Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 24.08.1979; Aktenzeichen L 6 Ar 12/79)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. August 1979 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt von der Beklagten ein höheres Arbeitslosengeld (Alg).

Der 1939 geborene Kläger ist seit 1970 bei der Firma Josef Skipiol KG GmbH & Co., Straßenbaustoffe – Betonwerk – Transportbeton – Mischgut, in Kaiserslautern als Kraftfahrer beschäftigt gewesen. Die Firma Skipiol (S.) betreibt neben dem im Vordergrund stehenden Handel mit Straßenbaustoffen und eigenem Werknah- und -fernverkehr noch Güternahverkehr in fremdem Auftrag. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) waren bei ihr im Jahre 1977 insgesamt 55 Beschäftigte tätig, davon 30 Kraftfahrer, 10 Schlosser und Maschinisten und 15 Angestellte. In der Firma werden ua 30 Lastkraftwagen unterhalten. Im Januar 1977 waren durchschnittlich 2/3 der Kraftfahrer im Werkverkehr des eigenen Großhandelsbereichs und 1/3 der Kraftfahrer im Güternahverkehr tätig. Die Firma S. ist mit dem Fuhr unternehmen Mitglied des Verbandes des Verkehrsgewerbes Rheinhessen-Pfalz e.V. Sie wendet auf die Arbeitsverhältnisse ihrer Kraftfahrer den zwischen der Vereinigung der Arbeitgeberverbände, Verkehrsgewerbe, Rheinland-Pfalz e.V. und der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, Bezirksverwaltung Rheinland-Pfalz, geschlossenen Manteltarifvertrag (MTV Verkehr) an. Der Kläger und die anderen Kraftfahrer haben bei der Firma S. entsprechend den einschlägigen Bestimmungen des MTV Verkehr bei einer Arbeitszeit von 6.00 bis 18.00 Uhr regelmäßig wöchentlich 60 Stunden gearbeitet.

Das Arbeitsverhältnis des Klägers wurde zum 4. Januar 1977 wegen Arbeitsmangels gekündigt; ab 26. Januar 1977 ist er jedoch wieder bei der Firma S. eingestellt worden. Auf seinen Antrag vom 5. Januar 1977 bewilligte ihm die Beklagte Alg unter Zugrundelegung einer tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden, wie sie dem Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer des Pfälzischen Großhandels (MTV Großhandel) entsprach (Bescheid vom 13. Januar 1977). Der Widerspruch des Klägers hiergegen, mit dem er eine Berücksichtigung von wöchentlich 60 Arbeitsstunden begehrte, blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 29. April 1977).

Durch Urteil vom 20. Juni 1978 hat das Sozialgericht (SG) Speyer die angefochtenen Bescheide abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Alg unter Berücksichtigung einer tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 60 Stunden zu gewähren. Das SG hat die Berufung zugelassen.

Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG Rheinland-Pfalz durch Urteil vom 24. August 1979 die Entscheidung des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Das LSG hat die Revision zugelassen und zur Begründung seiner Entscheidung im wesentlichen ausgeführt. Für das Arbeitsverhältnis des Klägers zur Firma S. habe keine tarifliche Arbeitszeit iS von § 112 Abs. 2 Satz 1 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) bestanden. Zwar sei die Firma S. Mitglied des Verbandes des Verkehrsgewerbes Rheinhessen-Pfalz, der seinerseits als Arbeitgeberverband Mitglied der Vereinigung der Arbeitgeberverbände, Verkehrsgewerbe, Rheinland-Pfalz e.V. sei und der mit der Gewerkschaft öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, Bezirksverwaltung Rheinland-Pfalz, den MTV Verkehr abgeschlossen habe. Da der Kläger jedoch gewerkschaftlich nicht organisiert sei, bestehe zwischen ihm und der Firma S. kein tarifvertraglich geregeltes Rechtsverhältnis (§ 3 des Tarifvertragsgesetzes –TVG–). In diesem Falle richte sich die tarifliche Arbeitszeit iS des § 112 Abs. 2 AFG nach der Bestimmung des § 112 Abs. 4 Nr. 2 AFG, nämlich danach, welche tarifliche Arbeitszeit für gleiche oder ähnliche Beschäftigungen in Betracht komme. Die Beklagte habe danach zu Recht die tarifliche Arbeitszeit des MTV Großhandel als maßgeblich angesehen. Es treffe zwar zu, daß der Kläger von seiner beruflich-fachlichen Tätigkeit als Kraftfahrer her gesehen dem Bereich des Verkehrsgewerbes zuzurechnen wäre. Auf die berufliche Zuordnung seiner Tätigkeit komme es jedoch nicht an. Ein Tarifvertrag solle nämlich im Zweifel nur die selbständigen, nach dem Produktionsziel bestimmten Unternehmen erfassen. Die Tarifordnung sei in aller Regel Industrietarif und nicht Fachtarif. Für die Zuordnung der Beschäftigung des Klägers gemäß § 112 Abs. 4 Nr. 2 AFG müsse daher die Frage lauten, nach welchem Tarifvertrag vergleichbare Beschäftigungsverhältnisse geregelt sind; bei Arbeitgebern, die wie die Firma S. nach ihrem eigentlichen Betriebszweck dem Großhandel zugehörten, könne dies nur der MTV Großhandel sein. Entgegen der Auffassung des SG liege eine Tarifkonkurrenz nicht vor. Sie bestehe nur dann, wenn zwei oder mehrere Tarifverträge mit beiderseitiger Tarifgebundenheit von Arbeitnehmer und Arbeitgeber in Betracht kämen, die denselben Sachverhalt regeln wollten. Hier handele es sich jedoch um die Frage der Auslegung, welcher Tarifvertrag zu berücksichtigen sei, dh, wie vergleichbare Beschäftigungsverhältnisse tarifvertraglich geregelt seien. Wegen des Industrieverbandsprinzips sei es deshalb unerheblich, welche fachlich-berufliche Zugehörigkeit für den Kläger tatsächlich in Betracht komme.

Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 112 AFG und führt hierzu aus. Bei richtiger Anwendung der Vorschrift sei dem Kläger Alg unter Berücksichtigung einer tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 60 Stunden zu gewähren. Das angefochtene Urteil unterscheide zwischen gewerkschaftlich organisierten und nicht organisierten Arbeitnehmern. Diese Unterscheidung dürfe sich jedoch nicht auf die Höhe des Alg auswirken. Schon die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung seien für gewerkschaftlich organisierte und nicht organisierte Arbeitnehmer gleich. Eine Schlechterstellung der nicht organisierten Arbeitnehmer würde deshalb gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen. Dies komme auch im Gesetz selbst, nämlich in § 112 Abs. 4 Nr. 2 AFG zum Ausdruck. Daraus ergebe sich, daß die im Falle einer Tarifkonkurrenz aufgestellten Grundsätze des Arbeitsrechts auch für die Entscheidung über die Höhe des Alg herangezogen werden, müßten. Infolgedessen hätte das LSG auf die Art der Arbeit abstellen müssen, die der überwiegende Teil der Arbeitnehmer in der Firma S. nach der tatsächlichen Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse und der von ihnen verlangten Arbeit überwiegend zu leisten hätte. Diese Frage könne unter Berücksichtigung der Arbeitsbedingungen nur dahin beantwortet werden, daß der überwiegende Teil der Arbeitnehmer als Kraftfahrer und somit im Verkehrsgewerbe beschäftigt gewesen sei. Von den 55 Beschäftigten der Firma S. seien nämlich zu der maßgebenden Zeit allein 30 ausschließlich als Kraftfahrer für die 30 von der Firma S. unterhaltenen Lastkraftwagen tätig gewesen. Auch die darüber hinaus noch beschäftigten 10 Schlosser und Maschinisten seien zum überwiegenden Teil damit beschäftigt gewesen, die Lastkraftwagen zu warten und betriebsfähig zu erhalten. Selbst die 15 Angestellten seien weitgehend damit beschäftigt gewesen, den reibungslosen Einsatz des Lastwagenverkehrs zu gewährleisten. Die Beschäftigungsverhältnisse der Kraftfahrer seien daher auch bei der Berechnung des Alg dem Verkehrsgewerbe zuzurechnen. Nur diese Regelung entspreche dem § 112 AFG.

Im übrigen sei nach der Verkehrsanschauung die Firma S. nicht dem Wirtschaftszweig Großhandel, sondern dem Wirtschaftszweig Verkehrsgewerbe zuzurechnen. Der Einsatz der Lastkraftwagen und der Transport der Baustoffe präge den Charakter der Firma, so daß eine Berechnung des Alg nach dem Tarifvertrag für das Verkehrsgewerbe zu erfolgen hätte.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Arbeitslosengeld unter Berücksichtigung einer tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 60 Stunden zu gewähren,

hilfsweise,

das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich in erster Linie auf die ihrer Meinung nach zutreffende Entscheidung des LSG. Ergänzend führt sie aus: Nach den Feststellungen des LSG sei der eigentliche Betriebszweck der Firma S. der Großhandel, der der Firma das Gepräge gebe. Deshalb könne aus der Tatsache, daß die Firma rund 30 Kraftfahrer beschäftige und einen Fahrzeugpark mit ua 30 Lastkraftwagen unterhalte, nicht geschlossen werden, daß sie zu einem Betrieb des Verkehrsgewerbes werde. Auch in einem derartigen Falle sei auf den Betriebszweck abzustellen, und das sei hier der Großhandel, Wäre die gegenteilige Auffassung des Klägers und des SG richtig, hätte dies zur Folge, daß große Getränkefirmen oder Großbäckereien dem Verkehrsgewerbe zuzuordnen seien, weil in der Produktion nur wenige Arbeitskräfte eingesetzt würden und die Mehrzahl der Arbeitnehmer als Kraftfahrer mit dem Ausfahren der Ware betraut seien, Hier müsse deutlich unterschieden werden, daß diese Kraftfahrer im wesentlichen den werkseigenen Transport bewältigten und nur zu einem geringen Teil in der Spedition eingesetzt seien. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, daß selbst bei Anwendung des MTV Verkehr nicht eine wöchentliche Arbeitszeit von 60 Stunden zugrunde gelegt werden könne. Insoweit werde auf die Darlegungen in der Berufungsbegründung verwiesen.

Beide Beteiligte sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist iS der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Nach den bisherigen Feststellungen des LSG vermag der Senat nicht abschließend zu entscheiden, ob, gegebenenfalls in welchem Umfang, der Klageanspruch begründet ist.

Obwohl das LSG hierzu keine näheren Feststellungen getroffen hat, kann nach den Gesamtumständen davon ausgegangen werden, daß die Voraussetzungen des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs auf Alg dem Grunde nach vorliegen (§§ 100 ff AFG). Die allein noch streitige Höhe des Anspruchs hängt von der Anwendung des § 112 AFG ab. Nach § 112 Abs. 2 Satz 1 AFG ist das für die Bemessung des Alg maßgebliche Arbeitsentgelt (§ 111 Abs. 1 AFG) das im Bemessungszeitraum in der Arbeitsstunde durchschnittlich erzielte Arbeitsentgelt, vervielfacht mit der Zahl der Arbeitsstunden, die sich als Durchschnitt der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit der Beschäftigungsverhältnisse im Bemessungszeitraum ergibt. Maßgebend ist deshalb die Beschäftigung des Klägers im letzten abgerechneten und insgesamt 20 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt umfassenden Lohnabrechnungszeitraum seiner Beschäftigung bei der Firma S. vor der Entstehung seines Anspruchs (§ 112 Abs. 3 AFG). Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger in dieser Zeit – aber auch ständig davor bei der Firma S. – bei einer Arbeitszeit von 6.00 bis 18.00 Uhr regelmäßig 60 Stunden wöchentlich gearbeitet hat. Die Berücksichtigung dieser Arbeitszeit oder jedenfalls einer höheren als 40 Wochenstunden, wie sie in den angefochtenen Bescheiden zugrunde gelegt wurde, brauchte nicht deshalb zu scheitern, weil es sich dabei, wie das LSG meint, nicht um eine tarifliche Arbeitszeit iS von § 112 Abs. 2 AFG handelte.

Die Eingrenzung des für die Feststellung des Bemessungsentgelts maßgeblichen Faktors „Arbeitszeit” in § 112 Abs. 2 Satz 1 AFG durch die Begriffe „durchschnittlich”, „tariflich” und „regelmäßig” soll einerseits Schwankungen der Arbeitszeit im Bemessungszeitraum ausgleichen, andererseits zufällig und ungewöhnlich hohe Verdienste durch Mehrarbeit von der Berücksichtigung ausschließen (vgl. BSG SozR 4100 § 112 Nr. 7). Die Höhe des Alg soll sich zwar an den vor Beginn der Arbeitslosigkeit bestehenden Einkommensverhältnissen orientieren. Indem das Alg aber den durch die Arbeitslosigkeit eingetretenen Verlust des Erwerbseinkommens ausgleichen soll, knüpft es hinsichtlich der (ausfallenden) Arbeitszeit an Durchschnittswerte an, weil eben nicht fiktiv unterstellt werden kann, daß der Arbeitslose, der im Bemessungszeitraum eine besonders hohe Arbeitszeitleistung erbracht hat, diese auch ohne Eintritt der Arbeitslosigkeit fortlaufend geleistet hätte. Dabei durfte die Regelung Einzelfälle, in denen diese Vermutung begründet sein könnte, vernachlässigen, ohne das Grundgesetz (GG) zu verletzen (vgl. Bundesverfassungsgericht – BVerfG – vom 3. April 1979 – 1 BvL 30/76 – SozR 4100 § 112 Nr. 10). Aus diesen Gründen 9 aber auch wegen der mit der Regelung verfolgten Absicht, das Verfahren zu vereinfachen, hat der Senat schon bisher die Begrenzung des Faktors „Arbeitszeit” in § 112 Abs. 2 AFG auf einen durchschnittlichen Mittelwert als sachgerecht bestätigt (vgl. BSG SozR 4100 § 112 Nrn 2, 7, 13).

Dient allerdings die Beschränkung der Arbeitszeit auf den Mittelwert des Tariflichen nur den oa Zwecken, nämlich insoweit einen objektiven Maßstab für die durch die Arbeitslosigkeit vermutlich ausfallende Arbeitszeit zu erlangen und diesen Wert ohne großen Verwaltungsaufwand erkennbar zu machen, dann zwingt dies nicht zu der vom LSG vertretenen Annahme, hierbei müsse es sich um die tarifrechtliche Arbeitszeit des Arbeitsverhältnisses handeln, das im Bemessungszeitraum bestand.

Das LSG hat jene Arbeitszeit auch bei Anwendung des § 112 Abs. 4 Nr. 2 AFG als maßgeblich angesehen, obwohl diese Vorschrift regelt, daß als tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit ua die tarifliche Arbeitszeit für gleiche oder ähnliche Beschäftigungen zugrundezulegen ist, wenn keine tarifliche Arbeitszeit bestand. Das LSG hat also angenommen, daß eine gleiche oder ähnliche Beschäftigung des Klägers nur eine solche bei der Firma S. oder einem deren Betriebscharakter entsprechenden Betrieb sei, so daß vom MTV Großhandel auszugehen sei. Dieser Auffassung begegnen insofern Bedenken, als § 112 Abs. 4 Nr. 2 AFG nicht auf die Art des Betriebes abstellt, in dem der Arbeitslose bisher tätig war, sondern auf die Art der Beschäftigung, die er dort ausgeübt hat. Der § 112 Abs. 4 Nr. 2 AFG unterscheidet sich insoweit von § 69 AFG. Dort ist für die Bemessung des Kurzarbeitergeldes (Kug) bei Fehlen der tariflichen Arbeitszeit auf die tarifliche Arbeitszeit gleicher oder ähnlicher Betriebe abgestellt. Das ist für das Kug sachnotwendig; denn der Bezieher von Kug bleibt während des Leistungsbezuges Beschäftigter seines Betriebes, sein Arbeitsverhältnis muß weiterbestehen (§ 65 Abs. 1 Nr. 1 AFG), Ohne Widerspruch zu § 112 Abs. 4 Nr. 2 AFG konnte der Senat deshalb zu § 69 AFG die Auffassung der Beklagten bestätigen, daß die Tarifungebundenheit eines Arbeitgebers es nicht hindert, für die Feststellung der tariflichen Arbeitszeit in gleichen oder ähnlichen Betrieben auf den Tarifvertrag zurückzugreifen, der für von Betriebs- und Produktionszweck her vergleichbare Betriebe gilt (BSGE 38, 98 = SozR 4100 § 69 Nr. 1).

Anders ist die Sachlage bei § 112 Abs. 4 Nr. 2 AFG. Hier geht es um die Leistung für eine Zeit, in der die Zugehörigkeit zum bisherigen Betrieb (durch Arbeitslosigkeit) beendet worden ist. Wenn der Gesetzgeber dementsprechend als Bezugspunkt für die tarifliche Arbeitszeit auf die einer gleichen oder ähnlichen Beschäftigung verweist, so spricht vieles dafür, daß in Fällen, in denen sich der nach Tarifvertragsrecht maßgebliche Betriebszweck des bisherigen Betriebes von der dort tatsächlich ausgeübten Beschäftigung des Arbeitslosen fachlich wesentlich unterscheidet, für die Feststellung der maßgeblichen tariflichen Arbeitszeit auf Tarifregelungen zurückzugreifen ist, die – unabhängig von ihrer rechtlichen Geltung im bisherigen Beschäftigungsbetrieb – dem Charakter der tatsächlich ausgeübten Beschäftigung am nächsten kommen, hier also den MTV Verkehr. Der Senat braucht diese Frage jedoch nicht abschließend zu entscheiden, denn die Maßgeblichkeit des MTV Verkehr für die Bemessung des streitigen Alg-Anspruchs ergibt sich hier bereits aus § 112 Abs. 2 AFG unmittelbar.

Tariflich iS von § 112 Abs. 2 AFG ist zunächst natürlich diejenige Arbeitszeit, die sich aus der unmittelbaren Geltung und Anwendung eines Tarifvertrages auf das Arbeitsverhältnis ergibt. Nach den Feststellungen des LSG war dies hinsichtlich des MTV Verkehr für das Arbeitsverhältnis des Klägers zur Firma S. nicht der Fall; denn der Kläger war danach nicht tarifgebunden. Das LSG hat insoweit auf die fehlende Mitgliedschaft des Klägers zu einer Tarifvertragspartei abgestellt (§ 3 TVG). Ob der MTV Verkehr für das Arbeitsverhältnis des Klägers zur Firma S. tarifvertragsrechtlich auch deswegen nicht gegolten hat, weil der Tarifvertrag nicht nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärt worden ist, hat das LSG nicht ausdrücklich festgestellt. Es bedarf jedoch keiner Entscheidung, ob die allgemeine – nicht angegriffene – Feststellung der Tarifungebundenheit des Klägers auch diesen Rechtsgrund mit umfaßt denn nach Auffassung des Senats kommt es hier auf die Tarifgebundenheit des Klägers nach Tarifvertragsrecht nicht an.

Entscheidend und für die Anwendung des § 112 Abs. 2 AFG ausreichend ist nämlich die Feststellung des LSG, daß auf das Arbeitsverhältnis des Klägers zur Firma S. kraft Arbeitsvertrags die Vorschriften eines Tarifvertrages, nämlich des MTV Verkehr, angewendet wurden, insbesondere diejenigen über die maßgebliche Arbeitszeit. Daß dies arbeitsvertragsrechtlich zulässig und wirksam auch in Bezug auf nicht tarifgebundene Vertragspartner geschehen kann – und hier geschehen ist, hat das LSG selbst zutreffend angenommen (vgl. dazu Wiedemann-Stumpf, Kommentar zum TVG, 5. Aufl, RdNrn 84 ff, insbesondere 92 ff, zu § 3 mwN). Der Wortlaut des § 112 Abs. 2 AFG deutet nur auf den ersten Blick darauf hin, daß mit „tariflich” lediglich eine Arbeitszeit gemeint sei, die aus der unmittelbaren Gültigkeit und Anwendbarkeit eines Tarifvertrages auf das Arbeitsverhältnis folgt. Er schließt es aber nicht aus, und seine Zweckbestimmung gebietet es, als „tariflich” iS von § 112 Abs. 2 AFG auch diejenige Arbeitszeit anzusehen, die sich auf Tarif normen nur dadurch gründet, daß der Tarifvertrag erst durch Vereinbarung im Einzelarbeitsvertrag als geltend verabredet wurde. Maßgeblich ist nämlich die Gestaltung der Arbeitszeit auf der Basis und im Rahmen einer tariflichen Regelung (in diesem Sinne schon BSG SozR 4100 § 112 Nrn 2 und 7). Dem steht § 112 Abs. 4 Nr. 2 AFG nicht entgegen. Dort handelt es sich inhaltlich um denselben Begriff wie in § 112 Abs. 2 Satz 1 AFG. Der § 112 Abs. 4 Nr. 2 AFG kommt demgemäß erst dann zur Anwendung, wenn für das Arbeitsverhältnis keine, dh überhaupt keine tarifliche Arbeitszeit angenommen werden kann.

Sinn und Zweck des § 112 Abs. 2 AFG sprechen angesichts des dargestellten Bedeutungsinhalts des Begriffs „tarifliche Arbeitszeit” für die vom Senat vertretene Auffassung. Die Regelung will einerseits – wie dargestellt – für den Faktor Arbeitszeit einen nach objektiven Merkmalen bestimmten Mittelwert kennzeichnen. Andererseits soll aber grundsätzlich die individuelle Einkommenssituation des Arbeitslosen vor Eintritt der Arbeitslosigkeit Maßstab für die Bemessung seines Anspruchs auf Alg sein. Lediglich Verzerrungen dieser Situation, die sich aus ungewöhnlich hohen Arbeitszeiten im Bemessungszeitraum ergeben, sollen ausgeschaltet werden. Diesem Anliegen genügt es, wenn überhaupt tarifrechtliche Bestimmungen über die Arbeitszeit für das Arbeitsverhältnis gelten, gleichgültig, ob wegen Tarifgebundenheit unmittelbar oder nur mittelbar kraft Einzelarbeitsvertrages. Auch im letzteren Falle läßt sich eine „tarifliche Arbeitszeit” nach objektiven Gesichtspunkten ermitteln. Diese Lösung hat sogar den Vorteil, daß es sich dabei regelmäßig um Tarifregelungen handelt, die den Besonderheiten und Anforderungen eines bestimmten Arbeitsverhältnisses in tatsächlicher Hinsicht gerecht werden; Arbeitgeber und Arbeitnehmer muß es bei Festlegung der Arbeitsbedingungen in erster Linie hierauf ankommen. Der vorliegende Fall zeigt dies eindrucksvoll; erweist sich für die Kraftfahrer der Firma S. die Verlängerung der regelmäßigen Arbeitszeit auf über 40 Wochenstunden nach den betrieblichen Erfordernissen als notwendig, bietet der MTV Großhandel, wie das LSG festgestellt hat, hierfür keine Handhabe, sondern erst der MTV Verkehr. Dessen Zugrundelegung entspricht somit sachgerechten Erwägungen.

Diese Auslegung des § 112 Abs. 2 AFG gewährleistet darüber hinaus die Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer eines Betriebes, für deren Arbeitsverhältnisse dieselben Tarifvertragsbestimmungen gelten, sei es wegen Mitgliedschaft zu einer Tarifvertragspartei unmittelbar gemäß § 3 TVG, sei es für Nichtmitglieder mittelbar über die Bezugnahme im Arbeitsvertrag. Die Gleichbehandlung aller Belegschaftsmitglieder durch den Arbeitgeber wird übrigens auch im Arbeitsrecht als eine wesentliche Bedeutung der Bezugnahme auf den Tarifvertrag im Einzelarbeitsvertrag angesehen (vgl. Wiedemann-Stumpf, aaO, RdNr. 85 zu § 3). Zwar könnte bei anderer Auslegung des § 112 Abs. 2 AFG Gleichbehandlung auch über die Anwendung des § 112 Abs. 4 Nr. 2 AFG für tarifungebundene Arbeitnehmer erreicht werden. Das setzt aber voraus, daß man die Formulierung in § 112 Abs. 4 Nr. 2 AFG „… wenn keine tarifliche Arbeitszeit bestand …” nicht auf den Betrieb, sondern auf das einzelne Arbeitsverhältnis bezieht. Infolgedessen verdient die unmittelbare Gleichbehandlung aller Belegschaftsmitglieder mit gleichen (tariflichen) Arbeitsbedingungen aus § 112 Abs. 2 AFG den Vorzug.

Schließlich – und das erscheint dem Senat als ein weiteres wesentliches Argument für seine Auffassung – gewährleistet diese Auslegung des § 112 Abs. 2 AFG eine einfache und deshalb praktische Handhabung der Vorschrift durch die Arbeitsämter. Sie enthebt die Verwaltung der Prüfung, ob für das Arbeitsverhältnis nach §§ 3, 5 TVG Tarifbindung bestand und – falls nicht – ob die Bezugnahme auf Tarifvertrag im Einzelarbeitsvertrag tarifvertragsrechtlich richtig war. Weder braucht sie zu prüfen, ob ein Fall der sogenannten Tarifkonkurrenz vorliegt (vgl. dazu Wiedemann-Stumpf, aaO, RdNrn 152 ff, insbesondere 155 ff, zu § 4), noch, falls dies zu bejahen ist, wie diese Konkurrenz im gegebenen Falle zu lösen ist (vgl. dazu Wiedemann-Stumpf, aaO, RdNrn 159 ff zu § 4). Es handelt sich hierbei um Fragenkomplexe, die häufig nur schwer eindeutig zu beurteilen sind, wie auch der vorliegende Fall zeigt. Gebieten es aber – wie dargestellt – weder Wortlaut noch Sinn und Zweck des § 112 Abs. 2 AFG, diese tarifvertragsrechtlichen Fragen in jedem Einzelfalle zu klären, spricht auch die mit der Regelung verfolgte gesetzgeberische Absicht, die Bemessung des Alg-Anspruchs in möglichst einfacher Weise zu gewährleisten, dafür, als tarifliche Arbeitszeit jede Arbeitszeit anzusehen, die rechtlich zulässig und wirksam tarifrechtliche Normen in Bezug nimmt. Mit anderen Worten: Für die Anwendung des § 112 Abs. 2 AFG bedarf es lediglich der Feststellung, ob auf die der Bemessung des Alg zugrundezulegenden maßgeblichen Beschäftigung hinsichtlich der Arbeitszeit eine tarifliche Regelung rechtswirksam angewendet worden ist. Das gilt jedenfalls dann, wenn die angewendeten Tarif normen den sachlichen und betrieblichen Erfordernissen der Beschäftigung entsprechen. Praktisch dürfte dieser letztere Gesichtspunkt allerdings vernachlässigt werden dürfen; denn es erscheint abwegig, daß ein Arbeitgeber einem Arbeitnehmer abweichend von den tatsächlichen betrieblichen Erfordernissen im Einzelarbeitsvertrag Tarifregelungen zubilligt, nur um jenem etwa mit Blick auf eine denkbare spätere Arbeitslosigkeit ungerechtfertigte Vorteile bei der Bemessung des Alg zu verschaffen.

Im vorliegenden Falle steht fest, daß der Arbeitsvertrag zwischen dem Kläger und der Firma S. die Tarifnormen des MTV Verkehr ua auch hinsichtlich der Bestimmungen über die Arbeitszeit in Bezug nahm, und daß dieser den betrieblichen Erfordernissen iS darauf sachlich abgestellter Arbeitsbedingungen entsprach. Diese Arbeitszeit war somit dem Charakter nach tariflich iS von § 112 Abs. 2 Satz 1 AFG. Ihr zu berücksichtigender Umfang richtet sich deshalb nach den Bestimmungen des MTV Verkehr.

Bei dieser Rechtslage braucht sich der Senat nicht mit der Frage zu befassen, ob die Auffassung des LSG zutrifft, daß für den Betrieb der Firma S. nach dem TVG einheitlich nur die Normen des MTV Großhandel gelten, bzw, ob es sich insoweit um die Auslegung nicht revisiblen Rechts handelt, an die der Senat gebunden wäre (§ 162 SGG; vgl. BSG SozR 4100 § 117 Nr. 3).

Da das LSG hinsichtlich des Inhalts der Regelungen des MTV Verkehr über eine danach tarifliche Arbeitszeit keine für das Revisionsgericht verwertbaren Feststellungen getroffen hat, muß die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden. Das LSG wird hierzu die bisher fehlenden Feststellungen nachzuholen haben. Es wird ferner den Umfang der vom Kläger tatsächlich und durchschnittlich regelmäßig ausgeübten Wochenarbeitszeit bei der Firma S. zu ermitteln haben, auch deren Aufteilung nach Zeiten der Arbeitsausübung, Bereitschaft und Pausen. Auf der Grundlage des einschlägigen Tarifvertrages wird es sodann festzustellen haben, ob die Arbeitszeit des Klägers insgesamt oder teilweise auch insoweit als tariflich anzusehen ist, als sie 40 Wochenstunden überschritten hat, dabei wird das LSG ua die Bestimmungen der Arbeitszeitordnung –AZO– zu berücksichtigen haben (vgl. insbesondere § 2 Abs. 1, § 7 Abs. 1 und Abs. 2 AZO; BSG SozR 4100 § 112 Nr. 7). Erst nach dem Ergebnis dieser Feststellungen kann abschließend über den Klageanspruch entschieden werden.

Das LSG wird sodann auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 925873

BSGE, 64

Breith. 1981, 807

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