Leitsatz (amtlich)
RVO § 1538 ist jedenfalls insoweit geltendes Recht, als er die Einräumung einer Prozeßführungsbefugnis an die Träger der Fürsorge (Prozeßstandschaft) zum Inhalt hat. Es ist lediglich anzunehmen, daß er sich insofern dem sozialgerichtlichen Verfahren angepaßt hat, als die Träger der Fürsorge nicht mehr Berufung gegen die Bescheide der Versicherungsträger einlegen können, sondern ihnen der Klageweg vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit offensteht.
Der Verletzte oder Getötete ist als "Versicherter" im Sinne des RVO § 1263a Abs 1 aF anzusehen, wenn für ihn vor Eintritt des Versicherungsfalles mindestens ein gültiger Pflicht- oder freiwilliger Beitrag entrichtet worden ist, aus dem die Anwartschaft in diesem Zeitpunkt erhalten war. Dies gilt für einen ursprünglich Pflichtversicherten, der nach Ausscheiden aus der versicherungspflichtigen Beschäftigung die Versicherung nicht freiwillig fortgesetzt hat, jedenfalls dann, wenn die Anwartschaft nach dem vor dem 1957-01-01 geltenden Recht erhalten war.
Ein Unfall ist als Arbeitsunfall anzusehen, wenn der Rentenversicherte im Zeitpunkt des Unfalls in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert war und der Unfall sich bei einer der in den RVO §§ 537 bis 540 genannten Tätigkeiten ereignet hat. Es braucht sich bei dieser Tätigkeit nicht um eine in der Rentenversicherung pflichtversicherte Tätigkeit gehandelt zu haben.
Normenkette
RVO § 1538 Abs. 1 Fassung: 1925-07-14, § 1263a Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1945-03-17, § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09, § 1252 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 1. Juli 1958 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat den Klägern Frau R M., W, H und R M. die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Für den Ehemann der Klägerin zu 2) und Vater der Kläger zu 3) bis 5), den 1923 geborenen J M, wurden für die Zeit vom 16. Februar bis zum 27. September 1953 Pflichtbeiträge zur Invalidenversicherung entrichtet. Anschließend war er als selbständiger Landwirt tätig, ohne die Versicherung freiwillig fortzusetzen. Bei Ausübung landwirtschaftlicher Tätigkeit in seinem Betrieb verunglückte er am 30. Oktober 1954 tödlich. Vom 15. März 1955 an gewährte der Kläger zu 1) den Klägern zu 2) bis 5) Fürsorgeunterstützung.
Im Mai 1955 beantragten die Kläger zu 2) bis 5) die Gewährung von Hinterbliebenenrenten aus der Invalidenversicherung ihres verstorbenen Ehemannes und Vaters. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 27. Oktober 1955 ab. Die Wartezeit sei nicht erfüllt, da nur für acht Monate Beiträge entrichtet worden seien; auch lägen die Voraussetzungen der Wartezeitfiktion des § 1263 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht vor, da M für die Zeit seiner Tätigkeit als selbständiger Landwirt keine freiwilligen Beiträge entrichtet habe, so daß er zur Zeit seines Todes kein "Versicherter" im Sinne des § 1263 a RVO gewesen sei.
Auf die Klage der Kläger zu 1) bis 5) hob das Sozialgericht in Nürnberg durch Urteil vom 10. Dezember 1956 den Bescheid der Beklagten vom 27. Oktober 1955 auf und verpflichtete die Beklagte zur Gewährung von Hinterbliebenenrenten an die Kläger zu 2) bis 5) vom 1. Juni 1955 an.
Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung der Beklagten wies das Landessozialgericht zurück; es ließ die Revision zu. Die Wartezeit gelte nach § 1263 a RVO als erfüllt. Da M im Jahre 1953 mindestens einen gültigen Beitrag zur Invalidenversicherung entrichtet habe, aus welcher die Anwartschaft erhalten gewesen sei, sei er bei Eintritt des Versicherungsfalles "Versicherter" gewesen. Auch habe er einen Arbeitsunfall im Sinne des Dritten Buches der RVO erlitten. Der Arbeitsunfall brauche sich nicht bei einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung ereignet zu haben. Da auch die sonstigen Voraussetzungen für die Gewährung der Hinterbliebenenrenten gegeben seien, sei das Urteil des Sozialgerichts zutreffend.
Gegen dieses ihr am 14. August 1958 zugestellte Urteil legte die Beklagte durch Schriftsatz vom 29. August 1958, eingegangen am 4. September 1958, Revision ein und begründete diese durch Schriftsatz vom 7. Oktober 1958, eingegangen am 10. Oktober 1958.
Sie meint, § 1263 a RVO a.F. sei dahin zu verstehen, daß die Wartezeitfiktion nur gelte, wenn sich der Arbeitsunfall bei Verrichtung einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit ereignet habe. Die mit § 1263 a RVO a.F. bezweckte Hilfe könne nicht auf Unfälle ausgedehnt werden, die überhaupt keine Versicherungsfälle im Sinne der Arbeiterrentenversicherung seien. Hätte der Gesetzgeber eine darüber hinausgehende Absicht gehabt, so würde er in § 1263 a RVO a.F. die bestimmte Form "der Versicherte" und nicht die unbestimmte Form "ein Versicherter" gebraucht haben.
Sie hat beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts vom 1. Juli 1958 und das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 20. Dezember 1956 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger zu 1) hat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Kläger zu 2) bis 5) haben beantragt,
die Revision zurückzuweisen und der Beklagten die ihnen in der Revisionsinstanz entstandenen außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen.
Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist statthaft, da das Landessozialgericht sie zugelassen hat. Bedenken gegen ihre Zulässigkeit bestehen somit nicht. Es mußte ihr jedoch der Erfolg versagt bleiben.
Es war zunächst zu prüfen, ob der Kläger zu 1), da er einen fremden Anspruch im eigenen Namen geltend macht, prozeßführungsbefugt ist. Nach dem Wortlaut des § 1538 RVO steht ihm zwar die Prozeßführungsbefugnis zu, da er die Kläger zu 2) bis 5) seit März 1955 wegen ihrer Hilfsbedürftigkeit auf Grund gesetzlicher Verpflichtung unterstützt hat und somit nach § 1531 RVO ersatzberechtigt ist. Es ist jedoch - ebenso wie bei dem im Grundsatz übereinstimmenden § 1511 RVO - in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft streitig, ob diese Vorschrift noch als geltendes Recht anzusehen oder mit Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) außer Kraft getreten ist (vgl. dazu BSG. 7, 195 (196)). Ausdrücklich ist sie durch das SGG nicht aufgehoben worden. Sie steht in ihrem Kern jedenfalls auch nicht im Widerspruch zu den sozialgerichtlichen Verfahrensvorschriften; denn im wesentlichen hat sie die Einräumung der Prozeßführungsbefugnis an den Träger der Fürsorge (Prozeßstandschaft) zum Inhalt und diese Frage ist weder im Sozialgerichtsgesetz noch in der grundsätzlich entsprechend anwendbaren Zivilprozeßordnung geregelt, noch stehen deren Grundsätze entgegen. Allerdings muß man annehmen, daß sich § 1538 RVO mit dem Inkrafttreten des SGG dem sozialgerichtlichen Verfahren angepaßt hat. Der Träger der Fürsorge kann also nicht mehr, wie in dem früheren Verfahren, Berufung gegen die Bescheide der Versicherungsträger einlegen, sondern es steht ihm nunmehr der Klageweg offen. Richtig ist allerdings, daß § 1538 RVO über diese Einräumung der Prozeßführungsbefugnis hinaus auch Bestimmungen enthält, die mit den Vorschriften über die Streitgenossenschaft und die Nebenintervention konkurrieren, so daß es zweifelhaft sein kann, ob er auch insoweit noch geltendes Recht ist. Im vorliegenden Fall kommt es jedoch vor allem darauf an, ob der Kläger zu 1) prozeßführungsbefugt ist. Die weiteren Prozeßhandlungen des Klägers zu 1) sind sowohl nach § 1538 RVO wie nach den Vorschriften der Zivilprozeßordnung (ZPO) über die Streitgenossenschaften - als solche stellt sich das Verhältnis zwischen den Klägern zu 1) bis 5) dar - zulässig, so daß es dahingestellt bleiben kann, ob § 1538 RVO auch insoweit noch geltendes Recht ist wie er Regelungen enthält, welche über die Einräumung der Prozeßführungsbefugnis hinausgehen.
Ohne Rechtsirrtum hat das Berufungsgericht entschieden, daß den Klägern zu 2) bis 5) Hinterbliebenenrenten zustehen. Da aus den für den verstorbenen Ehemann und Vater der Kläger zu 2) bis 5) entrichteten acht Monatsbeiträgen die Wartezeit nicht erfüllt ist, können die versicherungstechnischen Voraussetzungen allerdings nur gegeben sein, wenn eine Wartezeitfiktion durchgreift (§§ 1263 a Abs. 1 Nr. 1 RVO a.F., 1252 Nr. 1 RVO). Voraussetzung der Wartezeitfiktionen der §§ 1263 a Abs. 1 Nr. 1 RVO a.F., 1252 Nr. 1 RVO ist, daß der Verletzte oder Getötete im Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles "Versicherter" war; es muß also in diesem Zeitpunkt ein Versicherungsverhältnis bestanden haben. Dies ist der Fall, wenn für den Verletzten oder Getöteten vor diesem Zeitpunkt mindestens ein wirksamer Pflicht- oder freiwilliger Beitrag entrichtet worden ist und in diesem Zeitpunkt die Anwartschaft aus mindestens einem dieser Beiträge erhalten war. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt. Für den verstorbenen Ehemann und Vater der Kläger zu 2) bis 5) sind in dem dem Todesjahr vorausgehenden Jahr acht gültige Monatsbeiträge zur Invalidenversicherung entrichtet worden, und die Anwartschaft aus diesen Beiträgen war im Zeitpunkt des Unfalls selbst nach dem bis zum Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) geltenden Recht erhalten, da nach § 1264 Abs. 3 RVO a.F. im Kalenderjahr des Todes keine Beiträge zur Erhaltung der Anwartschaft entrichtet zu werden brauchten. Allerdings ist nach dem ab 1. Januar 1957 geltenden Recht, da jetzt keine Beiträge zur Erhaltung der Anwartschaft mehr entrichtet zu werden brauchen, auch dann noch ein Versicherungsverhältnis gegeben, wenn der ehemals Pflichtversicherte jahre- oder jahrzehntelang keine freiwilligen Beiträge entrichtet hat, er also noch diesen Schutz genießt, obwohl er in der Lage gewesen wäre, inzwischen die Wartezeit durch Beitragsleistungen zu erfüllen. Ob dies noch als sinnvoll angesehen werden kann, bedarf jedoch ebenso wie die Frage, ob nach geltendem Recht eine entsprechende Begrenzung möglich ist, keiner Prüfung, weil im vorliegenden Fall die Anwartschaft selbst nach altem Recht erhalten war.
Das Berufungsgericht hat festgestellt, daß der Versicherte infolge eines Unfalls gestorben ist. An diese nicht angegriffene Feststellung ist der erkennende Senat nach § 163 SGG gebunden. Es war daher nur noch zu prüfen, ob es sich bei diesem Unfall um einen Arbeitsunfall gehandelt hat. Für die Auslegung des Begriffs "Arbeitsunfall" sind, da hierfür aus dem Vierten Buch der RVO nichts zu entnehmen ist, die Vorschriften des Dritten Buches der RVO heranzuziehen. Nach § 542 Abs. 1 RVO sind Arbeitsunfälle die Unfälle, welche ein - in der gesetzlichen Unfallversicherung-Versicherter bei einer der in den §§ 537 bis 540 genannten Tätigkeiten erleidet. Da nach § 537 Nr. 8 RVO in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung auch die Unternehmer versichert sind, war der verstorbene Ehemann und Vater der Kläger zu 2) bis 5) in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert. Er hat den Unfall auch bei der Ausübung landwirtschaftlicher Tätigkeit in seinem Betrieb erlitten. Zu Recht hat das Berufungsgericht daher entschieden, daß es sich bei dem Unfall des Klägers um einen Arbeitsunfall handelt. Die Beklagte meint zwar, daß in §§ 1263 a Abs. 1 Nr. 1 RVO a.F., 1252 Nr. 1 RVO nur diejenigen Arbeitsunfälle erfaßt seien, die ein in der Arbeiterrentenversicherung Versicherter bei einer Tätigkeit erlitten habe, die er als Versicherter der Arbeiterrentenversicherung ausgeübt habe. Für diese Einschränkung ergibt sich jedoch aus dem Wortlaut keinerlei Anhalt. Insbesondere ergibt er sich nicht, wie die Beklagte meint, aus dem Umstand, daß es in §§ 1263 a Abs. 1 RVO a.F., 1252 RVO "der Versicherte" und nicht "ein Versicherter" heißt. Aus dieser Wortfassung können keine Anhaltspunkte für eine solche Auslegung gewonnen werden. Sie würde zudem, da zwischen einer freiwilligen Versicherung und der von einem freiwillig Versicherten etwa verrichteten Tätigkeit kein versicherungsrechtlich bedeutsamer Zusammenhang besteht, zur Folge haben, daß nur Pflichtversicherte, nicht aber freiwillig Versicherte geschützt wären. Dies aber würde mit dem klaren Wortlaut dieser Vorschriften in Widerspruch stehen, da sie auf den Versicherten schlechthin und nicht nur auf den Pflichtversicherten abstellt. Bei ihrem Einwand, es widerspräche versicherungsrechtlichen Grundsätzen, wenn die Rentenversicherung für einen Versicherungsfall eintreten müsse, der sich nicht bei einer versicherungspflichtigen Beschäftigung ereigne, übersieht die Beklagte, daß in der Rentenversicherung nicht der Unfall bzw. der Arbeitsunfall, sondern die Invalidität und der Tod Versicherungsfälle sind und es ohne Bedeutung ist, ob diese Versicherungsfälle durch Krankheit, durch Unfall oder durch Arbeitsunfall verursacht werden. Es ist daher unerheblich, ob sich ein Arbeitsunfall, der den Eintritt des Versicherungsfalles verursacht hat, bei einer versicherungspflichtigen Tätigkeit ereignet hat. Der Gesetzgeber hat die in §§ 1263 a Abs. 1 RVO a.F., 1252 RVO aufgezählten Tatbestände aus sozialen Gründen für schutzwürdig angesehen. Bei ihrem Eintreten wollte er auf die Erfüllung der normalen Wartezeit verzichten, zu welcher der Versicherte wegen des Eintritts des Versicherungsfalles nicht mehr in der Lage ist. Dies gilt nicht nur, wie die Beklagte meint, für die in §§ 1263 a RVO a.F., 1252 RVO außerdem noch begünstigten Fälle, sondern auch für die hier maßgebenden Fälle der §§ 1263 a Abs. 1 Nr. 1 RVO a.F., 1252 Nr. 1 RVO. Aus dem Umstand, daß eine durch Arbeitsunfall zugezogene Erkrankung, anders als die sich an eine Kriegsdienstzeit anschließende Krankheit, nicht als Ersatzzeit für die Erfüllung der Wartezeit anerkannt ist (§ 1251 RVO), kann entgegen der Auffassung der Beklagten nicht geschlossen werden, daß die in §§ 1263 a Abs. 1 Nr. 1 RVO a.F., 1252 Nr. 1 RVO geregelten Fälle aus anderen Gründen geschützt wären. Die Wartezeit gilt daher, wie das Berufungsgericht zutreffend entschieden hat, als erfüllt. Da auch, wie bereits ausgeführt, selbst nach altem Recht die Anwartschaft aus den für den verstorbenen Ehemann und Vater der Kläger zu 2) bis 5) entrichteten Beiträgen im Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls erhalten war, sind die versicherungstechnischen Voraussetzungen für die Gewährung der Hinterbliebenenrenten an die Kläger zu 2) bis 5) erfüllt.
Da die Klägerin zu 2) die Witwe des Versicherten ist, steht ihr der Anspruch auf Witwenrente für die Zeit vor dem 1. Januar 1957 - da der Versicherte nach dem 31. Mai 1949 gestorben ist - nach § 1256 RVO a.F. in Verbindung mit § 3 Abs. 1 und § 21 Abs. 5 des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes (SVAG) und für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 nach § 1264 RVO zu, und da die Kläger zu 3) bis 5) Kinder des Versicherten sind und sie das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, stehen ihnen Ansprüche auf Waisenrente nach §§ 1258 RVO a.F., 1267 RVO zu, unbeschadet etwaiger Ansprüche des Klägers zu 1) wegen der den Klägern zu 2) bis 5) gewährten Fürsorgeunterstützung.
Die Revision der Beklagten mußte daher als unbegründet zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2325702 |
BSGE, 295 |