Leitsatz (amtlich)
1. Wurde in einer Rechtssache, die nach SGG § 143 berufungsfähig ist, irrtümlich die Berufung nach SGG § 150 Nr 1 zugelassen und hat das Sozialgericht die Rechtsmittelbelehrung auch auf die Einzelheiten der Sprungrevision erstreckt, so ist das Urteil mit diesem Rechtsmittel anfechtbar.
2. Für Eltern sind Familienzuschläge nach AVAVG 1927 § 103 Abs 2 zu zahlen, soweit ihnen ein familienrechtlicher Unterhaltsanspruch gegen den Arbeitslosen zusteht und dieser ihnen ganz oder überwiegend Unterhalt vor Eintritt der Arbeitslosigkeit gewährt hat.
Normenkette
SGG § 143 Fassung: 1953-09-03, § 150 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, § 161 Fassung: 1953-09-03; AVAVG § 103 Abs. 2; AVAVG 1927 § 103 Abs. 2
Tenor
Auf die Revision wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 26. Oktober 1955 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I Der 1923 in Magdeburg geborene ledige Kläger, der von Beruf Musiker ist, beantragte erstmals am 10. September 1948 Arbeitslosenunterstützung (Alu) beim Arbeitsamt M, Nebenstelle Fürstenfeldbruck, und gab seinerzeit seine Eltern K und E St in Magdeburg sowie seine Schwester I, die als Lehrerin tätig war und im Haushalt der Eltern lebte, als Angehörige im Formblatt an. Die Alu wurde ihm damals abgelehnt, weil er die Anwartschaft nicht erfüllt hatte. Am 25. Oktober 1954 stellte er wiederum Unterstützungsantrag. Hierbei begehrte er zugleich für seine in M lebenden Eltern, die eine Rente von der Sozialversicherungsanstalt Sachsen-Anhalt in Höhe von 216,30 DM Ost erhielten, Familienzuschläge, weil er sie durch Übersendung von Paketen unterstütze. Die Schwester I führte er im Antragsvordruck nicht mehr auf.
Das Arbeitsamt lehnte mit Verfügung vom 26./27. Oktober 1954 die Zahlung von Familienzuschlägen ab, da die Eltern eigenes Einkommen hätten. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch mit der Begründung, daß er seinen Eltern durch zahlreiche Paketsendungen überwiegend Unterhalt gewährt habe; diese könnten sich die notwendigen Lebensmittel aus eigenem Einkommen, zumal der Vater vier Jahre lang krank gewesen sei, nicht beschaffen. Die Rente in Ostmark müsse der Kaufkraft entsprechend 4:1 umgerechnet werden; mit einem Rentenbetrag von 50,- DM West aber könnten die Eltern ihren Lebensunterhalt allein nicht bestreiten. Sein Widerspruch wurde durch Entscheidung vom 27. Dezember 1954 zurückgewiesen.
II Im Klagewege vor dem Sozialgericht München machte der Kläger zusätzlich zu seinem bisherigen Vorbringen ferner geltend, daß ihm vom Finanzamt die Unterstützungsaufwendungen für seine Eltern im Verhältnis 3:1 bei der Steuerermäßigung anerkannt worden seien; deshalb dürfe auch die Arbeitsverwaltung nicht hinsichtlich der Familienzuschläge das Ostmarkeinkommen der Eltern 1:1 in Westmark umrechnen. Er beantragte, den Widerspruchsbescheid aufzuheben.
Die Beklagte beantragte, die Klage abzuweisen, hilfsweise die Berufung gemäß § 150 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zuzulassen.
Der Vorsitzende der 11. Kammer des Sozialgerichts München wies durch Vorbescheid vom 15. Juli 1955 die Klage ab. Zwar sei bekannt, daß ein Rentenbezug von 216,30 DM Ost kaum ausreiche, um in der sowjetischen Besatzungszone das Leben zu fristen. Von einer Verpflichtung des Klägers zum überwiegenden Unterhalt könne jedoch erst dann ausgegangen werden, wenn für die Eltern bei einem Einkommen von 432,60 DM Ost noch Unterhaltsbedürftigkeit bestehen würde. Dies aber sei zu verneinen; denn jener Betrag bilde ein gutes Durchschnittseinkommen einer zweiköpfigen Familie in der Ostzone.
Gegen diesen Vorbescheid beantragte der Kläger mündliche Verhandlung und führte aus, daß nach familienrechtlichen Grundsätzen der Unterhalt dem Stande des Unterhaltsberechtigten angepasst werden müsse. Der Vater sei 45 Jahre als Beamter auf Lebenszeit, zuletzt als Stadtamtmann in Magdeburg tätig gewesen. Er würde also, wenn er in der Bundesrepublik Pension bezöge, vergleichbar über 700,- DM West ausgezahlt erhalten. Seine Unterstützungsleistungen für die Eltern seien weit höher als 216,30 DM; außerdem könne auch für eine zweiköpfige Familie selbst mit einem Einkommen von 432,60 DM Ost, die etwa einer Kaufkraft von 80,- DM West entsprächen, Unterhaltsbedürftigkeit bestehen, wenn man die Preise der Handelsorganisation (HO) bedenke.
Durch Urteil vom 26. Oktober 1955 wurde die Klage abgewiesen.
Die Berufung wurde - im Urteilstenor - zugelassen.
In den Entscheidungsgründen wurde die Zulassung wie folgt begründet:
"Da über die Rechtsanwendung zwischen Bundesrepublik und Sowjetzone einheitliche Grundsätze nicht entwickelt sind, ließ die Kammer die Berufung gemäß § 150 Ziffer 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung zu".
Anschließend erteilte das Landessozialgericht neben der Rechtsmittelbelehrung für die Berufung auch eine Belehrung über die Möglichkeit der Sprungrevision, in der es die hierfür zuständigen Frist- und Formvorschriften in allen Einzelheiten anführte.
III Der Kläger legte mit Schriftsatz vom 1. Dezember 1955, beim Bundessozialgericht eingegangen am 2. Dezember, Revision gemäß § 161 SGG (Sprungrevision) mit Einwilligung des Rechtsmittelgegners ein. Er beantragte, das angefochtene Urteil und die vorausgegangenen Entscheidungen aufzuheben, nach dem Klagantrage zu erkennen und die Beklagte zur Zahlung des Familienzuschlags zu verurteilen.
Er begründete in demselben Schriftsatz die Revision damit, das Vordergericht habe den § 103 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) unrichtig angewendet. Ein Ostmarkeinkommen von 216,30 DM könne nicht mit einem Westmarkeinkommen der gleichen Höhe verglichen werden. Das System der Lebensmittelbewirtschaftung in der Ostzone zwinge zu zusätzlichen Einkäufen in den HO-Geschäften mit erheblichem Preisaufschlag. Sein Vater sei krank und geschwächt, so daß er auf zusätzlichen Verbrauch hochwertiger Lebensmittel ständig angewiesen sei. Daher müsse der überwiegende Unterhalt durch Sendungen von ihm, dem Kläger, bestritten werden. Auch bei der Steuerermäßigung werde die Unterstützung von bedürftigen Angehörigen unter Umrechnung von deren eigenen Bezügen im Verhältnis 3,- DM Ost = 1,- DM West anerkannt. Alsdann betrage umgerechnet das Einkommen der Eltern nur etwa 72,- DM West zusammen, also 36,- DM je Person. Nach den fürsorgerechtlichen Bestimmungen der Bundesrepublik gelte aber der eigene Unterhalt erst bei einem Einkommen von 78,- DM als überwiegend bestritten.
Die Beklagte beantragte, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie überließ es der gerichtlichen Entscheidung, ob die Sprungrevision zulässig sei. Im übrigen machte sie geltend, daß den Kläger zur Unterhaltsgewährung an seine Eltern keine Rechtspflicht treffe, weil sie nicht bedürftig seien. Ferner sei der Kläger zu den behaupteten Unterhaltsleistungen überhaupt nicht in der Lage gewesen. Wenn die Pakode den von ihm angegebenen Wert gehabt hätten, so hätte der Kläger innerhalb von etwa vier Wochen rund 490,- DM aufgewendet, d. h. mehr als er in dieser Zeit an eigenem Einkommen erzielt habe. Deshalb müßten die angegebenen Beträge auf den Zeitraum verrechnet werden, in dem der Kläger voll beschäftigt gewesen sei, so daß er dann monatlich etwa 80,- DM aufgewendet hätte. Damit habe er jedoch den Lebensunterhalt seiner Eltern nicht überwiegend bestritten.
Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die Schriftsätze verwiesen.
IV Die unter Übergebung des Berufungsverfahrens unmittelbar an das Bundessozialgericht gelangte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet worden.
Sie ist auch statthaft. Zwar betrifft der Streit um den Familienzuschlag, wie der Senat in seinen Urteilen vom 30. Mai 1956 - 7 RAr 144/55 - (vgl. "Sozialrecht" § 103 AVAVG Bl. Ba 1 Nr. 1) und vom 28. November 1956 - 7 RAr 39/54 - des näheren dargelegt hat, nicht die Höhe der Unterstützung (§ 147 SGG), sondern den Gesamtanspruch in seiner Substanz. Deshalb war in vorliegender Sache die Berufung entgegen der Handhabung des Sozialgerichts nicht nach § 150 Nr. 1 SGG zuzulassen, sondern sie fand ohne weiteres nach § 143 SGG statt. Dann aber ist, wie ebenfalls der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 8. Juni 1955 - 7 RAr 1/55 - (BSG. 1 S. 69) entschieden hat, die Sprungrevision (§ 161 Abs. 1 SGG) von Gesetzes wegen regelmäßig nicht eröffnet. Sie müßte, da eine Ausnahme gemäß §§ 144 bis 149 i. Vbdg. mit § 150 Nr. 1 SGG nicht einschlägt, als unzulässig verworfen werden. Als Folge davon würde dem Kläger auch der Weg der Berufung verschlossen sein; denn die Einlegung der Sprungrevision gilt als Verzicht auf das Rechtsmittel der Berufung (§ 161 Abs. 2 SGG), sogar dann, wenn die Sprungrevision selbst unstatthaft ist (vgl. RGZ. 146 S. 210). Ein solcher totaler Verlust jeglicher Anfechtungs- und Prüfungsmöglichkeit gegenüber dem erstinstanzlichen Urteil erscheint jedenfalls dann mit den Aufgaben einer geordneten Rechtspflege und mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit nicht vereinbar, wenn der Vorderrichter die Berufung in Tenor wie in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zugelassen und überdies die Rechtsmittelbelehrung nicht allein auf die Berufung, sondern auch auf die Einzelheiten der Sprungrevision - als alternativ möglich - erstreckt hat. Dann ist vielmehr, obwohl hier die Zulassung der Berufung zu Unrecht erfolgt und die Rechtsmittelbelehrung irrtümlich erteilt war, der verfahrensrechtlichen Sicherheit wegen, auf die der Rechtsuchende Anspruch hat, Vertrauensschutz geboten (vgl. auch 3. Senat, Urteil vom 21.12.1955 - 3 RK 21/55 - (BSG. 2 S. 135) und 4. Senat Urteil vom 6.9.1956 - 4 RJ 231/55 -). Aus diesem Grunde wurde für den Kläger, der in Gerichtspraxis und Verfahrensrecht unerfahren ist und einen Gesetzesverstoß nicht erkennen konnte, das Urteil des Sozialgerichts mit der Sprungrevision anfechtbar.
V Materiell-rechtlich tragen die vom Vorderrichter getroffenen Feststellungen nicht das klagabweisende Urteil.
Auf Grund der Offizialmaxime, die im Unterstützungsverfahren gilt, war bereits das Arbeitsamt verpflichtet, allen Angaben des Klägers, die für die Gewährung des Familienzuschlages für seine Eltern bedeutsam waren oder werden konnten, von Amts wegen nachzugehen. Die einschlägigen Fragen hätten schon von der ersten Antragstellung an untersucht und geklärt werden müssen. Das war im Verwaltungswege nicht geschehen. Als Folge daraus ist auch der Tatbestand des angefochtenen Urteils nicht ausreichend, um beurteilen zu können, ob alle gesetzlichen Voraussetzungen für das Begehren des Klägers erfüllt sind oder nicht.
Für Eltern sind Familienzuschläge nach § 103 Abs. 2 AVAVG zu zahlen, soweit ihnen ein familienrechtlicher Unterhaltsanspruch gegen den Arbeitslosen zusteht und dieser ihnen ganz oder überwiegend Unterhalt vor Eintritt der Arbeitslosigkeit gewährt hat. Daß beide Voraussetzungen - Rechtspflicht zum Unterhalt wie tatsächliche Unterhaltsgewährung bis zum Eintritt der Arbeitslosigkeit - kumulativ erfüllt sein müssen, um den Anspruch auf Familienzuschlag zu rechtfertigen, hat der erkennende Senat in seinem Urteil vom 28. November 1956 - 7 RAr 39/54 - unter Darlegung der Entwicklungsgeschichte des § 103 AVAVG eingehend ausgeführt (vgl. "Sozialrecht" § 103 AVAVG Bl. Ba 3 Nr. 2). Er hält an dieser Rechtsprechung fest. Zutreffend ist der Vorderrichter davon ausgegangen, daß bei Prüfung der Unterhaltsberechtigung der Angehörigen sowie bei Beurteilung ihrer Bedürftigkeit die Umrechnungskurse und das Währungsgefälle zwischen Ostmark und Westmark nicht maßgebend sind. Die Eltern des Klägers haben Wohnsitz und ständigen Aufenthaltsort in der sowjetischen Besatzungszone; sie verwenden ihr eigenes Einkommen zur Beschaffung des Lebensbedarfs, sei es Wohnung, Nahrung, Kleidung o. a. unter den dortigen Preis- und Wirtschaftsbedingungen. Der Vorderrichter ist aber offenbar den Angaben des Klägers nicht nachgegangen, daß die Einkünfte der Eltern nicht ausreichend seien, den durch langwierige Krankheit und Pflege des Vaters ungewöhnlich erhöhten Bedarf zu decken, und daß deshalb der Kläger den überwiegenden Unterhalt geleistet habe und zu leisten hätte. Hierzu waren weitere Ermittlungen und Feststellungen erforderlich (§§ 103, 106 SGG).
Insoweit besitzen jedenfalls die vom Kläger auf den zu den Akten des Arbeitsamts eingereichten vier Einlieferungsscheinen über Postsendungen im September und Oktober 1954 eingetragenen Wertangaben von 3x95,- DM und 1x195,- DM für sich allein keine ausreichende Beweiskraft. Derartige Wertbezifferungen können vom Absender beliebig gewählt werden, wenn er die entsprechenden Portosätze entrichtet. Angaben über Inhalt und Gewicht jener Pakete aber fehlen. Sonstige Unterstützungsleistungen sind vom Kläger nicht nachgewiesen.
Was ferner die Frage der Unterstützungsansprüche gegen den Kläger (§§ 1601 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) - sowohl dem Grunde wie dem Ausmaß nach - anbelangt, so hätte der Umstand, daß aus den vom Sozialgericht für Tatbestand und Entscheidungsgründe in Bezug genommenen Akten des Arbeitsamts die Existenz einer erwachsenen Schwester des Klägers, die offenbar im Haushalt der Eltern lebt und als Lehrerin berufstätig ist, ersichtlich wird, weitere Nachforschungen veranlassen müssen. Von Rechts wegen wird eine Unterhaltsverpflichtung des Klägers wesentlich dadurch berührt, daß noch ein weiterer unterhaltspflichtiger Abkömmling der Eltern vorhanden ist (§ 1606 BGB).
VI Da der Tatbestand, wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, also sowohl hinsichtlich der Unterhaltspflicht wie auch bezüglich des Ausmaßes der Unterhaltsleistungen nicht hinreichend geklärt ist, konnte der erkennende Senat in der Streitsache nicht selbst entscheiden, sondern mußte sie unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Von der Möglichkeit, die Sache sogleich an das Landessozialgericht zu verweisen, das für die Berufung zuständig gewesen wäre (§ 170 Abs. 3 SGG), hat der Senat keinen Gebrauch gemacht, weil es zweckmäßig erschien, die nachzuholenden Ermittlungen dem Erstrichter zu überlassen und den Beteiligten eine zweite Tatsacheninstanz zugängig zu machen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen