Entscheidungsstichwort (Thema)
Hilflosigkeit
Leitsatz (amtlich)
Die Tatfrage, ob Hilflosigkeit im Sinne des BVG § 35 Abs 1 besteht, darf nicht allein auf Grund ärztlicher Schlußfolgerungen beantwortet werden, diese Frage ist vielmehr auf Grund der allgemeinen Lebenserfahrung unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände des einzelnen Falles zu entscheiden; dazu ist im einzelnen zu ermitteln, ob und in welchen Umfangs der Beschädigte nicht mehr in der Lage ist, die regelmäßig wiederkehrenden und notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens allein vorzunehmen.
Leitsatz (redaktionell)
Zum Begriff der Hilflosigkeit:
Der Umstand, daß ein Beschädigter einer Beschäftigung nachgeht, braucht Hilflosigkeit nicht auszuschließen.
Normenkette
BVG § 35 Fassung: 1957-07-01; SGG § 103 Fassung: 1953-09-03, § 128 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 5. Dezember 1956 wird aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Durch Bescheid vom 24. März 1951 erkannte das Versorgungsamt N bei dem Kläger
1. Verlust des rechten Oberarms im oberen Drittel,
2. Schädigung des oberen Armplexus links nach Schulterzerrung links mit Muskelathrophie linker Oberarm,
3. Schwerhörigkeit links
als Schädigungsfolgen nach dem Bayerischen Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) vom 26. März 1947 an; es gewährte ihm eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 90 v.H., jedoch nicht Pflegegeld; durch einen weiteren Bescheid vom 24. März 1951 wurden die Versorgungsbezüge des Klägers nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) in derselben Weise festgestellt; die Pflegezulage nach dem BVG wurde ebenfalls abgelehnt. Auf die Berufung des Klägers verurteilte das Oberversicherungsamt N am 15. September 1952 den Beklagten, dem Kläger für die Zeit vom 1. Februar 1947 bis zum 30. September 1950 Pflegegeld nach Stufe A in Höhe von monatlich 20,- DM und vom 1. Oktober 1950 an Pflegezulage in Höhe von monatlich 50,- DM zu gewähren. Hiergegen legte der Beklagte Rekurs beim Bayerischen Landesversicherungsamt ein, er begehrte die Aufhebung des Urteils insoweit, als dem Kläger ab 1. Oktober 1950 Pflegezulage zugebilligt worden war. Der Rekurs ging am 1. Januar 1954 als Berufung auf das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) über. Das LSG. hob durch Urteil vom 5. Dezember 1956 das Urteil des Oberversicherungsamts Nürnberg vom 15. September 1952 auf, soweit es die Pflegezulage für die Zeit vom 1. Oktober 1950 an betraf, und wies die Klage ab: Der Kläger sei nicht hilflos im Sinne des § 35 Abs. 1 BVG; der Chefarzt des Kreiskrankenhauses U. habe zwar die Ansicht vertreten, es bestehe - neben dem Verlust des rechten Armes - eine erhebliche Behinderung des linken Armes und der linken Hand, so daß der Kläger in erheblichem Umfange dauernd fremder Hilfe bedürfe, er habe jedoch eine ergänzende neurologische Untersuchung für notwendig gehalten; die neurologische Untersuchung in der Nervenklinik der Universität Würzburg habe nach dem Gutachten vom 25. August 1955 ergeben, daß bei dem Kläger nicht, wie bisher angenommen wurde, eine Schädigung des oberen Armplexus, sondern eine Lähmung des Serratusmuskels vorliege, dieser Muskel diene zur Fixierung des Schulterblattes, er sei vor allem zum Heben des Armes notwendig; bei der demonstrierten Schwäche der Armmuskeln handele es sich um eine psychogene Störung, der Kläger sei wegen des Verlustes des rechten Armes nicht so hilflos, daß er ohne fremde Hilfe und Wartung nicht bestehen könne; dabei handele es sich um eine Äußerung von maßgebender medizinischer Seite; auch aus der Tätigkeit des Klägers als Waldaufseher ergebe sich, daß er nicht dauernd fremder Hilfe bedürfe.
Die Revision ließ das LSG. zu: es handele sich um einen Grenzfall, bei dem zu prüfen sei, ob teilweise Hilflosigkeit die Gewährung einer Teilpflegezulage zulasse.
Das Urteil wurde dem Kläger am 24. Januar 1957 zugestellt. Am 8. Februar 1957 legte er Revision ein und beantragte,
das Urteil des Bayerischen LSG. vom 5. Dezember 1956 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Oberversicherungsamts N vom 15. September 1952 zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische LSG. zurückzuverweisen.
Zugleich begründete er die Revision:
Das LSG. habe den Begriff der Hilflosigkeit im Sinne von § 35 BVG verkannt; das Gesetz unterscheide nicht, wie es das LSG. getan habe, zwischen einer teilweisen und einer völligen Hilflosigkeit; der Begriff der Hilflosigkeit sei in den Verwaltungsvorschriften zu § 35 BVG erläutert, danach sei der Kläger hilflos; bei Prüfung dieser Frage habe sich das LSG. nicht auf die Ansicht der medizinischen Sachverständigen verlassen dürfen; zwar könnten aus einem ärztlichen Gutachten wichtige Anhaltspunkte für die Beurteilung der Hilflosigkeit entnommen werden, jedoch werde das Gericht dadurch von seiner Pflicht, eigene Feststellungen zu treffen, nicht befreit; die Tatsache, daß der Kläger Waldaufseher sei, reiche jedenfalls zur Verneinung der Hilflosigkeit nicht aus.
Der Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Der Kläger hat sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet; sie ist sonach zulässig. Die Revision ist auch begründet.
1. Zunächst ist von Amts wegen zu prüfen, ob das LSG. die Berufung des Klägers zu Recht als statthaft angesehen hat. Die Berufung ist nicht nach § 148 Nr. 3 SGG ausgeschlossen gewesen (vgl. BSG. 3 S. 271; BSG. 8 S. 130 (132)). Das Urteil im ersten Rechtszuge betrifft nicht die "Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse", es betrifft vielmehr die Erstfeststellung der Pflegezulage nach dem BVG. Ein früherer Bescheid, in dem erkennbar - bejahend oder verneinend - über die Pflegezulage entschieden worden ist, hat nicht vorgelegen. Die Berufung ist deshalb statthaft gewesen.
2. Nach § 35 BVG wird eine Pflegezulage gewährt, solange der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann. "Hilflos" ist derjenige Beschädigte, der für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, also nicht nur für einzelne Verrichtungen, ganz oder in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf; dabei ist nicht erforderlich, daß die Hilfe tatsächlich fortwährend geleistet wird, es genügt, daß die Hilfskraft ständig in Bereitschaft sein muß (BSG. 8 S. 97 (99) mit weiteren Hinweisen). Das LSG. hat dies zwar nicht verkannt, seine tatsächlichen Feststellungen reichen jedoch für die Beurteilung der Frage, ob der Kläger hilflos ist, nicht aus.
Das LSG. hat sich im wesentlichen auf das Gutachten des Chefarztes des Kreiskrankenhauses U. vom 14. März 1955 und auf das Gutachten der Ärzte der Nervenklinik W vom 25. August 1955 gestützt. Der Chefarzt des Kreiskrankenhauses U. hat die Ansicht vertreten, der Kläger bedürfe wegen Behinderung des linken Armes und der linken Hand "in erheblichem Umfange" dauernd fremder Hilfe; die Ärzte der Nervenklinik W haben demgegenüber angenommen, bei der demonstrierten Schwäche der Armmuskeln handele es sich um eine psychogene Störung, der Kläger sei wegen des Verlustes des rechten Armes und der Bewegungsbehinderung des linken Armes nicht so hilflos, daß er ohne fremde Hilfe und Wartung nicht bestehen könne; für einzelne Verrichtungen, bei denen man zwei Hände brauche und bei denen eine Hebung des Armes über die Waagerechte erforderlich sei, sowie beim Tragen und Stemmen von Lasten auf der Schulter brauche er aber fremde Hilfe; die Hilfe müsse jedoch nicht jederzeit zur Stelle sein. Diese ärztlichen Äußerungen reichen nicht aus, um beurteilen zu können, ob der Kläger hilflos im Sinne des § 35 Abs. 1 BVG ist. Ob ein Zustand der Hilflosigkeit besteht, ist eine Tatfrage, die nicht allein nach den ärztlichen Schlußfolgerungen beantwortet werden darf; diese Frage ist vielmehr auf Grund der allgemeinen Lebenserfahrung unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände des einzelnen Falles zu entscheiden; die Unterordnung der festgestellten Tatsachen unter den Begriff des Gesetzes betrifft die rechtlichen Schlußfolgerungen, die vom Gericht vorzunehmen sind (vgl. BSG. 8 S. 97 ff. (99). Das LSG. hat nicht festgestellt, welche Verrichtungen des täglichen Lebens im einzelnen der Kläger wegen der Behinderung seines linken Armes - unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der rechte Arm amputiert ist - nicht allein verrichten kann. Das LSG. hätte feststellen müssen, ob der Kläger in der Lage ist, z.B. sich allein an- und auszukleiden, die Speisen zu zerkleinern und zu sich zu nehmen, sich zu waschen, sich zu rasieren, die Notdurft zu verrichten, denn hierbei handelt es sich um die tatsächlich regelmäßig wiederkehrenden und notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens, die wichtig sind, wenn zu entscheiden ist, ob ein im Gebrauch seiner Arme behinderter Beschädigter einen Anspruch auf Pflegezulage hat. Der ärztliche Befund, daß der Kläger den linken Arm bis zur Waagerechten erheben kann, reicht insoweit nicht aus. Dem LSG. kann auch nicht darin gefolgt werden, daß sich aus der Tätigkeit des Klägers als Waldaufseher ohne weiteres ergebe, daß er nicht dauernd fremder Hilfe bedürfe; das LSG. hat nicht festgestellt, welche Aufgaben im einzelnen der Kläger als Waldaufseher zu erfüllen hat, es hat aus dieser Tätigkeitsbezeichnung nicht ohne weiteres schließen dürfen, er sei nicht hilflos im Sinne von § 35 BVG; Hilflosigkeit kann auch gegeben sein, wenn ein Beschädigter einer Beschäftigung nachgeht.
Unter diesen Umständen hat der Kläger mit Recht gerügt, das LSG. habe seiner Pflicht, den Sachverhalt aufzuklären (§ 103 SGG), nicht voll genügt und es habe nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens gewürdigt (§ 128 SGG); die Feststellungen des LSG. sind daher für das Bundessozialgericht nicht bindend (§ 163 SGG). Es ist möglich, daß das LSG., wenn es den Sachverhalt vollständig aufklärt, zu einem anderen Ergebnis kommt; das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben; da die tatsächlichen Feststellungen, die bisher vorliegen, eine Entscheidung nicht zulassen, ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen