Leitsatz (amtlich)
Ist ein an Tuberkulose erkrankter Versicherter bereits wegen Geisteskrankheit in Anstaltspflege untergebracht, so entfällt sein Anspruch auf stationäre Heilbehandlung (RVO § 1244a Abs 7 S 3) auch dann, wenn er zu dieser Behandlung in ein Krankenhaus oder in eine Heilstätte verlegt wird.
Normenkette
RVO § 1244a Abs. 7 S. 3 Fassung: 1959-07-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. Februar 1968 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Versicherte Karl R bezieht Versichertenrente aus der Arbeiterrentenversicherung (ArV). Den Kinderzuschuß für seine Tochter Erika überwies die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA), solange er gewährt wurde, an den Träger der Sozialhilfe. Auf dessen Kosten befand sich die Tochter wegen Schwachsinns und Epilepsie in Anstaltspflege.
In den Jahren 1964/65 war sie außerdem an Tuberkulose erkrankt. Die deswegen erforderliche stationäre Heilbehandlung bewilligte die Beklagte jedoch nicht. Sie berief sich auf § 1244 a Abs. 7 Satz 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und § 130 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), wonach der Anspruch auf Heilbehandlung gegen den Träger der Rentenversicherung bei Unterbringung des Berechtigten in Anstaltspflege entfalle. Für die Kosten der von Februar bis August 1965 durchgeführten Heilstättenbehandlung kam vorläufig der Sozialhilfeträger - Kläger - auf; er verlangt von der LVA die Erstattung seiner Aufwendungen in Höhe von 3.858,75 DM.
Seiner Klage hat das Sozialgericht (SG) Regensburg durch Urteil vom 3. November 1966 stattgegeben. Auf die dagegen von der Beklagten eingelegte Berufung hin hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 8. Februar 1968 die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die angeführten Vorschriften dahin gedeutet, daß bei Anstaltspflege die Verantwortlichkeit des Leistungs- und Kostenträgers unverändert in einer Hand bleibe und nicht auf den Träger der Rentenversicherung überwechsele. Das habe auch zu gelten, wenn eine Anstaltspflege nicht beendet, sondern nur wegen Tuberkuloseerkrankung vorübergehend in eine Heilstättenbehandlung umgewandelt werde.
Der Kläger hat die - von dem LSG zugelassene - Revision eingelegt. Er beantragt, das Berufungsurteil aufzuheben und die Beklagte seinem Klageantrag entsprechend zu verurteilen. Er meint, von einer Fortdauer der Anstaltspflege könne keine Rede sein, weil die Aufnahme der Kranken in eine Lungenheilstätte gegenüber dem ursprünglichen Unterbringungsgrund völlig in den Vordergrund getreten sei. Auf § 130 BSHG könne das Berufungsgericht seine gegenteilige Auffassung nicht stützen. Diese Vorschrift, die besage, daß der öffentliche Kostenträger, der einem Geisteskranken Anstaltspflege zukommen lasse, auch für die Heilbehandlung wegen Tuberkulose zuständig bleibe, begründe keine Pflicht des Sozialhilfeträgers. Das folge aus den Überschriften des Abschnitts 13 und des Unterabschnitts 1, in denen § 130 BSHG stehe. Danach sei § 130 BSHG eine Sonderbestimmung für "Träger der Tuberkulosehilfe, die nicht Träger der Sozialhilfe sind"; sie betreffe nur die "Tuberkulosebekämpfung außerhalb der Sozialhilfe". - Der Kläger meint, daß seine Auffassung auch durch die bisherige Rechtsprechung zu § 216 RVO gestützt werde.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Der beigeladene Versicherte ist in diesem Rechtszuge nicht vertreten.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision ist unbegründet.
Die Beklagte ist nicht verpflichtet, dem Kläger die durch die Heilstättenbehandlung entstandenen Kosten zu erstatten (vgl. § 59 Abs. 2 S. 2 BSHG). Zwar gehörte die Tochter des Versicherten, solange für sie Kinderzuschuß gewährt wurde, zum Kreis derjenigen Personen, deren Tuberkuloseversorgung der ArV obliegt (§ 1244 a Abs. 1 und 2 Satz 3 RVO). Der Anspruch gegen den Träger der ArV entfiel jedoch, weil die stationäre Heilbehandlung zu einer Zeit notwendig wurde, in der die Erkrankte sich bereits in Anstaltspflege befand (§ 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO). Für diese Rechtsfolge ist es unerheblich, daß die Heilbehandlung nicht unmittelbar in der Anstalt durchgeführt werden konnte, sondern eine Verlegung der Kranken in eine davon räumlich und organisatorisch getrennte Heilstätte bedingte. Die stationäre Heilbehandlung war dem Verwaltungsträger aufgegeben, der die Kosten für die Unterbringung der Kranken in Anstaltspflege zu tragen hatte (§ 23 des Gesetzes über die Tuberkulosehilfe - THG - vom 23. Juli 1959; entsprechend § 130 Abs. 1 BSHG). Den Umfang der von dem Anstaltsträger zu erbringenden Heilbehandlung erläutert § 2 Abs. 1 Nr. 1 THG (vgl. auch § 49 Abs. 2 Nr. 1 BSHG) ausdrücklich dahin, daß stationäre Behandlung einschließlich der Dauerbehandlung dazu gehört.
Der Kläger versucht, seine von dieser Auffassung abweichende Ansicht mit der Rechtsprechung zu § 216 RVO zu begründen. § 216 Abs. 1 Nr. 1 RVO kann aber nur mit Vorbehalt als Parallele zu § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO gesehen werden. Nach jener Vorschrift ruht die Krankenhilfe, solange sich der Berechtigte beispielsweise in einem Asyl oder in einer Fürsorgeanstalt befindet. Diese Regelung ist dahin verstanden worden, daß die Krankenkasse nur insoweit leistungsbefreit sein soll, als die ärztliche Betreuung von dem Anstaltsarzt wahrgenommen werden kann, dem Leistungsträger daher keine besonderen Kosten erwachsen und für ein Tätigwerden der Krankenkasse kein Bedürfnis besteht (BSG 21, 244; SozR Nr. 2 zu RVO § 216). Zu dieser Interpretation ist im gegenwärtigen Rechtsstreit nicht Stellung zu nehmen; ein Vergleich mit ihr kann aber dazu dienen, den Sinngehalt des § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO deutlicher hervortreten zu lassen. Schon der Wortlaut der hier auszulegenden Norm unterscheidet sich von dem des § 216 Abs. 1 Nr. 1 RVO. Dort heißt es, daß die Krankenhilfe ruhe, "solange" der Berechtigte in einer Anstalt "untergebracht" sei. Die Formulierung legt die Vorstellung nahe, daß an die tatsächliche Anwesenheit in einer - konkret gemeinten - Anstalt und nicht an eine Unterbringung in einem rechtlichen Sinne gedacht sei (vgl. Reichsversicherungsamt 5441 Amtliche Nachrichten 1941, 362). Dagegen läßt sich die Wendung in § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO, "bei Unterbringung in Anstaltspflege" sei die Rentenversicherung aus der Verantwortung für die Tuberkuloseversorgung entlassen, dahin verstehen, daß es auf die Unterbringung als einen Zustand von rechtlicher Tragweite ankommt. Der Anlaß zur Unterbringung - etwa wegen Geisteskrankheit - ist mit der Tuberkuloseerkrankung nicht beseitigt; der Gewahrsam wird - wenn auch in veränderter Form - fortgesetzt. Eine ähnliche Deutung gestatten die § 23 Abs. 1 THG und § 130 Abs. 1 BSHG, die die medizinische Tuberkulosehilfe "während" der Unterbringung des Kranken der für die Anstaltspflege berufenen Stelle auferlegen. Diese Kompetenzverteilung erweist sich als zweckmäßig. Andernfalls würde wegen der mit dem Gewahrsam verbundenen Obhutsfunktionen die Gestaltungsfreiheit des Versicherungsträgers bei der Durchführung der Rehabilitationsmaßnahme eingeengt, seine Verantwortlichkeit dem Betreuten gegenüber (§ 1238 Abs. 1 RVO) fast untragbar. Das schlösse zwar die Gewährung einer Heilbehandlung durch den Versicherungsträger nicht rundweg aus. Ein vergleichbarer Sachverhalt ist in § 566 Abs. 1 RVO ins Auge gefaßt; dort ist vorgesehen, daß der Träger der Unfallversicherung die Heilbehandlung während einer aufgrund eines Gesetzes angeordneten Freiheitsentziehung übernimmt, "soweit die Belange des Vollzugs dem nicht entgegenstehen". Eine solche Regelung bringt aber eine Überlagerung von Kompetenzen und damit die Möglichkeit von Konflikten wegen der ungleich ausgerichteten Interessen mit sich. Das hat der Gesetzgeber des Tbc-Hilferechts ausschließen wollen. Es war sein erklärter Wille, durch eine klare Abgrenzung der Wirkungsbereiche eine jeweils rasche und reibungslose, endgültige Entscheidung der Zuständigkeitsfrage zu ermöglichen. Zeitraubende Sach- und Aktenabgaben sollten verhindert und Ersatz- und Erstattungsstreitigkeiten vermieden werden (Begründung zum Regierungsentwurf eines Gesetzes über die Tuberkulosehilfe, Bundestagsdrucksache III 349). Diese Vorstellungen verwirklichte er in den Vorschriften des § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO und des § 23 THG; sie sind von dem Gedanken getragen, daß der Tuberkulosekranke während der gesamten Dauer des Heilverfahrens nur von einem Verwaltungsträger Leistungen erhält (Vhdl. des Deutschen Bundestags 3. Wp., 66. Sitzung S. 3540 B). Jeder Tuberkulosehilfeträger soll grundsätzlich für die Kosten der von ihm eingeleiteten und durchgeführten Maßnahmen selbst einzustehen haben. Der "Rückgriff auf einen anderen, nach sonstigen Vorschriften in Betracht kommenden Kostenträger" soll ausgeschaltet sein (Begründung zu § 24 des Regierungsentwurfs eines THG, Bundestagsdrucksache III 349 S. 19). Auf dieser Linie liegt es denn auch, daß der Anspruch gegen den Träger der Rentenversicherung nicht nur - wie beispielsweise in § 216 Abs. 1 RVO - ruht, sondern überhaupt verneint wird, wenn die unterbringende Stelle zur Leistung verpflichtet ist. Mit dem Willen zur Auftrennung der Kompetenzen und Aufgaben stimmt ein weiterer Unterschied zwischen § 216 Abs. 1 Nr. 1 RVO einerseits und § 23 Abs. 1 THG bzw. § 130 Abs. 1 BSHG andererseits überein. § 216 Abs. 1 RVO knüpft an konkrete, im Einzelfall anzutreffende Gegebenheiten an, normiert aber nicht selbst die Voraussetzungen für die Verpflichtung der unterbringenden Stelle. Das Angebot an ärztlicher, pflegerischer und sächlicher Hilfe steht nicht von vornherein fest, sondern kann wechseln, je nachdem, ob in der Anstalt die Mittel zur Krankenhilfe zur Verfügung stehen oder nicht. Dagegen ist in § 23 Abs. 1 THG und in § 130 Abs. 2 BSHG angeordnet, daß von dem Kostenträger der Anstaltspflege eine vollwertige Heilbehandlung zu erbringen ist.
Diese Auslegung ist mit den Überschriften des Abschnitts und des Unterabschnitts, in denen § 130 BSHG steht, vereinbar. Das Gesetz handelt allerdings in dem fraglichen Teil von der "Tuberkulosebekämpfung außerhalb der Sozialhilfe"; dort sind auch grundsätzlich keine Normen über die Aufgaben der Sozialhilfe zu erwarten. Indessen geht es darum hier und in § 130 BSHG auch nicht. Vielmehr erhebt § 130 BSHG die Organisation, die mit der Unterbringung befaßt ist, zum selbständigen Träger der Tbc-Hilfe (vgl. Muthesius/Spahn/Caesar, Recht der Tuberkulosehilfe, 1961 Anm. 1 zu § 23 THG). Dieser kann allerdings im Einzelfall mit dem Träger der Sozialhilfe identisch sein (vgl. § 100 Abs. 1 BSHG; Oestreicher, Bundessozialhilfegesetz, Kommentar, Stand 15.2.1968, München, Randnr. 2 zu § 130). Ein solcher Fall mag als eine Durchbrechung des Grundsatzes betrachtet werden, daß die Sozialhilfe erst einzutreten hat, wenn die erforderliche Hilfe sonst nicht zu erhalten ist (§ 2 BSHG). Aus diesem Grunde wird aber der eigenständige Anwendungsbereich des § 130 BSHG nicht eingeschränkt oder aufgehoben.
Sonach hat das LSG den § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO richtig verstanden. Die stationäre Heilbehandlung für die in Anstaltspflege untergebrachte Tochter des Versicherten ging nicht zu Lasten der ArV. Die Revision ist mit der auf § 193 SGG beruhenden Kostenentscheidung zurückzuweisen.
Fundstellen