Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 20.10.1986) |
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 20. Oktober 1986 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Bei der 1909 geborenen Klägerin sind verschiedene Behinderungen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 vH nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) anerkannt; außerdem wurde eine erhebliche Bewegungsbeeinträchtigung im Straßenverkehr mit dem Merkmal “G” aufgrund des Grades der MdE festgestellt (Bescheid vom 9. Juni 1983). Das Versorgungsamt lehnte für die Zeit ab 1. April 1984 eine weitere Feststellung dieses Vergünstigungsmerkmales ab (Bescheid vom 3. Januar 1984). Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, bei der Klägerin die erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ab 1. April 1984 “real anzuerkennen” (Urteil vom 12. Oktober 1984). Das Landessozialgericht (LSG) hat die vom SG zugelassene Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 20. Oktober 1986). Nachdem die Anerkennung des Merkmals “G” zum 31. März 1984 durch Gesetz unwirksam geworden sei, hat das Gericht die Voraussetzung für die unentgeltliche Beförderung für die Zukunft gemäß § 58 Abs 1 SchwbG als gegeben angesehen. Dafür sei der gesamte gesundheitliche Zustand der Klägerin maßgebend, und zwar auch über die anerkannten Behinderungen hinaus. Die Klägerin infolge der Auswirkungen ihrer Cerebralsklerose und einer beträchtlichen, nicht mehr beeinflußbaren Adipositas in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr derart beeinträchtigt, daß sie nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten, und zwar Schmerzen, und nicht ohne Gefahren für sich selbst Wegstrecken von zwei km im Ortsverkehr zurücklegen könne. Diese Entfernung sei als ortsüblicher Vergleichsmaßstab nach ständiger Rechtsprechung des Senats und langjähriger Praxis des Beklagten maßgebend.
Der Beklagte widerspricht mit der – vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen – Revision der Rechtsauffassung, daß auch nicht als Behinderungen förmlich festgestellte Gesundheitsstörungen heranzuziehen seien, um eine erhebliche Bewegungsbeeinträchtigung der bezeichneten Art anzunehmen. Die Systematik des § 4 SchwbG nF schließe dies aus. Eine Gesundheitsstörung, die von der Anerkennung auszunehmen sei, könne nach der Rechtsprechung des Senats auch nicht die Bewertung des Grades der MdE – jetzt des Grades der Behinderung (GdB) – beeinflussen. Außerdem habe das LSG unter Verletzung der Sachaufklärungspflicht und des Rechts zur freien Beweiswürdigung Behinderungen berücksichtigt, die nicht nachgewiesen seien. Schließlich könne bei der Bemessung der üblicherweise von nicht behinderten Personen noch zu Fuß im Ortsverkehr zurückgelegten Wegstrecken nicht von zwei km ausgegangen werden. Diese Entfernung bilde nur einen Anhalt, aber keine feste Grenze. Im übrigen könne die Klägerin nach ärztlicher Beurteilung noch zwei und mehr Kilometer ohne Gefahren und Schwierigkeiten zurücklegen.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten hat keinen Erfolg.
Das LSG hat mit zutreffender Begründung die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Die Verwaltung ist mit Recht verurteilt worden, bei der Klägerin für die Zeit ab 1. April 1984 eine erhebliche Bewegungsbehinderung im Straßenverkehr – Merkmal “G” – als Voraussetzung für die unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personenverkehr anzuerkennen.
Nach der hier anzuwendenden Anspruchsnorm sind Schwerbehinderte, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, unentgeltlich zu befördern (§ 57 Abs 1 SchwbG vom 8. Oktober 1979 – BGBl I 1649 –; jetzt § 59 Abs 1 SchwbG vom 26. August 1986 – BGBl I 1421 –). Ob ein Schwerbehinderter infolge seiner Behinderung derart im Straßenverkehr bewegungsbehindert ist, bestimmt sich nach der ergänzenden Definitionsnorm (§ 58 Abs 1 Satz 1 SchwbG 1979 idF des Art 20 Haushaltsbegleitgesetz 1984 vom 22. Dezember 1983 – BGBl I 1532 –; BSGE 58, 72 = SozR 3870 § 58 Nr 1; jetzt § 60 Abs 1 Satz 1 SchwbG 1986); er muß tatsächlich ua infolge einer Einschränkung des Gehvermögens und von Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten und nicht ohne Gefahren für sich und andere Personen “Wegstrecken im Ortsverkehr zurücklegen” können, “die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden”.
Derart erheblich bewegungsbehindert ist die Klägerin nach den tatsächlichen Feststeilungen des LSG. Diese sind für das Revisionsgericht bindend (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Der Beklagte hat dagegen keine Verfahrensangriffe erhoben, die der in § 164 Abs 2 Satz 3 SGG in der revisionsgerichtlichen Auslegung geforderten Form entsprechen. Ursächlich für die Funktionseinbuße iS des § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG 1979. § 60 Abs 1 SchwbG 1986 sind nach den tatsächlichen Feststellungen vor allem die im Sinne von Behinderungen rechtserheblichen Funktionsauswirkungen einer Adipositas und einer Cerebralsklerose.
Die Verweisung auf den Schwerbehindertenausweis mit dem entsprechenden Merkmal “G” als Beweismittel (§ 57 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1, § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG 1979/1984, § 59 Abs 1 Satz 1, § 60 Abs 1 Satz 2, § 4 Abs 5 Satz 2 SchwbG 1986) zwingt nicht zu der Annahme, als Ursachen der rechtserheblichen Funktionseinbußen seien allein förmlich gemäß § 3 Abs 1 Satz 1 SchwbG 1979/1984 oder gemäß § 4 Abs 1 Satz 1 SchwbG 1986 festgestellte Behinderungen iS des § 3 Abs 1 SchwbG 1986 beachtlich; denn in den Ausweis sind keine anerkannten Behinderungen einzutragen (§ 3 Abs 5 Satz 1 SchwbG 1979/1984, § 4 Abs 5 Satz 1 SchwbG 1986, § 1 Abs 1 Satz 1, § 3 Abs 2 Satz 1 Nr 2 Ausweisverordnung vom 3. April 1984 – BGBl I 509 –/18. Juli 1985 – BGBl I 1516 –). Die Behinderungen werden auch nicht von der nach außen, dh gegenüber anderen Rechtsträgern wirkenden Statusfeststellung umfaßt. Schließlich sind sie nicht allein für sich direkt verbindlich als Voraussetzungen von Nachteilsausgleichen (§ 3 Abs 4 iVm Abs 1 SchwbG 1979/1984, § 4 Abs 5 iVm Abs 1 SchwbG 1986); vielmehr müssen außerdem noch zwei Stufen von Funktionsstörungen – hier Einschränkungen des Gehvermögens und dadurch Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr – gegeben sein, soweit es um das Merkmal “G” geht. Jedoch muß nach der genannten Anspruchsgrundlage (§ 57 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SchwbG 1979/1984, § 59 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SchwbG 1986) die Bewegungsbeeinträchtigung iS jener Definitionsvorschrift tatsächlich auf eine “Behinderung” iS des Gesetzes ursächlich zurückzuführen sein. Die für das Merkmal “G” festzustellende Bewegungsbeeinträchtigung, die durch eine Einschränkung des Gehvermögens oder durch Störung der Orientierungsfähigkeit verursacht worden sein muß, muß nach Ansicht des Senats grundsätzlich auf solche Behinderungen zurückzuführen sein, die bereits durch die Verwaltung in einem Verwaltungsakt der bezeichneten Art – uU im selben Bescheid – anerkannt worden sind. Das folgt aus § 4 Abs 4 iVm Abs 1 SchwbG. Falls – wie hier – die Feststellung einer derart rechtserheblichen Behinderung fehlt und von der Verwaltung im Streitverfahren abgelehnt wird, genügt eine sozialgerichtliche Entscheidung über die Behinderung, nach der die Verwaltung diese anzuerkennen hat (§§ 54, 55, 131, 153 Abs 1 SGG).
Ob und wie eine Behinderung, dh “die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht” (§ 3 Abs 1 Satz 1 SchwbG 1986; vgl hierzu Urteil des Senats vom 9. Oktober 1987 – 9a RVs 5/86 –), hier einer Adipositas und Cerebralsklerose, allgemein in der Urteilsformel (§ 136 Abs 1 Abs 4 SGG) anzugeben ist, hat der Senat in diesem Rechtsstreit nicht zu entscheiden. Die Klägerin hatte einen entsprechenden Antrag nicht ausdrücklich gestellt und hat keine Revision eingelegt, die zu einer Ergänzung des Berufungsurteils führen könnte, und der Beklagte ist als der Revisionskläger durch das Fehlen eines solchen Urteilsausspruchs, gegen den er sich im Ergebnis wehrt, nicht beschwert. Die Behinderte hat auch nicht erklärt, eine bestimmte Behinderung dürfe nicht anerkannt werden (BSGE 60. 11 = SozR 3870 § 3 Nr 21).
Für die zutreffende Entscheidung des LSG genügen die tragenden Urteilsgründe (§ 163 Abs 1 Nr 6 SGG), die den Umfang der Rechtskraft bestimmen. Sie enthalten im Zusammenhang mit der Entscheidung über die umstrittene Voraussetzung für den Anspruch auf unentgeltliche Beförderung (§§ 123, 157, 141 Abs 1 SGG) eine hinreichend deutliche Feststellung. Das LSG hat die Adipositas und die Cerebralsklerose als gesundheitliche Grundlage einer rechtserheblichen Funktionseinbuße im Sinn von Behinderungen und diese als Ursachen einer Bewegungsbeeinträchtigung angesehen. Das genügt als Anspruchsvoraussetzung. Unschädlich ist, daß das LSG die Auswirkungen dieser beiden Gesundheitsstörungen, die es zusätzlich festgestellt hat, nicht ausdrücklich als Behinderungen im gesetzlichen Sinn und damit insbesondere nicht als Grundlagen für einen bestimmten GdB bezeichnet hat. Diese Eigenschaft ergibt sich zum einen aus dem Urteilszusammenhang, und zwar aus der rechtserheblichen Bedeutung für die Anspruchsvoraussetzung, und versteht sich zum anderen nach ihrer allgemeinen Bewertung mit einem GdB in den “Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz” 1983 (S 91; 43, 44, 128 f) von selbst.
Das LSG ist von einem zutreffenden Vergleichsmaßstab für die rechtserhebliche Bewegungsbehinderung ausgegangen. Die Weg strecken, “die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden” und die der Schwerbehinderte infolge seiner Funktionsausfälle nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten und Gefahren bewältigen kann, sind mit zwei km bei einer Fußwegdauer von einer halben Stunde zu bemessen. Dies hatte der Senat im Urteil vom 23. Februar 1987 – 9a RVs 33/85 – noch offengelassen; es ist auch weder in den Gesetzesmaterialien (vgl die Hinweise von Koch/Koch, ZfS 1984, 321, 322; Dreher, ZfS 1986, 65, 67) noch in den “Anhaltspunkten” (S 123, 127 ff) festgelegt.
Für diese Vergleichsstrecke ist nicht etwa normativ maßgebend, welche Entfernungen andere, nicht erheblich bewegungsbeschränkte Personen nach ihrem Leistungsvermögen zu Fuß zurücklegen können und sollen, welche Strecken ihnen als für ihre Gesundheit selbstverantwortlichen Bürger zugemutet werden können. Damit erübrigen sich rechtstatsächliche Ermittlungen über die entsprechende übliche Leistungsfähigkeit. Vielmehr ist nach dem Wortlaut des Gesetzes die individuelle Bewegungsbeeinträchtigung des einzelnen Schwerbehinderten, auf die es nach dem Individualisierungsgrundsatz des Schwerbehindertenrechts ankommt (§ 33 Satz 1 Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil -SGB I- vom 11. Dezember 1975 – BGBl I 3015 –; § 45 SchwbG 1979, § 48 SchwbG 1986), mit den tatsächlichen üblichen Gehgewohnheiten der anderen Personen zu vergleichen (“die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden”). Diese Iststrecke ist als eine Vergleichstatsache von der Verwaltung und von den Gerichten zu ermitteln. Falls dagegen das Leistungsvermögen und die Leistungsanforderung anderer zum Vergleich für die Bemessung einer Sollstrecke heranzuziehen wären, hätte das der Gesetzgeber deutlich zum Ausdruck bringen müssen. Das ist zB in der Rentenversicherung in den Definitionen der Berufs- und der Erwerbsunfähigkeit geschehen (§ 1246 Abs 2, § 1247 Abs 2 Reichsversicherungsordnung -RVO-). Auch in der Krankenversicherung, die die Wiederherstellung der vollen Gesundheit zum Ziel hat, ist der selbstverantwortliche Bürger das Leitbild (BSGE 26, 240, 242 = SozR Nr 23 zu § 182 RVO; SozR Nr 56 zu § 182 RVO). Für die Kostenerstattung in der hessischen Schülerbeförderung ist sogar zahlenmäßig genau vorgeschrieben; welche Fußwege Schülern zugemutet werden; denn die Kosten werden erst bei Wegen von mehr als zwei km für Grundschüler und mehr als drei km für Schüler ab der Jahrgangsstufe fünf vom Staat getragen (§ 34 Schulverwaltungsgesetz idF des Art 2 des Gesetzes vom 17. Dezember 1980 – GVBl I 506 –).
Falls von einem solchen normativen Vergleichsmaßstab die rechtserhebliche Bewegungsbeeinträchtigung abhängig gemacht würde, der beträchtlich mehr als zwei km und wohl mindestens fünf km betrüge, kämen sehr viel mehr Schwerbehinderte als bei der vom Senat vertretenen Auslegung in den Genuß der unentgeltlichen Beförderung, obwohl sie relativ geringfügig behindert sind, möglicherweise eine vielfache Zahl. Das Gesetz bietet keinen Anhalt dafür, daß es dies bewirken will. Umgekehrt entspricht die zuvor festgelegte wörtliche Auslegung dem Zweck dieses Nachteilsausgleichs. Er soll als Sozialleistung (Urteil des Senats vom 11. November 1987 – 9a RVs 7/86 –, zur Veröffentlichung bestimmt) bestimmte, besonders schwer Behinderte von den finanziellen Belastungen freistellen, die ihnen durch die behinderungsbedingte Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln auf den auch von ihnen sonst zu Fuß zurückgelegten Wegen entstehen (Dreher, aaO, S 67). Das wird nach den Entfernungen bemessen, die sie ebenso wie andere ohne die erhebliche Behinderung tatsächlich “üblicherweise” zu Fuß gingen. Diese Entlastung dient der Eingliederung in “Arbeit, Beruf und Gesellschaft” (vgl §§ 1, 10 Abs 1, Art II § 1 Nr 3 und 18 SGB I; Urteil vom 11. November 1987), aber nur in dem Umfang, in dem die Behinderten Einbußen im Vergleich mit ihren Gehgewohnheiten ohne die Behinderung erleiden.
Die tatsächlichen Gehgewohnheiten der Bevölkerung, die zum Vergleich heranzuziehen sind, als eine allgemeine Tatsache, die zur allgemeingültigen Auslegung der genannten Gesetzesvorschrift benötigt wird, hat auch das Revisionsgericht zu ermitteln und festzulegen (Dreher, aaO, S 66 f, 71; Eicher, SGb 1986, 501 ff; Rauscher, SGb 1986, 55 ff; Wulfhorst in: Festschrift für Hans Grüner, 1982, 573, 575 ff, 583 ff; Wulfhorst in: Schulin/Dreher -Hg-, Sozialrechtliche Rechtstatsachenforschung, 1987, 53 ff). Eine verbreitete Verwaltungs- und Gerichtspraxis geht von der gegriffenen Größe von zwei km aus. Daran ist festzuhalten, weil es keine zuverlässigen Erkenntnismittel über eine abweichende Gehgewohnheit gibt. Ein Gutachten eines Sachverständigen darüber ließe, abgesehen von allgemeinen Schwierigkeiten (Röhl, Rechtssoziologie, 1987, 100 ff, 106 f), keine genaueren Werte erwarten, als sie aus den im folgenden ausgewerteten Veröffentlichungen gewonnen werden können. Befragungen von Versuchspersonen über Selbstbeobachtungen, die ein Sachverständiger zu organisieren und auszuwerten hätte, wären erfahrungsgemäß mit beträchtlichen Schätzfehlern behaftet (Schwerdtfeger/Küfner, Unfall- und Sicherheitsforschung im Straßenverkehr. Analyse der Verkehrsteilnahme, Heft 33/1981). Außerdem ließen sich die üblichen einschlägigen Vergleichastrecken deshalb nicht zuverlässig und erschöpfend ermitteln, weil nicht von vorneherein feststeht, welche Gehgewohnheiten auszugrenzen wären, weil die entsprechenden Personen erheblich bewegungsbehindert iS des Gesetzes sind. Die im Frühjahr 1987 vorgenommene Volkszählung (Gesetz vom 8. November 1985 – BGBl I 2078 –) scheidet als brauchbare Erkenntnisquelle aus. Sie hat lediglich den Zeitaufwand für die Wege zwischen Wohnungen und Arbeitsplätzen oder Ausbildungsstätten ermittelt, nicht aber die Wegstrecken (Entfernungen). Sie berücksichtigt nicht Wege, die anderen Eingliederungszwecken dienen. Es fehlt daher an vergleichbaren Größen.
Auch kann nicht die Strecke von 500 m maßgebend sein, nach der im Rentenversicherungsrecht bemessen wird, ob ein Versicherter aus gesundheitlichen Gründen keinen Arbeitsplatz mit entgeltlicher Beschäftigung zu Fuß erreichen kann. Weil ihm bei der so bemessenen Bewegungsbeeinträchtigung der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist, wird er als erwerbsunfähig beurteilt (BSG SozR 2200 § 1247 Nr 47; BSG 5. Februar 1987 – 5b RJ 22/86 –; BSG 26. Mai 1987 – 4a RJ 21/86 –). Die nach dieser Strecke beurteilte Erwerbsunfähigkeit unterscheidet sich aber von dem Unvermögen, “ohne erhebliche Schwierigkeiten” oder “ohne Gefahren für sich und andere” übliche Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen.
Verfügbares Erkenntnismaterial ist verwertbar, soweit es den gesetzlichen Beurteilungsmaßstäben entspricht. Das trifft für die noch zu erörternden Verkehrserhebungen zu. Welche tatsächliche Strecke rechtlich maßgebend ist, ergibt sich aus dem Gesetz in zweierlei Hinsicht: 1. aus der Art der zurückgelegten Strecken, 2. nach den Personen, die diese Wege zu gehen pflegen.
Die “üblicherweise noch zu Fuß” zurückgelegten Wegstrecken sind räumlich für das gesamte Bundesgebiet (Dreher, aaO, S 67 ff; aA Gottl, Versorgungsbeamter 1986, 40, 41) und zeitlich entsprechend durchschnittlichen Gewohnheiten im Laufe eines Jahres maßgebend. Das folgt aus dem Wortlaut und aus dem Zweck der Regelung. Dies gewährleistet auch einheitliche Beurteilungen für alle Bundesbürger, die als Berechtigte in Betracht kommen (Art 3 Abs 1 Grundgesetz). Mit den maßgebenden Gehstrecken im “Ortsverkehr”, die der Schwerbehinderte nicht oder nur unter den gesetzlich festgelegten Schwierigkeiten zurücklegen kann, sind die von den anderen Personen üblicherweise allein im “Ortsverkehr” zurückgelegten Gehstrecken zu vergleichen. Dabei sind nicht Besonderheiten der Verhältnisse am jeweiligen Ort des einzelnen Schwerbehinderten zu berücksichtigen, zB nach dem. Umfang der politischen Wohngemeinde oder der Nahverkehrsregion. Diese Regelung schließt Fußwege außerhalb von Ortschaften und damit zB auch Überlandwanderungen aus.
Die Beschränkung auf das Gehen im “Straßenverkehr” klammert einen Vergleich mit Fußwegen innerhalb von Gebäuden und geschlossenen Anlagen aus.
Freizeitwege sind nicht allgemein für den Vergleich ungeeignet (Dreher, aaO, S 68; aA Koch/Koch, 328). Soweit sie auf die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben gerichtet sind, insbesondere als Wege zu öffentlichen Veranstaltungen jeglicher Art (vgl dazu die Rundfunk- und Fernsehgebührenerleichterung, BSGE 53, 175 = SozR 3870 § 3 Nr 15 und weitere Urteile), aber auch zu privaten geselligen Treffen, dienen sie der Eingliederung in die Gesellschaft und entsprechen dem Zweck des Nachteilsausgleichs, der dies erleichtern soll. Ausgeschlossen vom Vergleich sind jedenfalls Spaziergänge, die wegen der körperlichen Fortbewegung als Selbstzweck stattfinden und nicht auf ein Eingliederungsziel gerichtet sind (Dreher, aaO, 68).
Da der Schwerbehinderte bei der von ihm selbst zu bestimmenden Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft entlastet werden soll, ist seine Leistungseinbuße nicht an fremdbestimmten, hauptsächlich beruflich bedingten Fußwegleistungen außergewöhnlicher Art zu messen, zB von Briefträgern, Strom-, Gas- und Wasserablesern, Zollgrenzbeamten sowie Soldaten im Dienst.
Allen diesen Anforderungen genügen die Wege, über die Erkenntnisse aus Verkehrserhebungen gewonnen werden. Für das Anlegen von Straßen-, U-, und S-Bahn- sowie Bus-Linien des öffentlichen Nahverkehrs sowie für das Einrichten ihrer Haltestellen wird von Zeit zu Zeit stichprobenweise ermittelt, welche Fußwege die Bürger sich selbst zumuten, um zu Haltepunkten des öffentlichen Liniennetzes zu gelangen. Von solchen tatsächlichen Gehgewohnheiten. werden nach Möglichkeit die günstigsten und die noch vertretbaren Entfernungen zwischen Wohnungen und Haltestellen sowie zwischen diesen und wichtigen Arbeitsplätzen abhängig gemacht, um eine wesentliche Voraussetzung für eine optimale Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln – neben Fahrplandichte und Preisen – zu schaffen. Die auf diese Weise ermittelten Entfernungen, bieten einen wichtigen und brauchbaren Anhalt für die Bestimmung der hier rechtserheblichen Gehgewohnheiten im innerörtlichen Straßenverkehr.
Nach der Untersuchung aus der Mitte der siebziger Jahre von Schwerdtfeger und Küfner ließ sich eine durchschnittliche Entfernung der Fußwege von 1,2 km und eine durchschnittliche Dauer von 18 Min je Weg feststellen. Nur bis 300m gingen 41 vH, von 300 bis weniger als 500m 20 vH zu Fuß. Schon Wege von 750 bis 1.000 m muteten sich nur nur 4,6 vH zu (S 21). Allerdings ergaben sich beträchtliche regionale Unterschiede. Strecken, die “üblicherweise noch” zu Fuß gegangen werden, sind nicht ausschließlich nach arithmetisch durchschnittlichen Gehgewohnheiten. zu bestimmen, sondern eher nach der oberen Grenze der Entfernungen, die “noch” von der Mehrheit gegangen werden.
Ebenfalls bedeutsam ist das Ergebnis einer Hamburger Untersuchung im Bereich zweier Schnellbahnhaltestellen von Anfang der siebziger Jahre (Utech/Herlan, Verkehr und Technik 1972, 20 ff). Danach liefen bis zu 600m Luftlinie, umzurechnen in Weglänge mit einem Umwegfaktor von 1,2, durch Straßenführungen bedingt, entsprechend 9 Min Fußwegzeit, 90 vH der Fahrgäste zu Fuß. Schon im Bereich zwischen 700 und 900m bei einer Fußwegzeit von 10 bis 13 Min trat ein starker Abfall ein, um die andere Haltestelle herum ab 800m Luftlinie Entfernung bei einer Fußwegzeit von 11,5 Min, am stärksten zwischen 900 und 1.100 m, entsprechend 13 bis 16 Min Gehzeit. Ab 1.300 m Luftlinienentfernung zwischen Wohnung und Haltestelle gingen nur wenige Fahrgäste zu Fuß.
Der maßgebende Grenzbereich ist auch aus einer anderen Erhebung zu erkennen (Blennemann/Pajonk, Untersuchungen zur Frage der verstärkten Berücksichtigung der Belange von Behinderten im öffentlichen Nahverkehr, erweiterte Kurzfassung des Forschungsberichts in: Forschung Stadtverkehr, Sonderheft 23/1978, S 24 f). Nach ihr werden in der Bevölkerung nach subjektiven Wertungen die Fußwegzeiten zu Schnellbahnhaltestellen bis zu 12 Min als “angemessen” beurteilt, für Wege zu Bus- und Straßenbahnhaltestellen bis zu 10 Min.
Die Fußwegstrecken, die “üblicherweise noch … zurückgelegt werden”, können sich im Laufe der Zeit ändern. Aber dieser geschichtliche Gesichtspunkt ist angesichts der beschränkten Erkenntnismittel in diesem Zusammenhang zur Zeit praktisch nicht bedeutsam. Die zitierten älteren Untersuchungsergebnisse werden im wesentlichen durch eine in diesem Verfahren eingeholte Auskunft des Verbandes öffentlicher Verkehrsbetriebe bestätigt (gestützt auf die Empfehlung für einen Bedienungsstandard im öffentlichen Personennahverkehr, Reihe Technik VÖV 1.41.1 des Verbandes, Ausgabe September 1981); sie decken sich im wesentlichen mit den vom LSG für das Land Nordrhein-Westfalen beigezogenen Auskünften, die das Gericht von zahlreichen Nahverkehrsunternehmen eingeholt hat.
Entsprechend dem Zweck der unentgeltlichen Beförderung sind nicht die zuvor wiedergegebenen Entfernungen zwischen Wohnungen und Haltestellen schon als gesetzlicher Grenzwert maßgebend. Schwerbehinderte, die diese Strecken nicht mehr zumutbar bewältigen können, blieben von der Benutzung öffentlicher Nahverkehrsmittel überhaupt ausgeschlossen, und damit liefe das ihnen gesetzlich zukommende Recht leer; denn die Freifahrtberechtigung könnte nicht genutzt werden. Nicht derart behinderte Personen werden selten, aber nicht “üblicherweise” zu den Haltestellen zu Fuß gehen und dann bloß bis zur nächsten Haltestelle fahren, sondern vielfach solche Wege noch insgesamt zu Fuß zurücklegen. Gleiches träfe für die besonders Gehbehinderten zu, falls sie nicht derart beeinträchtigt wären. Bei lebensnaher Bewertung der üblichen Gesamtweglänge müssen zum Weg zur Haltestelle noch die Entfernungen zwischen zwei Haltestellen, die nach den eingeholten Auskünften im Schnitt 500 bis 600 m, für alle Linienarten über 600 m, in Ballungsgebieten vielfach um 400m betragen, und eine nicht genau zu bestimmende Strecke zwischen Endhaltestelle und Wegziel hinzugerechnet werden. Demnach ist als Grenzwert eine “übliche” Gesamtfußweglänge von zwei km angemessen.
Schließlich ist außerdem der Zeitfaktor zum Vergleich ergänzend zu berücksichtigen. Obgleich die gesetzlich maßgebenden “Wegstrecken” räumlich zu bestimmen sind, ist jedenfalls auch ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang von Hin- und Rückweg ohne Ruhepause bedeutsam. Dagegen sind je gesonderte Strecken für einen Hin- und einen Rückweg nach längerer Pause des Ausruhens anzunehmen (vgl Dreher, aaO, 69, 70). Zudem sind kurze Wartezeiten und Zeiten des Herumstehens in den Verlauf eines einheitlichen Weges einzubeziehen. Als “übliche” Zeit pro Wegstrecke ist eine geringere Durchschnittsgeschwindigkeit als die von fünf bis sechs km pro Stunde zugrunde zu legen, die allgemein von rüstigen Wanderern erwartet wird. Zu den Vergleichspersonen. gehören auch langsam Gehende, die noch nicht so erheblich behindert sind wie die Schwerbehinderten, denen das Recht auf unentgeltliche Beförderung zukommt. Das ergibt insgesamt etwa eine Gehzeit von 30 Min für 2.000 m.
Die sehr viel kürzeren Strecken, die “üblicherweise” von den Benutzern privater Fahrräder (dazu Dreher, aaO, 70), Krafträder und Personenkraftwagen zu Fuß gegangen werden, bleiben bei dem gebotenen Vergleich außer Betracht. Das Gesetz will den beträchtlich behinderten Personen einen finanziellen Ausgleich dafür gewähren, daß sie öffentliche Verkehrsmittel auf Strecken benutzen müssen, die andere üblicherweise noch zu Fuß zurücklegen und die sie selbst ohne ihre gesundheitliche Beeinträchtigung ebenfalls laufen würden. Die privaten Kraftfahrzeughalter und die mit ihnen in Hausgemeinschaft lebenden Bürger, die ständig das Fahrzeug mitbenutzen, sind auch nicht mit ihren Gehgewohnheiten in die ausgewerteten Statistiken, die den Vergleichsmaßstab bestimmen, eingegangen; denn sie gehören tatsächlich nicht zu den üblichen Benutzern öffentlicher Verkehrsmittel. Damit bleibt ein wesentlicher Teilbereich der gesellschaftlichen Wirklichkeit vom Vergleich ausgeschlossen, und zwar die Gehgewohnheiten von etwa der Hälfte der Bundesbürger. 1984 kamen allein 416 Personenkraftwagen auf 1.000 Einwohner, und 1985 betrug – abzüglich der Unternehmer- und Behördenfahrzeuge – die Gesamtzahl der Krafträder ca. 1,3 Mio und der Personenkraftwagen ca. 21 Mio (Statistisches Jahrbuch 1986 für die Bundesrepublik Deutschland, S 688, 283, 284). Diese Kraftfahrzeugbenutzer sind auch nicht auf den hier umstrittenen Nachteilsausgleich angewiesen. Ihnen kommt wohl eine Steuervergünstigung zugute, die allerdings zur Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens an die Voraussetzung für die unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personenverkehr anknüpft. Dieses Recht entfällt, soweit der Schwerbehinderte eine Kraftfahrzeugsteuerermäßigung in Anspruch nimmt (§ 57 Abs 1 Satz 6 iVm Satz 2 SchwbG 1979/1984, § 59 Abs 1 Satz 6 iVm Satz 2 SchwbG 1986).
Da das LSG sich an den hier festgelegten Vergleichsmaßstab gehalten hat, ist sein Urteil zu bestätigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen