Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Beschluss vom 23.06.1994)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird der Beschluß des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 23. Juni 1994 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen der Folgen eines am 22. Dezember 1989 erlittenen Arbeitsunfalls. Die Beklagte verneinte den Anspruch, weil Unfallfolgen und eine meßbare Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) aus dem Arbeitsunfall nicht zurückgeblieben seien (Bescheid vom 26. März 1992 idF des Widerspruchsbescheides vom 15. September 1992).

Das Sozialgericht Oldenburg (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 13. April 1994). Zur Begründung heißt es im wesentlichen, die Beschwerden des Klägers seien mangels festgestellter Verletzungsfolgen auf allgemeine Alters- und Aufbrauchserscheinungen im Wirbelsäulenbereich zurückzuführen.

Im Berufungsverfahren hat der Berichterstatter mit Verfügung vom 15. Juni 1994 den Kläger auf das Recht hingewiesen, einen Antrag nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zu stellen und ihm hierzu eine Äußerungsfrist bis zum 10. Juli 1994 gesetzt. Zugleich hat der Berichterstatter die Beteiligten darauf hingewiesen, daß er erwäge, dem Senat des Landessozialgerichts (LSG) vorzuschlagen, gemäß § 153 Abs 4 SGG durch Beschluß ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden; den Beteiligten werde „auch hierzu Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben innerhalb der oa Frist”.

Das LSG Niedersachsen hat durch Beschluß vom 23. Juni 1994 (zugestellt am 2. Juli 1994) gemäß § 153 Abs 4 SGG die Berufung ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es auf das erstinstanzliche Urteil in vollem Umfang Bezug genommen und ausgeführt, im Berufungsverfahren seien keine neuen tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkte hervorgetreten, insbesondere habe der Kläger keine neuen medizinischen Befunde oder Äußerungen vorgelegt, die Veranlassung zu weiteren Ermittlungen gegeben hätten.

Mit Schriftsatz vom 30. Juni 1994 hat der Kläger einen Antrag nach § 109 SGG gestellt und der angekündigten Entscheidung des LSG gemäß § 153 Abs 4 SGG widersprochen, weil aufgrund der vorliegenden Sachlage und des noch einzuholenden Beweises nach seiner Auffassung eine mündliche Verhandlung unerläßlich sei.

Mit der – vom Senat zugelassenen – Revision rügt der Kläger, der angefochtene Beschluß beruhe auf einer Verletzung des Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes (GG), § 153 Abs 4 Satz 2 SGG und § 109 SGG. Das LSG habe verfahrensfehlerhaft die vom Berichterstatter gesetzte Frist zur Stellung eines Antrags nach § 109 SGG nicht abgewartet. Sein Anspruch auf rechtliches Gehör sei auch dadurch verletzt worden, daß das LSG die vom Berichterstatter gesetzte Frist, zu der beabsichtigten Entscheidung durch Beschluß nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG Stellung zu nehmen, ebenfalls nicht abgewartet habe.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

den Beschluß des LSG Niedersachsen vom 23. Juni 1994, das Urteil des SG Oldenburg vom 13. April 1994 sowie den Bescheid der Beklagten vom 26. März 1992 idF des Widerspruchsbescheides vom 15. September 1992 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 22. Dezember 1989 ab 7. Januar 1990 Verletztengeld zu zahlen,

hilfsweise, den Rechtsstreit unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Niedersachsen zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Sie meint, auf Grund des bestehenden Verfahrensmangels sei die Sache an das LSG zurückzuverweisen. Aus materiell-rechtlicher Sicht sei dem Beschluß des LSG allerdings zuzustimmen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Dem Kläger ist, wie er zu Recht rügt, das rechtliche Gehör versagt worden.

Das LSG hat gegen Art 103 GG sowie gegen §§ 62 und 128 Abs 2 SGG verstoßen. Der darin normierte Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet die Gerichte, selbstgesetzte Äußerungsfristen zu beachten und mit der Entscheidung bis zum Ablauf der Äußerungsfrist zu warten, auch wenn sie die Sache für entscheidungsreif halten (st Rspr des Bundesverfassungsgerichts, s ua BVerfGE 12, 110, 113; 42, 243, 247; 46, 313, 314 f; 64, 224, 227).

Das LSG hat zwar nicht verkannt, daß es verpflichtet war, vor einer Entscheidung über die Berufung durch Beschluß dem Kläger nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG rechtliches Gehör zu gewähren. Das zeigt die Verfügung vom 15. Juni 1994, mit der den Beteiligten eine Äußerungsfrist bis zum 10. Juli 1994 zur vorgesehen Entscheidung nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG eingeräumt worden ist und mit der der Kläger auf sein Recht hingewiesen worden ist, innerhalb dieser Frist einen Antrag nach § 109 SGG zu stellen. Mit seiner Entscheidung vom 23. Juni 1994 hat das LSG den von ihm selbst gesetzten Ablauf der Frist allerdings nicht abgewartet.

Auf diesem Verfahrensmangel kann die Entscheidung des LSG auch beruhen. Denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG nach Einholung des vom Kläger rechtzeitig beantragten Gutachtens nach § 109 SGG aufgrund möglicherweise neuer medizinischer Befunde zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis in bezug auf die Unfallfolgen und die daraus resultierende MdE-Bewertung gelangt wäre.

Allein aus diesem Grund war die Sache daher unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173569

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