Leitsatz (amtlich)
Zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der "nicht unerheblichen Beeinträchtigung" der Hinterbliebenenversorgung in § 48 Abs 1 S 1 BVG (Anschluß an BSG 4.10.1984 9a RV 42/83).
Normenkette
BVG § 48 Abs 1 S 1 Fassung: 1975-12-18
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 24.05.1984; Aktenzeichen L 8 V 197/82) |
SG Oldenburg (Entscheidung vom 25.06.1982; Aktenzeichen S 1a V 192/81) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Witwen- und Waisenbeihilfe.
Die Klägerin zu 1) ist die Witwe, die Klägerin zu 2) die Waise des am 5. Februar 1979 verstorbenen Beschädigten A M (M.). Dieser war bis zu seiner Einberufung zum Wehrdienst im Jahre 1941 als landwirtschaftlicher Gehilfe beschäftigt gewesen; er hatte sich 1944 eine Kriegsverletzung zugezogen, weswegen der linke Unterschenkel amputiert werden mußte. Bis zu seinem Tode, der nicht durch Schädigungsfolgen verursacht war, erhielt er Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 vH.
Der Beschädigte hatte von 1946 an bei ein und derselben Firma gearbeitet. Dort war er als Hilfsschweißer eingestellt worden und sollte als Schweißer angelernt werden. Da er diese mit dauerndem Stehen verbundene Tätigkeit wegen der Schädigungsfolgen nicht ausüben konnte, wurde er nach wenigen Wochen zu Hilfsarbeiten an Pressen und Stanzen eingesetzt.
Das Versorgungsamt lehnte die Anträge der Klägerinnen auf Witwen- bzw Waisenbeihilfe ab (Bescheid vom 31. Oktober 1979). Das Landesversorgungsamt wies die Widersprüche mit Bescheiden vom 11. und 12. März 1981 zurück, weil es an der Voraussetzung der nicht unerheblichen Beeinträchtigung der Hinterbliebenenversorgung durch Schädigungsfolgen fehle; ein Vergleich des tatsächlichen Entgelts des Beschädigten mit dem Durchschnittseinkommen eines Arbeiters der Leistungsgruppe 2 in der Industrie (Stahl- und Leichtmetallbau) zeige, daß nur während 13 Jahren ein geringer Minderverdienst bestanden habe.
Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat den Beklagten durch Urteil vom 25. Juni 1982 verpflichtet, der Klägerin zu 1) Witwenbeihilfe und der Klägerin zu 2) Waisenbeihilfe bis Juli 1982 (Ende der Ausbildungszeit) zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat dieses Urteil aufgehoben und die Klagen abgewiesen. Es hat im Urteil vom 24. Mai 1984 ausgeführt, der Anspruch auf Witwen- und Waisenbeihilfe hänge davon ab, ob der Beschädigte durch die Folgen der Schädigung eine Erwerbstätigkeit nicht in vollem Umfang habe ausüben können und dadurch die Versorgung der Klägerinnen nicht unerheblich beeinträchtigt worden sei. Soweit der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) im Rundschreiben vom 8. März 1976 eine Minderung der Hinterbliebenenversorgung um 15 vH als nicht unerhebliche Beeinträchtigung angesehen habe, liege dieser Prozentsatz bei niedrigen Hinterbliebeneneinkommen zu hoch (Hinweis auf BSGE 53, 169). Diesem Grundsatz, bei geringerem Einkommen niedrigere Prozentsätze gelten zu lassen, seien jedoch Grenzen gesetzt. Hier mache nach den Berechnungen des Landesversorgungsamtes die schädigungsbedingte Minderversorgung der Klägerinnen 6,43 vH aus, und zwar im Jahre 1979 für die Klägerin zu 1) monatlich 45,90 DM, für die Klägerin zu 2) 18,20 DM. Dies liege auch unterhalb des vom BMA im neuen Erlaß vom 2. April 1984 mit 10 % festgelegten Mindestsatzes.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügen die Klägerinnen die Verletzung materiellen Rechts. Das LSG habe zwar zunächst eine prozentuale Grenze für den Begriff der nicht unerheblichen Beeinträchtigung abgelehnt, dann aber doch die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzung versagt, weil die Minderung der Versorgung nicht mindestens 10 vH betrage. Die schädigungsbedingte Minderversorgung falle jedoch bei einem Renteneinkommen von 667,80 bzw 264,20 DM ins Gewicht. Im übrigen habe sich das Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 4. Oktober 1984 - 9a RV 42/83 - auch unter Berücksichtigung des neuen BMA-Rundschreibens dagegen ausgesprochen, Beihilfen schon bei geringfügigen Abweichungen von den jeweils den Einkommensgruppen zugeordneten Prozentsätzen zu versagen.
Die Klägerinnen beantragen, das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. Mai 1984 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 25. Juni 1982 zurückzuweisen, hilfsweise Zurückverweisung des Rechtsstreits.
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerinnen ist unbegründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß den Klägerinnen keine Witwen- und Waisenbeihilfe zusteht.
Grundlage des geltend gemachten Anspruchs ist § 48 Abs 1 Satz 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) idF des Art 2 § 1 Nr 5 des Gesetzes zur Verbesserung der Haushaltsstruktur im Geltungsbereich des Arbeitsförderungsgesetzes und des Bundesversorgungsgesetzes - HStruktG-AFG - vom 18. Dezember 1975 (BGBl I 3113). Danach ist nach dem Tode eines nicht an Schädigungsfolgen verstorbenen Schwerbeschädigten der Witwe und den Waisen eine Witwen- und Waisenbeihilfe zu gewähren, wenn der Schwerbeschädigte (= MdE um mindestens 50 vH, § 31 Abs 3 Satz 1 BVG) durch die Folgen der Schädigung gehindert war, eine entsprechende Erwerbstätigkeit in vollem Umfange auszuüben und dadurch die Versorgung seiner Hinterbliebenen nicht unerheblich beeinträchtigt worden ist.
Das Berufungsgericht hat in ausreichendem Maße Feststellungen getroffen, welche "entsprechende Erwerbstätigkeit" der Verstorbene ohne die Schädigung verrichtet hätte. Es ist hierbei, ohne daß dagegen von der Revision Einwände erhoben worden sind, davon ausgegangen, daß er auch ohne Schädigungsfolgen nicht in der Landwirtschaft tätig geblieben und wahrscheinlich in die Metallindustrie abgewandert wäre. Des weiteren hat das LSG angenommen, der Beschädigte hätte ohne die Kriegsverletzungsfolgen den begonnenen Versuch, angelernter Schweißer zu werden, erfolgreich beendet und mit dieser Tätigkeit höheres Einkommen erzielt. Schließlich steht auch das Ergebnis der vom Berufungsgericht angestellten rechtlichen Prüfung, ob "dadurch", daß der Beschädigte keine "entsprechende Erwerbstätigkeit" (als angelernter Schweißer) hat ausüben können, die Hinterbliebenenversorgung der Klägerinnen "nicht unerheblich beeinträchtigt worden ist", im Einklang mit der Rechtsprechung (BSGE 53, 169 = SozR 3100 § 48 Nr 8; zur Veröffentlichung bestimmtes Urteil vom 4. Oktober 1984 - 9a RV 42/83 S 6). Dieser liegt eine - vom Beklagten durchgeführte - Gegenüberstellung der gesamten tatsächlichen Arbeitsentgelte nach dem schädigenden Ereignis (ab 1947) mit denjenigen Entgelten zugrunde, die der Verstorbene in dieser Zeit ohne die Schädigung als angelernter Arbeiter in seinem Industriebereich (Stahl- und Leichtmetallbau) mit Wahrscheinlichkeit erzielt hätte. Eine Rechtsverletzung ist hinsichtlich dieses Vorgehens des LSG weder ersichtlich noch von den Beteiligten behauptet worden. Auch gegen das Zahlenwerk im einzelnen haben die Beteiligten keine Einwände erhoben, so daß der Senat an die Feststellungen des LSG gebunden ist (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), denen zufolge die schädigungsbedingte Minderversorgung der Klägerinnen 6,43 vH ausmacht, und zwar diejenige der Klägerin zu 1) monatlich 45,90 DM (bei einem Renteneinkommen von 667,80 DM im Jahre 1979) und die der Klägerin zu 2) 18,20 DM (bei einem Renteneinkommen von 264,20 DM).
Daher kommt es entscheidend darauf an, ob unter Berücksichtigung des festgestellten Verhältnisses der tatsächlichen zur wahrscheinlichen Versorgung ohne schädigungsbedingte Einbuße sowie der ermittelten Rentenbeträge das Tatbestandsmerkmal "nicht unerheblich beeinträchtigt" erfüllt ist. Denn ein Fall, in dem die (schädigungsbedingte) nicht unerhebliche Beeinträchtigung der Hinterbliebenenversorgung unwiderlegbar angenommen wird (§ 48 Abs 1 Satz 2 BVG), liegt hier nicht vor: Der Beschädigte hatte weder im Zeitpunkt seines Todes Anspruch auf die Rente eines Erwerbsunfähigen im Sinne von § 31 Abs 3 Satz 2 BVG noch auf Pflegezulage nach § 35 BVG wegen nicht nur vorübergehender Hilflosigkeit; ihm stand auch kein Anspruch auf Berufsschadensausgleich für insgesamt fünf Jahre zu.
Das BSG ist bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der "nicht unerheblichen" Beeinträchtigung der Hinterbliebenenversorgung dem Rundschreiben des BMA vom 8. März 1976 (BVBl 1976, 60), worin eine Minderung der Hinterbliebenenversorgung erst um 15 vH als relevant angesehen worden war, seit dem bereits erwähnten Urteil vom 16. März 1982 (BSGE 53, 169) nicht mehr gefolgt (vgl auch Urteil vom 7. Dezember 1983 - 9a RV 46/82 -): Namentlich bei nur geringer Versorgung machte eine 15 %ige Minderung bereits eine nachhaltige Einschränkung in der Lebensführung erforderlich, so daß in solchen Fällen der Betrag und die Relation niedriger angesetzt werden müßten. Auch der erkennende Senat vermag sich der Argumentation des 9. Senats in der erwähnten Entscheidung nicht zu verschließen, zumal diese auf eine schon ältere höchstrichterliche Rechtsprechung zurückgeführt werden kann, die in zwar jeweils anderem, aber vergleichbarem Zusammenhang ausgeführt hat, daß zur Ermittlung des Minderverdienstes bei niedrigem Einkommen auch ein geringerer Prozentsatz in Ansatz gebracht werden sollte (vgl Urteile des 5. Senats vom 12. Juli 1956 - BSGE 3, 171, 179 und des 8. Senats vom 26. November 1959 in BVBl 1960, 51).
Im Hinblick auf diese Rechtsprechung des BSG hat der BMA mit dem Rundschreiben vom 16. März 1984 (BABl 1984, Nr 5, 63) seine im Rundschreiben vom 8. März 1976 (aaO) dargelegte Auslegung des Begriffs "nicht unerheblich" aufgegeben und empfohlen, nunmehr einen nach Einkommensgruppen unterschiedenen gestaffelten Prozentsatz anzuwenden. Ausgangspunkt ist dabei zunächst, daß die durchschnittliche Witwenrente etwa 33 vH von einem Zwölftel des zuletzt bekanntgegebenen durchschnittlichen Bruttojahresarbeitsentgelts aller Versicherten der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten beträgt. In Ableitung von dem zuletzt vor dem Tod des Beschädigten bekanntgegebenen durchschnittlichen Bruttojahresarbeitsentgeltes soll bei der durchschnittlichen (33 vH) sowie einer höheren Hinterbliebenenversorgung - insoweit wie bisher - eine Minderung der Hinterbliebenenversorgung von 15 vH die Richtlinie dafür sein, ob diese Minderung "nicht unerheblich" ist; für die niedrigste Gruppe (unter 25 vH) genügt dem Rundschreiben zufolge eine Minderung von mindestens 10 vH dem Begriff der nicht unerheblichen Beeinträchtigung. Dazwischen liegen weitere vier Gruppen, bei denen - je nach der Höhe der Hinterbliebenenrente - eine Minderversorgung von 14 vH, 13 vH bzw 12 vH ausreichend sein soll.
Der 9a Senat hat sich in dem oben erwähnten Urteil vom 4. Oktober 1984 bereits mit diesem Rundschreiben befaßt und ausgeführt, es halte sich an die von ihm im oa Urteil vom 7. Dezember 1983 entwickelten Beurteilungsgrundsätze; es diene der praktischen Handhabung und trage zugleich dem Gebot der Gleichbehandlung Rechnung. Dem schließt sich der erkennende Senat an. Zwar hat der 9a Senat darüber hinaus gemeint, die erlassenen Verwaltungsrichtlinien ermöglichten noch eine im Einzelfall gebotene individuelle Beurteilung, und es sei von daher nicht angängig, Beihilfen schon bei geringfügigen Abweichungen von den den Einkommensgruppen zugeordneten Prozentsätzen zu versagen, weil die Zubilligung einer "gewissen Spannbreite" nach oben und unten und damit eine gewisse Großzügigkeit unumgänglich sei. Ob und inwieweit diese offenbar am Grundsatz der sogenannten Einzelfallgerechtigkeit orientierten Erwägungen auch im Sinne einer transparenten Gleichbehandlung gleichliegender Fälle weiterzuhelfen vermögen - insbesondere dann, wenn nicht dargelegt ist, unter welchen Kriterien eine Abweichung geboten sein soll -, kann für die Entscheidung des erkennenden Senats auf sich beruhen. Denn selbst wenn auch im vorliegenden Rechtsstreit an eine geringfügige Abweichung gedacht werden könnte, wäre gleichwohl die Voraussetzung der nicht unbedeutenden Beeinträchtigung der Hinterbliebenenversorgung nicht erfüllt. Denn für die Feststellung der relativen Höhe der Witwen- und Waisenrente maßgebend ist nach den insoweit auch vom 9a Senat gutgeheißenen Verwaltungsrichtlinien im vorliegenden Fall die Rentenversicherungs-Bezugsgrößenverordnung 1979 vom 21. Dezember 1978 (BGBl I 2078). Danach betrug aufgrund der in dieser Verordnung enthaltenen Bekanntgabe das durchschnittliche Bruttojahresarbeitsentgelt aller Versicherten der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten 24.945,-- DM. Ein Zwölftel dieses Betrages ergibt 2.078,75 DM, so daß die durchschnittliche Witwenrente (33 vH) sich auf (aufgerundet) 686,-- DM monatlich beläuft. Die Klägerin zu 1) ist demgemäß in die zweithöchste der insgesamt sechs Einkommensgruppen einzustufen. Für sie wäre, folgt man den Richtlinien, schon eine verfolgungsbedingte Versorgungseinbuße von weniger als 14 vH zu gering für das Tatbestandsmerkmal der nicht unerheblichen Beeinträchtigung. Selbst eine mehr als nur ganz geringfügige Abweichung iS der Zubilligung einer "gewissen Spannbreite" könnte mithin im Hinblick auf den festgestellten Minderungssatz von nur 6,43 vH am Ergebnis nichts ändern.
Zwar spricht das Rundschreiben des BMA vom 16. März 1984 nur Witwenrenten an. Für die nicht erwähnte Waisenrente müssen aber entsprechende Beträge und Prozentsätze gelten mit dem Ergebnis, daß hinsichtlich des Kriteriums "nicht unerheblich beeinträchtigt" die Witwen- und die Waisenrente gleich beurteilt werden.
Die Revision konnte daher keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen