Leitsatz (amtlich)

Das Berliner Gesetz über die Arbeitslosenfürsorge vom 1949-12-09 ist nicht revisibel im Sinne des SGG § 162 Abs 2

 

Normenkette

SGG § 162 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; AlfuG BE Fassung: 1949-12-09

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 22. Juni 1955 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Gebühr für die Berufstätigkeit des Rechtsanwalts Dr. Sch. in Kassel vor dem Bundessozialgericht wird auf 100,- DM festgesetzt.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsbeklagte bezog seit 2. Januar 1953 in Berlin Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu). Am 15. Dezember 1953 zeigte sie dem zuständigen Arbeitsamt an, daß ihr Ehemann ab 1. Januar 1954 eine Angestelltenrente von DM 182,90 erhalte. Lt. Rentenbescheid der Landesversicherungsanstalt Berlin wurde dem Ehemann der Klägerin diese Rente rückwirkend ab 1. August 1952 gewährt. Das Arbeitsamt Berlin-Südwest setzte daraufhin durch Verfügung vom 6. Januar 1954 die Unterstützung mit Wirkung ab 1. Januar 1954 von DM 23,40 wöchentlich auf DM 5,20 herab und ordnete durch weitere Verfügung vom 9. Februar 1954 die Rückzahlung der in der Zeit vom 2. Januar bis 31. Dezember 1953 überhobenen Alfu in Höhe von DM 884,55 an.

Die Klägerin begründete ihren Widerspruch gegen diese Verfügungen damit, dass ihr Ehemann während des für die Rückforderung herangezogenen Zeitraums kein Einkommen gehabt, sondern selbst nur Alfu bezogen habe. Durch Widerspruchsbescheid vom 6. März 1954 wurden die Einwendungen der Klägerin zurückgewiesen.

Dagegen erhob die Klägerin mit Schriftsatz vom 11. April 1954 Klage beim Sozialgericht Berlin und machte geltend, sie habe die Unterstützung rechtmäßig bezogen, da in dem fraglichen Unterstützungsabschnitt kein Einkommen ihres Ehemannes vorhanden gewesen sei. Die rückwirkende Bewilligung seiner Rente begründe keinen Rückerstattungsanspruch des Arbeitsamts.

Die Beklagte, die inzwischen durch Verfügung des Arbeitsamtes Berlin-Südwest vom 5. August 1954 den Erstattungsanspruch auf DM 122,20 (Erstattungszeitraum 12. November bis 31. Dezember 1953) herabgesetzt hatte, beantragte Abweisung der Klage.

Das Sozialgericht Berlin hob durch Urteil vom 18. Februar 1955 die Verfügung des Arbeitsamtes Berlin-Südwest vom 9. Februar 1954 in der Fassung vom 5. August 1954 sowie den Widerspruchsbescheid vom 6. März 1954 auf. Soweit sich die Klage gegen die Neufestsetzung der Alfu der Klägerin richtete, wurde sie abgewiesen. Die Berufung wurde zugelassen.

Gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin legte die Beklagte Berufung ein, die sie damit begründete, dass die Rente von jenem Tage an anzurechnen sei, an dem der Betroffene von ihrer Gewährung Kenntnis erlangt habe.

Die Klägerin legte ebenfalls Berufung ein und begehrte Neubemessung ihrer Alfu mit der Begründung, dass der von der Rente ihres Ehemannes freizulassende Betrag von DM 24,- um DM 9,- auf DM 33,- zu erhöhen sei, weil der Ehemann sie (die Klägerin) auf Grund einer rechtlichen Verpflichtung überwiegend unterhalte.

Das Landessozialgericht Berlin hat durch Urteil vom 22. Juni 1955 die Berufung der Beklagten mit der Begründung zurückgewiesen, daß Einkommen, das nachträglich für zurückliegende Zeiträume einem Familienangehörigen zufließt, nicht nach § 7 Abs. 1 Buchst. b des Berliner Alfu-Gesetzes angerechnet werden könne.

Die Berufung der Klägerin wurde ebenfalls zurückgewiesen, weil § 7 Abs. 1 Buchst. b des Berliner Alfu-Gesetzes keine Rechtsgrundlage biete, für die Person der Klägerin den Anrechnungs-Freibetrag zu erhöhen.

Die Revision wurde vom Landessozialgericht insoweit zugelassen, als die Frage der rückwirkenden Anrechnung eines nachträglich erworbenen Einkommens eines Angehörigen auf die Alfu streitig ist.

Gegen dieses der Beklagten am 7. Juli 1955 zugestellte Urteil legte sie mit Schriftsatz vom 25. Juli 1955 - beim Bundessozialgericht eingegangen am 27. Juli - Revision mit dem Antrage ein,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 18. Februar 1955 die Klage abzuweisen.

Mit Schriftsatz vom 20. August 1955 - eingegangen am 24. August-begründete die Beklagte die Revision damit, daß die Entscheidung Verstöße gegen § 1 Abs. 2 sowie §§ 3 und 7 Abs. 1b des Berliner Gesetzes über die Arbeitslosenfürsorge sowie gegen die Erste Durchführungsbestimmung zu § 7 des Berliner Gesetzes über Arbeitslosenfürsorge enthalte. Ferner rügte sie zugleich Verletzungen des § 177 AVAVG in Verbindung mit § 1 Abs. 3 des Berliner Alfu-Gesetzes sowie der §§ 1601 ff., 1613 BGB und des Art. 3 des Grundgesetzes. Der Vorderrichter habe insbesondere verkannt, daß die Vorschriften des Berliner Alfu-Gesetzes gegenüber den Unterhaltsbestimmungen des BGB leges speciales seien.

Die Klägerin bestritt das Vorliegen solcher Rechtsverletzungen, bezog sich auf die nach ihrer Auffassung zutreffende Beurteilung der Rechtslage hinsichtlich der rückwirkenden Anrechnung von Einkommen eines Angehörigen durch die Vorinstanz und beantragte,

die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.

Für die Darstellung des Tatbestands wird im übrigen auf den Inhalt des Bescheids des Arbeitsamts Berlin-Südwest vom 9. Februar 1954, des Widerspruchsbescheids vom 6. März 1954 und des Bescheids des Arbeitsamts Berlin-Südwest vom 5. August 1954 sowie auf den Inhalt des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 18. Februar 1954 und des Urteils des Landessozialgerichts Berlin vom 22. Juli 1955, für das Vorbringen der Parteien im einzelnen auf die Schriftsätze der Beklagten vom 25. Juli und vom 20. August 1955 sowie der Klägerin und Revisionsbeklagten vom 17. August und vom 4. November 1955 Bezug genommen.

Durch Beschluß des Bundessozialgerichts vom 31. August 1955 war der Klägerin und Revisionsbeklagten für das Revisionsverfahren das Armenrecht bewilligt worden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist in dem vom Landessozialgericht zugelassenen Umfang statthaft. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet worden und daher zulässig (§ 169 SGG). Doch mußte ihr der Erfolg versagt bleiben.

Soweit die Beklagte rügt, das Landessozialgericht habe die Bestimmungen des Berliner Gesetzes über die Arbeitslosenfürsorge unrichtig ausgelegt und dabei verkannt, daß dieses Gesetz als lex specialis dem Unterhaltsrecht des BGB vorgehe, ist festzustellen, daß sich der Geltungsbereich dieser Vorschriften nicht über den Bezirk des Landessozialgerichts Berlin hinaus erstreckt. Die gesetzgebenden Körperschaften des Landes Berlin haben das Gesetz über die Arbeitslosenfürsorge vom 9. Dezember 1949 (VOBl. I S. 485) als Landesrecht erlassen. Die Vorschriften eines Landesgesetzes sind nur dann revisibel (§ 162 Abs. 2 SGG), wenn sie mit dem Recht im Bezirk wenigstens eines anderen (weiteren) Landessozialgerichts übereinstimmen (vgl. BVerfGer. vom 11.5.1955 in NJW. 1955 S. 945; BGHZ. 4, 219 (220); BVerwG. in NJW 1955 S. 438 und 1695). Der erkennende Senat ist im Einklang mit der Rechtsprechung anderer Senate des Bundessozialgerichts der Auffassung, daß hierbei nicht wörtliche, wohl aber inhaltsgleiche Übereinstimmung vorauszusetzen ist (vgl. auch BGHZ. 6, 47 (49/50)), und daß diese Inhaltsgleichheit bewußt und gewollt herbeigeführt worden sein muß.

Eine solche Inhaltsgleichheit ist jedoch bei den Vorschriften des Berliner Gesetzes über die Arbeitslosenfürsorge nicht feststellbar.

Rechtsquellen für die Gewährung der Arbeitslosenfürsorge sind außerhalb Berlins für die einzelnen Länder der Bundesrepublik die folgenden Bestimmungen:

Britische Zone: MRVO Nr. 117 (ArbBl. f.d. brit. Z. 1948 S. 2); in Kraft 1.1.1948.

Bayern: VO vom 24.11.1948 (GVBl. 1949 S. 25) in der Fassung der Zweiten VO über Arbeitslosenfürsorge vom 30.5.1949 (GVBl. S. 172); in Kraft: 1.12.1948/1.6.1949. Württ.-Baden: VO Nr. 734 vom 20.1.1949 (RegBl.S.50) in der Fassung der VO Nr. 740 vom 20.8.1949 (RegBl.S.221); in Kraft: 15.1.1949/1.6.1949.

Hessen: VO vom 5.7.1948 (GVBl. S. 84) in der Fassung der VO vom 3.6.1949 (GVBl. S. 83); in Kraft: 12.7.1948/1.6.1949.

Bremen: VO vom 15.8.1949 (GBl. S. 167); in Kraft: 15.8.1949.

Rheinland-Pfalz: LG vom 1.3.1950 (GVBl. S. 57); in Kraft: 4.3.1950.

Württ.-Hohenzollern: VO vom 7.10.1949 (RegBl.S. 420); in Kraft: 3.11.1949.

Baden: VO vom 16.9.1949 (GVBl. S. 441); in Kraft: 3.12.1949.

Von diesen Rechtsgrundlagen unterscheidet sich das Berliner Gesetz über die Arbeitslosenfürsorge u.a. wesentlich in den folgenden Einzelheiten:

Bei den Voraussetzungen für die Gewährung von Arbeitslosenfürsorge bezieht sich das Berliner Gesetz (§ 1 Abs. 3) auf eine sinngemäße Anwendung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) in der Fassung vom 12. Oktober 1929 (RGBl. I S. 162), die im Bundesgebiet keine Gültigkeit mehr hat. § 3 des Berliner Gesetzes über die Arbeitslosenfürsorge verweist zum Begriff der Bedürftigkeit auf § 7 Abs. 2 und 4 des Gesetzes über die Regelung der Arbeitslosenunterstützung in Großberlin vom 25. April 1949 (VOBl. I S. 145). Das Berliner Gesetz enthält u.a. als wesentlichen Unterschied gegenüber den sonstigen Regelungen im Bundesgebiet nicht die Einschränkung, daß der Familienzuschlag auch dann nicht gewährt wird, wenn der Angehörige in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt aus eigenen Kräften und Mitteln zu beschaffen. Dagegen findet der Begriff der Arbeitsfähigkeit (§ 2 des Berliner Gesetzes über die Arbeitslosenfürsorge, § 88 AVAVG) insofern eine Erweiterung gegenüber den Bestimmungen im Bundesgebiet, als durch § 51 der Satzung der Versicherungsanstalt Berlin als erwerbsunfähig gilt, wer als Mann das 65. Lebensjahr und als Frau das 60. Lebensjahr vollendet hat und nicht mehr erwerbstätig ist (1. Durchführungsbestimmung vom 15.12.1949 - VOBl. I S. 2). § 7 des Berliner Gesetzes über die Arbeitslosenfürsorge geht schließlich bei seinen Ausnahmen von der Anrechnung über die sonstigen Ländergesetze hinaus. Diese mannigfachen Unterschiede sowie Ausmaß und Grad der Abweichungen zwischen den Vorschriften des Berliner Gesetzes über die Arbeitslosenfürsorge und den während seiner Geltungsdauer in den anderen Ländern des Bundesgebiets hierzu geltenden Bestimmungen lassen die Absicht des Berliner Gesetzgebers erkennen, die Gewährung der Arbeitslosenfürsorge in seinem Bereich aus eigener Zuständigkeit und durch eine besondere Rechtsquelle zu regeln. Die im Berliner Recht der Arbeitslosenfürsorge anzutreffenden Eigenheiten sind aber nicht zufälliger Natur, sondern im wesentlichen bewußt und gewollt mit Rücksicht auf die besonderen Berliner Verhältnisse herbeigeführt worden, da die ungünstige wirtschaftliche Lage dort und die schwierigen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt hierzu begründeten Anlass boten. Soweit einzelne Vorschriften des Berliner Gesetzes über die Arbeitslosenfürsorge und einschlägige Bestimmungen in den anderen Ländern gleichlauten, ist dennoch die nach § 162 Abs. 2 SGG für die Revisibilität erforderliche Identität der Rechtsnormen nicht hergestellt. Alsdann beruht nämlich die inhaltliche Übereinstimmung nicht auf dem Bewußtsein und dem Willen des Berliner Gesetzgebers, sein Arbeitslosenfürsorgerecht mit dem sonst in dem Bundesgebiet geltenden zu vereinheitlichen, sondern es haben ihm lediglich jene Regelungen der anderen Länder, die sämtlich (mit Ausnahme von Rheinland-Pfalz) vorher erlassen und in Kraft getreten waren, als Anhalt gedient. Dies genügt aber nicht, um die Voraussetzung der bewußten und gewollten inhaltlichen Übereinstimmung zu erfüllen (vgl. BGHZ. 7, 299).

Die Revision kann daher weder auf die materiellen Vorschriften des Berliner Gesetzes über die Arbeitslosenfürsorge selbst noch auf die hierzu ergangenen Durchführungsbestimmungen gestützt werden. Dadurch ist aber auch die Nachprüfung der Anwendung des § 177 AVAVG ausgeschlossen, weil diese Norm nur auf Grund des § 1 Abs. 3 des Berliner Alfu-Gesetzes für den Bereich der Arbeitslosenfürsorge Geltung besitzt. Eine Nachprüfung der §§ 1601 ff. sowie des § 1613 BGB kommt im Rahmen der vom Landessozialgericht zugelassenen Revision nicht in Betracht. Die Rüge einer Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 GG) hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht aufrecht erhalten.

Nach alledem erweist sich die Revision als unbegründet; sie war deshalb nach § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Festsetzung der Gebühr für die Berufstätigkeit des Rechtsanwalts der Klägerin (Revisionsbeklagten) folgt aus § 196 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2297045

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