Orientierungssatz
NVG § 4 Abs 3 ist durch ArVNG Art 3 § 2 außer Kraft gesetzt worden und kann deshalb auf Versicherungsfälle aus der Zeit nach 1956 nicht mehr angewandt werden (vergleiche BSG 1967-05-31 12 RJ 80/66 = SozR Nr 8 zu VerfolgtenG Allg und BSG 1967-05-21 12 RJ 80/66 = SozR Nr 9 zu VerfolgtenG Allg und BSG 1967-06-29 4 RJ 633/64 = SozR Nr 11 zu VerfolgtenG Allg und BSG 1967-07-06 5 RKn 72/64 = SozR Nr 12 zu VerfolgtenG Allg und BSG 1967-11-29 4 RJ 127/64 = SozR Nr 13 zu VerfolgtenG Allg). In dem letzten der vorerwähnten Urteile hat der Senat sich bereits mit der aus dem ÜberlVtr idF der Bekanntmachung von 1955-03-30 (Teil 4 Abs 1 und Abs 2 Buchst a) hergeleiteten Gegenmeinung auseinandergesetzt und an seiner bisherigen Rechtsprechung festgehalten. Der ÜberlVtr bildet keine unmittelbare Anspruchsgrundlage für Entschädigungsansprüche der einzelnen Verfolgten, er enthält vielmehr eine völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland. Gleichwohl ist der Vertrag bei der Auslegung der Rentenversicherungsneuregelungsvorschriften des Jahres 1957, insbesondere bei der Beurteilung der Tragweite des ArVNG Art 3 § 2, zu beachten, weil davon ausgegangen werden darf, daß der Gesetzgeber der Rentenreform sich mit dem Vertragswerk von 1955 nicht in Widerspruch setzen wollte. Durch die in dem ÜberlVtr von der Bundesrepublik Deutschland übernommene Verpflichtung war der Gesetzgeber indessen nicht gehindert, das zur Zeit des Vertragsabschlusses geltende Rentensystem durch ein neues System der Rentenberechnung abzulösen, innerhalb dessen Verfolgtenzeiten systementsprechend nicht mehr als mit Beiträgen belegte Versicherungszeiten, sondern als - beitragslose - Ersatzzeiten berücksichtigt werden (vergleiche BVerfG 1968-09-26 1 BvR 524/68 = SozR Nr 1 zu § 1251 RVO).
Normenkette
ArVNG Art. 3 § 2 Fassung: 1957-02-23; NVG § 4 Abs. 3 Fassung: 1949-08-22; ÜblVtr Teil 4 Abs. 1 Fassung: 1955-03-30, Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1955-03-30
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. August 1968 wird aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 8. April 1968 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin ist Verfolgte des Nationalsozialismus. Das Landessozialgericht (LSG) hat - unter Änderung des Bescheides der Beklagten vom 9. November 1966 und des Urteils des Sozialgerichts (SG) Münster vom 8. April 1968 - die Beklagte verurteilt, für die Zeit der Verfolgung vom 6. September 1939 bis zum 31. Dezember 1949 bei Berechnung des Altersruhegeldes der Klägerin Werteinheiten der vierten Beitragsklasse zugrunde zu legen. Zwar habe die Klägerin, so hat es ausgeführt, einen durch Verfolgungsmaßnahmen in der Sozialversicherung erlittenen Schaden, der zur sinngemäßen Anwendung des § 4 Abs. 4 oder 5 des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung vom 22. August 1949 ( VerfolgtenG ) führen könne, nicht dargetan. Sie habe lediglich glaubhaft gemacht, daß sie von 1902 bis 1905 als kaufmännischer Lehrling und anschließend bis März 1912 als Verkäuferin versicherungspflichtig - im wesentlichen mit Beiträgen der Klasse drei - beschäftigt gewesen sei. Von da an habe sie bis 1939 im Geschäft ihres Ehemannes gearbeitet, ohne daß Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden seien. Entgegen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei jedoch § 4 Abs. 3 VerfolgtenG durch die Rentenversicherungs- Neuregelungsgesetze nicht außer Kraft gesetzt worden und deshalb auch auf Versicherungsfälle aus der Zeit nach 1956 - um einen solchen handele es sich hier - anzuwenden. Daraus ergebe sich die Verpflichtung zur Berücksichtigung von Werteinheiten der vierten Beitragsklasse. Zur weiteren Anwendung des § 4 Abs. 3 VerfolgtenG zwinge insbesondere die von der Bundesrepublik Deutschland vertraglich übernommene Verpflichtung, die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung zukünftig nicht ungünstiger als zur Zeit des Vertragsabschlusses zu stellen (Überleitungsvertrag vom 26. Mai 1952 idF der Bekanntmachung vom 30. März 1955, 4. Teil Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a - BGBl 1955 II, 301, 405, 431 -).
Gegen diese Entscheidung richtet sich die - zugelassene - Revision der Beklagten. Sie ist der Auffassung, daß die Anwendung des § 4 Abs. 3 VerfolgtenG auf Versicherungsfälle der vorliegenden Art ausgeschlossen sei. Zur Begründung beruft sie sich auf die hierzu ergangene Rechtsprechung des BSG.
Sie beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 8. April 1968 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Revision zurückzuweisen.
Sie regt im übrigen an, den Großen Senat des BSG anzurufen, und zwar sowohl zur Erreichung einer Änderung der bisherigen Rechtsprechung als auch aus Gründen der Fortbildung des Rechts (§§ 42, 43 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet.
Das LSG hat die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, für die Ersatzzeit von 1939 bis 1949 (§ 1251 Abs. 1 Nr. 4 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) Werteinheiten entsprechend der vierten Beitragsklasse anzurechnen.
Eine dahingehende Vorschrift enthielt allerdings § 4 Abs. 3 VerfolgtenG ; diese ist jedoch, wie mehrere Senate des BSG übereinstimmend und wiederholt entschieden haben, durch Art. 3 § 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) außer Kraft gesetzt worden und kann deshalb auf Versicherungsfälle aus der Zeit nach 1956 nicht mehr angewandt werden (vgl. SozR Nrn. 8,9,11 bis 13 zu VerfolgtenG Allg.). In dem letzten der vorerwähnten Urteile hat der Senat sich bereits mit der aus dem Überleitungsvertrag idF der Bekanntmachung vom 30. März 1955, Vierter Teil Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a, hergeleiteten Gegenmeinung auseinandergesetzt und an seiner bisherigen Rechtsprechung festgehalten. Hiervon abzuweichen, geben auch die Entscheidungsgründe des LSG (vgl. auch RzW 1969, 45 mit Anm. von Brunn) und die Ausführungen in der Revisionsinstanz keine Veranlassung. Der Überleitungsvertrag bildet keine unmittelbare Anspruchsgrundlage für Entschädigungsansprüche der einzelnen Verfolgten, er enthält vielmehr eine völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland. Gleichwohl ist der Vertrag bei der Auslegung der Rentenversicherungs- Neuregelungsvorschriften des Jahres 1957, insbesondere bei der Beurteilung der Tragweite des Art. 3 § 2 ArVNG, zu beachten, weil davon ausgegangen werden darf, daß der Gesetzgeber der Rentenreform sich mit dem Vertragswerk von 1955 nicht in Widerspruch setzen wollte. Durch die in dem Überleitungsvertrag von der Bundesrepublik Deutschland übernommene Verpflichtung war der Gesetzgeber indessen nicht gehindert, das zur Zeit des Vertragsabschlusses geltende Rentensystem durch ein neues System der Rentenberechnung abzulösen, innerhalb dessen Verfolgtenzeiten systementsprechend nicht mehr als mit Beiträgen belegte Versicherungszeiten, sondern als - beitragslose - Ersatzzeiten berücksichtigt werden (vgl. Beschluß des BVerfG vom 26. September 1968 - 1 BvR 524/68 - SozR Nr. 1 zu § 1251 RVO, Bl. A b 1).
Eine - nach der Rechtsprechung des BSG in Betracht zu ziehende - sinngemäße Anwendung des § 4 Abs. 4 VerfolgtenG scheidet in dem vorliegenden Fall aus. Nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt hätte die Klägerin während der Verfolgungszeit keine der vierten Beitragsklasse entsprechenden Arbeitsentgelte erzielt; es besteht kein Anhalt dafür, daß sie in der Zeit von 1939 bis 1949 überhaupt versicherungspflichtig tätig geworden wäre.
Das angefochtene Urteil muß hiernach aufgehoben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Zur Anrufung des Großen Senats des BSG besteht kein Anlaß, weil der erkennende Senat an der ständigen Rechtsprechung des BSG festhält.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen