führenden Leidens einige Wochen im Krankenhaus stationär behandelt. Während dieser Zeit wurde der Kläger im Haushalt der Versicherten von seiner Mutter versorgt. Am 11. August 1965 wurde der Kläger zur stationären Behandlung in eine Lungenheilstätte eingewiesen. Kurz danach - im August oder September 1965 - wurde die Versicherte erneut zur stationären Behandlung im Krankenhaus aufgenommen. Da nach der Art der Erkrankung ihr Tod in absehbarer Zeit vorauszusehen war, beabsichtigte die Mutter des Klägers, ihn nach der Entlassung aus der Lungenheilstätte zu sich zu nehmen. Zu diesem Zwecke mietete sie zum 1. November 1965 ein neben ihrer Wohnung gelegenes Zimmer hinzu und meldete den Kläger an diesem Tage dorthin um. Die Versicherte starb während des Krankenhausaufenthaltes am 26. November 1965. Der Kläger wurde am 30. April 1966 aus der Lungenheilstätte in den Haushalt seiner Mutter entlassen.
Der Kläger beantragte am 21. Februar 1966 die Gewährung der Waisenrente aus der Versicherung der Versicherten. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 14. November 1966 ab, weil die häusliche Bindung zwischen der Versicherten und dem Kläger vor Eintritt des Versicherungsfalles gelöst worden sei.
Das mit der Klage angerufene Sozialgericht (SG) hat die Beklagte am 25. November 1968 verurteilt, dem Kläger Waisenrente aus der Versicherung seiner Großmutter vom 1. November 1965 an zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat nach Beweiserhebung mit Urteil vom 22. Oktober 1969 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Zugehörigkeit des Klägers zum Haushalt der Großmutter sei weder durch die stationäre Behandlung des Klägers noch durch den Krankenhausaufenthalt der Großmutter gelöst worden. Auch das Hinzumieten eines weiteren Zimmers und die Ummeldung des Klägers durch seine Mutter hätten dessen Zugehörigkeit zum Haushalt der Großmutter nicht verändert, denn beide Maßnahmen seien nur vorsorglich getroffen worden und auf den vorauszusehenden Fall des Todes der Großmutter und der Entlassung des Klägers aus der Lungenheilstätte ausgerichtet gewesen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. Sie ist der Ansicht, in den Beziehungen zwischen der Großmutter und dem Kläger sei mit der Erkrankung der Großmutter am 13. April 1965 eine einschneidende Änderung eingetreten. Seit diesem Zeitpunkt habe die Großmutter den Kläger nicht mehr betreuen können. Zwar habe der Kläger auch weiterhin in den Räumen der Großmutter gewohnt, jedoch mit der leiblichen Mutter zusammen. Die bloße räumliche Verbindung mit dem Haushalt der Großmutter genüge nicht, um das Tatbestandsmerkmal der "Aufnahme in den Haushalt" zu erfüllen. Im übrigen sei aber spätestens Anfang November eine Lösung des Klägers vom Haushalt der Großmutter eingetreten. Zwar sei ein vorübergehender Krankenhausaufenthalt unbeachtlich. Hier sei aber der auf die Auflösung der häuslichen Gemeinschaft gerichtete Wille der Beteiligten von Bedeutung, der durch das Hinzumieten eines Zimmers und die Ummeldung des Klägers objektiviert worden sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 22. Oktober 1969 und das Urteil des SG Lübeck vom 25. November 1968 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet. Durch die Zurückweisung der Berufung hat das LSG zutreffend die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung der Waisenrente bestätigt.
Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf die Waisenrente aus der Versicherung seiner Großmutter ist nach § 1267 in Verbindung mit § 1262 Abs. 2 Nr. 8 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) begründet, denn der Kläger gilt nach diesen Vorschriften als Kind der Versicherten. Nach den von der Beklagten mit der Revision nicht angegriffenen Tatsachenfeststellungen des LSG, an die der Senat nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebunden ist, muß davon ausgegangen werden, daß die Versicherte den Kläger spätestens dadurch in ihren Haushalt aufgenommen hat, daß sie den Kläger auch nach dem Wegzug ihrer Tochter in ihrer Wohnung behielt und dort versorgte. Nun genügt allerdings die einmal vollzogene Aufnahme in den Haushalt nicht, um den Anspruch auf Waisenrente zu begründen. Vielmehr muß der einmal hergestellte Zustand bis zum Eintritt des Versicherungsfalles fortbestanden haben. Ähnlich wie bei § 1265 RVO muß es sich um den letzten Dauerzustand gehandelt haben (vgl. SozR Nr. 22 zu § 1265 RVO). Ist die Aufnahme in den Haushalt vor Eintritt des Versicherungsfalles dauernd beendet worden, so besteht ein Anspruch auf die Waisenrente nicht. Die Waisenrente soll nur etwas ersetzen, was durch den Tod des Versicherten weggefallen ist, nämlich entweder den Unterhalt oder die Fürsorge durch den Versicherten. Ist aber beides im Zeitpunkt des Todes des Versicherten nicht mehr geleistet worden, besteht auch kein Bedürfnis für einen Ausgleich durch die Waisenrente. Wenn es danach also auch auf den Zustand im Zeitpunkt des Todes des Versicherten ankommt, so darf die entscheidende Zeit doch nicht zu eng begrenzt werden. Bloß vorübergehende Änderungen eines früher bestehenden Dauerzustandes müssen unberücksichtigt bleiben.
Im Gegensatz zu der Meinung der Beklagten kann nicht schon der erste Krankenhausaufenthalt der Großmutter im Frühjahr 1965 die Aufnahme des Klägers in ihren Haushalt beendet haben. Zwar ist der Kläger während dieser Zeit nicht von der Versicherten, sondern von seiner Mutter versorgt worden. Der Beklagten ist zuzugeben, daß für das Tatbestandsmerkmal der "Aufnahme in den Haushalt" das rein räumliche Zusammenleben nicht genügt, sondern auch die Fürsorge durch den Versicherten hinzukommen muß (vgl. BSG Bd. 29 S. 292, 293). Der Krankenhausaufenthalt ist aber seiner Natur nach etwas Vorübergehendes und daher nicht geeignet, den früher bestehenden Dauerzustand zu beenden und einen anderen Dauerzustand herzustellen (vgl. Verbands-Kommentar, 6. Aufl., Anm 10 zu § 1288 RVO und die dort zitierte Literatur). Daß es sich trotz der Schwere des Leidens um einen nur vorübergehenden Zustand gehandelt hat, geht auch daraus hervor, daß die Mutter des Klägers weder den Kläger zu sich genommen noch ihren Haushalt aufgegeben hat. Das zeigt, daß während des ersten Krankenhausaufenthalts der Versicherten das natürliche Verhältnis zwischen Mutter und Kind weder vollständig noch für die Dauer hergestellt und daher auch die Aufnahme in den Haushalt der Versicherten nicht beendet worden ist.
Die Beklagte trägt zwar vor, die Mutter des Klägers habe diesen auch über den ersten Krankenhausaufenthalt der Versicherten hinaus bis zu deren Tod versorgt. Nach den mit einer förmlichen Rüge nicht angegriffenen Tatsachenfeststellungen des LSG ist das aber nicht der Fall. Das LSG hat vielmehr ausdrücklich festgestellt, der Kläger sei im allgemeinen von seiner Großmutter, und nur in der Zeit deren ersten stationären Aufenthalts - im Frühjahr 1965 - von seiner Mutter betreut worden.
Ebensowenig wie der erste Krankenhausaufenthalt der Versicherten hat die Einweisung des Klägers in die Lungenheilstätte seine Aufnahme in den Haushalt der Versicherten beendet. Zwar entfiel während dieser Zeit nicht nur die Betreuung durch seine Großmutter, sondern auch die räumliche Verbindung zu deren Haushalt. Die vorübergehende Natur der Behandlung in der Lungenheilstätte verbietet es aber, eine Beendigung des vorher bestehenden Zustandes der Aufnahme in den Haushalt der Großmutter anzunehmen. Das gilt auch für deren zweiten Krankenhausaufenthalt. Zwar hat es möglicherweise schon bei Beginn dieser stationären Behandlung festgestanden, daß sie in der Zukunft nicht mehr in der Lage sein würde, ihren Haushalt zu versorgen und den Kläger zu betreuen. Das ändert aber nichts daran, daß die Aufnahme des Klägers in den Haushalt der Versicherten der letzte rechtlich bedeutsame Dauerzustand geblieben ist. Die Zeit der Krankheit der Versicherten, die zum Tode und damit zum Eintritt des Versicherungsfalles führte, kann als letzter Dauerzustand hier ebensowenig ohnehin maßgebend sein wie dies bei der Beurteilung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes bei der Geschiedenen-Witwenrente der Fall ist. Die Hinterbliebenen eines Versicherten können nicht deshalb des Versicherungsschutzes beraubt werden, weil der Tod nicht sofort, sondern erst nach längerer Krankheit eintritt.
Etwas anderes gilt nur dann, wenn in Fällen dieser Art während dieser Zeit etwa ein anderes Pflegschaftsverhältnis oder ein Adoptivverhältnis begründet oder das natürliche Eltern-Kind-Verhältnis wieder voll hergestellt wird. Das ist aber hier bis zum Tode der Großmutter nicht der Fall gewesen. Der Entschluß der Mutter, das Kind nach dem zu erwartenden Ableben der Großmutter in ihren eigenen Haushalt aufzunehmen, das vorsorgliche Hinzumieten eines Zimmers und die vorsorgliche polizeiliche Ummeldung des Klägers sind lediglich Willensentschließungen bzw. Vorbereitungsmaßnahmen, die die Wiederherstellung des natürlichen Mutter-Kind-Verhältnisses zum Ziel haben, die aber nicht die faktische Wiederherstellung des vollen Mutter-Kind-Verhältnisses selbst darstellen. Dies ist erst durch die spätere Aufnahme des Kindes in den Haushalt der Mutter nach seiner Entlassung aus der Lungenheilstätte geschehen. Dieser Zeitpunkt liegt aber nach dem Zeitpunkt des Todes der Großmutter. Der Kläger war also bei Eintritt des Versicherungsfalles noch in dem Haushalt der Großmutter aufgenommen.
Die danach unbegründete Revision der Beklagten muß zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat kann nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten übereinstimmend damit einverstanden erklärt haben.
Fundstellen