Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. Bezifferung des Klageanspruchs. konkret benannte Verzögerungsmonate. Beschränkung des Streitgegenstands. Ermittlung der unangemessenen Verfahrensdauer. erster Corona-Lockdown von März bis Mai 2020. keine dem Staat zurechenbare Verzögerung
Normenkette
GVG § 198; SGG § 123; IfSG
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 20. Januar 2023 geändert und die Klage vollständig abgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen in voller Höhe zu tragen.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 300 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Zahlung einer weiteren Entschädigung wegen unangemessener Dauer des vor dem SG Berlin (Ausgangsgericht) zuletzt unter dem Aktenzeichen S 201 AS 5133/18 WA geführten Verfahrens auf Zuerkennung von Grundsicherungsleistungen.
Der Kläger ist griechischer Staatsangehöriger. Er beanspruchte mit seiner im November 2012 erhobenen Klage im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens Arbeitslosengeld II für die erste Hälfte des Jahres 2012, nachdem das beklagte Jobcenter die Leistungsgewährung abgelehnt hatte, weil er von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sei. Nach zweimaliger statistischer Erledigung der Klage wurde das Verfahren unter dem Aktenzeichen S 201 AS 5133/18 WA erneut eingetragen. Einen vom Ausgangsgericht Mitte Dezember 2019 telefonisch angebotenen Termin zur mündlichen Verhandlung für Februar 2020 lehnte der Prozessbevollmächtigte des Klägers wegen Verhinderung ab. Im März 2021 erhob der Kläger Verzögerungsrüge. Im Mai 2021 beraumte das Ausgangsgericht einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 22.6.2021 an. Das Klageverfahren wurde durch Urteil vom selben Tag mit Verurteilung des zwischenzeitlich beigeladenen Landes zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII beendet. Das Urteil wurde dem Kläger noch im selben Monat zugestellt.
Außergerichtlich machte der Kläger beim Beklagten einen Entschädigungsanspruch in Höhe von 1400 Euro geltend und berief sich auf Phasen der gerichtlichen Inaktivität von insgesamt 26 Kalendermonaten, und zwar von Februar 2019 bis Januar 2020 (zwölf Monate) und von April 2020 bis Mai 2021 (14 Monate). Der Beklagte erkannte lediglich einen Entschädigungsanspruch in Höhe von 900 Euro an. Dabei ging er von Zeiten gerichtlicher Inaktivität von Februar bis November 2019 (zehn Monate) sowie von Juni 2020 bis April 2021 (elf Monate) aus und billigte dem Ausgangsgericht - ebenso wie der Kläger - eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von zwölf Monaten zu.
Die im Dezember 2021 erhobene Entschädigungsklage hat der Kläger mit der "Schließung" des Ausgangsgerichts während des ersten Corona-Lockdowns in der Zeit von März bis Mai 2020 begründet. Zwischen den Beteiligten sei allein noch streitig, ob dies eine zusätzliche unangemessene Verzögerung darstelle. Er habe Anspruch auf Entschädigung in Höhe "weiterer mindestens 300 Euro". Er halte wegen der vorsätzlichen Verfahrensverzögerung durch das von der Gerichtsleitung veranlasste dreimonatige Herunterfahren des Dienstbetriebs eine höhere monatliche Entschädigung als den Pauschbetrag für angemessen, und zwar 200 Euro pro Monat.
Das Entschädigungsgericht hat den Beklagten zur Zahlung einer weiteren Entschädigung von 300 Euro verurteilt, im Übrigen aber die Klage abgewiesen. Die Inaktivität während der ersten Welle der Corona-Pandemie von März bis Mai 2020 sei keine dem Ausgangsgericht zuzurechnende Verzögerungszeit. Das Verfahren habe sich aber um vier andere Monate entschädigungspflichtig verzögert, und zwar im April 2016, im Januar 2019 sowie im Januar und Februar 2020. Diese Verzögerung sei im eingeklagten Umfang von drei Monaten zu berücksichtigen, obwohl der Kläger diese Monate nicht anspruchsbegründend geltend gemacht habe. Streitgegenstand sei ein Entschädigungsanspruch wegen unangemessener Dauer des vor dem Ausgangsgericht geführten Verfahrens. Welche konkreten Monate innerhalb einer Instanz zur Annahme unangemessener Verfahrensdauer führten, sei lediglich ein Begründungs- oder Berechnungselement, betreffe jedoch nicht den Klagegrund und ändere damit nicht den Streitgegenstand (Urteil vom 20.1.2023) .
Mit der Revision rügt der Beklagte die Verletzung des § 123 SGG . Das Entschädigungsgericht sei bei der Entscheidungsfindung an das Begehren des Klägers gebunden und nicht befugt gewesen, über nicht geltend gemachte Zeiten gerichtlicher Inaktivität zu entscheiden. Zu Unrecht vom Kläger beanspruchte Zeiträume könnten nicht mit anderen Zeiträumen verrechnet werden, die von seinem Klagebegehren nicht umfasst seien, selbst wenn das Entschädigungsgericht meine, ihm stehe für diese Zeiträume materiell-rechtlich eine Entschädigung zu. Außerdem sei dem Entschädigungsgericht der Streitgegenstand bereits durch das vorprozessuale Teilanerkenntnis teilweise entzogen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 20. Januar 2023 abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er beruft sich auf die Gründe des angefochtenen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Beklagten ist begründet ( § 170 Abs 2 Satz 1 SGG ) . Das Urteil des Entschädigungsgerichts beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht ( § 162 SGG ) und stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar ( § 170 Abs 1 Satz 2 SGG ). Der Senat kann insoweit auf Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des Entschädigungsgerichts ( § 163 SGG ) in der Sache selbst entscheiden und unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Entschädigungsklage des Klägers insgesamt abweisen.
Das Entschädigungsgericht hat zu Unrecht entschieden, dass dem Kläger nach § 198 Abs 1 Satz 1 GVG ein Anspruch auf Entschädigung in Höhe weiterer 300 Euro wegen unangemessener Dauer des von ihm vor dem Ausgangsgericht zuletzt unter dem Aktenzeichen S 201 AS 5133/18 WA geführten Klageverfahrens zusteht. Der vom Beklagten formgerecht gerügte Verfahrensfehler der Verletzung des § 123 SGG liegt vor. Das Entschädigungsgericht hat den Streitgegenstand verkannt und dem Kläger eine Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer für Zeiträume zugesprochen, die dieser mit seiner Klage nicht geltend gemacht hatte (dazu unter 1.) Das angefochtene Urteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar. Insofern ist das Entschädigungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass dem Kläger für die Monate März bis Mai 2020 (erster Corona-Lockdown) keine Entschädigung zusteht. Auf Grundlage der diesbezüglichen tatsächlichen Feststellungen des Entschädigungsgerichts ( § 163 SGG ) konnte der Senat in der Sache selbst entscheiden und die Entschädigungsklage insgesamt abweisen (dazu unter 2.) .
Die zulässige Entschädigungsklage des Klägers ist unbegründet.
Nach § 202 Satz 2 SGG iVm § 198 Abs 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Ein solcher Anspruch steht dem Kläger zwar wegen des vor dem Ausgangsgericht geführten Klageverfahrens zu; allerdings nicht für die hier allein streitgegenständlichen Monate März bis Mai 2020.
1. Entgegen der Rechtsansicht des Klägers und des Entschädigungsgerichts beschränkt sich der Streitgegenstand des Entschädigungsklageverfahrens auf die Monate März bis Mai 2020. Der Beklagte rügt insoweit zu Recht eine Verletzung des § 123 SGG . Das Entschädigungsgericht durfte die von ihm als entschädigungspflichtig angenommenen Verzögerungsmonate April 2016, Januar 2019 sowie Januar und Februar 2020 einer Verurteilung des Beklagten nicht zugrunde legen.
Denn der Kläger hat sein Entschädigungsbegehren und damit den Streitgegenstand dem Grunde und der Höhe nach auf die drei Verzögerungsmonate im ersten Corona-Lockdown von März bis Mai 2020 beschränkt (dazu unter a) . Dies ergibt sich aus der Auslegung der Klageschrift, zu der auch der Senat in vollem Umfang berechtigt ist. Danach ist das Klagebegehren des Klägers so zu verstehen, dass es sich ausschließlich auf eine Entschädigung für die Verzögerung des Ausgangsverfahrens in den Monaten März bis Mai 2020 bezieht (dazu unter b). Das Entschädigungsgericht durfte deshalb die Verurteilung des Beklagten zur Entschädigungszahlung nicht auf die von ihm als entschädigungspflichtig angenommenen Verzögerungsmonate April 2016, Januar 2019 sowie Januar und Februar 2020 stützen (dazu unter c) .
a) Der Streitgegenstand bestimmt sich in Entschädigungsklageverfahren nicht nur durch den Klageantrag, sondern auch durch den Klagegrund, also den Lebenssachverhalt, aus dem der Kläger die von ihm begehrte Rechtsfolge ableitet (vgl BGH Urteil vom 15.12.2022 - III ZR 192/21 - BGHZ 236, 10 - juris RdNr 73; zum zweigliedrigen sozialgerichtlichen Streitgegenstandsbegriff vgl auch BSG Urteil vom 26.3.2014 - B 10 EG 2/13 R - juris RdNr 9 ) . Dies ist Folge der auch für das sozialgerichtliche Verfahren maßgebenden Dispositionsmaxime nach § 123 SGG , wonach das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche entscheidet, ohne an die Fassung seiner Anträge gebunden zu sein.
Der Entschädigungsanspruch für immaterielle Nachteile aus § 198 Abs 2 Satz 3 und ggf Satz 4 GVG (1200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung und ggf bei Unbilligkeit im Einzelfall ein höherer oder niedrigerer Betrag) ist zeitbezogen geltend zu machen, wodurch zugleich der Streitgegenstand des Verfahrens festgelegt wird ( BGH Urteil vom 15.12.2022 - III ZR 192/21 - BGHZ 236, 10 - juris RdNr 79). Nach übereinstimmender Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes ist es einem Entschädigungskläger deshalb zuzumuten, sich in seinem Klageantrag auf die Annahme einer bestimmten Dauer der Verzögerung festzulegen und seinen Antrag danach auszurichten (vgl BSG Urteil vom 13.12.2018 - B 10 ÜG 4/16 R - SozR 4-1500 § 92 Nr 5 RdNr 14; BGH Urteil vom 15.12.2022, aaO RdNr 74; BFH Urteil vom 6.6.2018 - X K 2/16 - juris RdNr 54 ; BFH Urteil vom 12.7.2017 - X K 3-7/16 - BFHE 259, 393 - juris RdNr 52 , jeweils mwN) . Ein Entschädigungskläger muss daher die für die Bemessung der Höhe des Anspruchs erforderlichen Tatsachen benennen und die Größenordnung der geltend gemachten Entschädigung (etwa einen Mindestbetrag) angeben (BSG Urteil vom 13.12.2018, aaO RdNr 14; BGH Urteil vom 23.1.2014 - III ZR 37/13 - BGHZ 200, 20 - juris RdNr 56; BVerwG Urteil vom 26.2.2015 - 5 C 5/14 D - juris RdNr 15 ; BFH Urteil vom 12.7.2017, aaO RdNr 52) . Er braucht sich jedoch nicht auf bestimmte Verfahrensabschnitte des Ausgangsverfahrens, geschweige denn auf einzelne Kalendermonate der Verzögerung zeitlich zu fixieren. Tut er dies dennoch, begrenzt er nach § 123 SGG den Streitgegenstand und damit den zulässigen Entscheidungsumfang des Entschädigungsgerichts.
b) Eine solche Begrenzung des Streitgegenstands hat der Kläger vorgenommen, indem er sein Entschädigungsbegehren dem Grunde und der Höhe nach auf die Monate März bis Mai 2020 beschränkt hat. Allein diese Monate hat er zur Begründung seines bezifferten Klageantrags in Höhe weiterer mindestens 300 Euro in der Klageschrift angeführt und dies ausweislich des Sitzungsprotokolls in der mündlichen Verhandlung vor dem Entschädigungsgericht nochmals bekräftigt.
Das Gericht entscheidet nach § 123 SGG über die vom Entschädigungskläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung seiner Anträge gebunden zu sein. Das Gewollte, also das mit der Klage verfolgte Prozessziel, ist dabei im Wege der Auslegung festzustellen ( BSG Urteil vom 13.12.2018 - B 10 ÜG 4/16 R - SozR 4-1500 § 92 Nr 5 RdNr 17) . Prozesserklärungen - wie der den Streitgegenstand bestimmende Klageantrag - unterliegen im vollen Umfang der gerichtlichen Überprüfung durch das Revisionsgericht ( BSG Urteil vom 12.12.2023 - B 1 KR 17/22 R - juris RdNr 13 ) . Es besteht insoweit auch keine Bindung an die von den Tatsachengerichten vorgenommene Auslegung oder die dafür herangezogenen Feststellungen. In entsprechender Anwendung der Auslegungsregel des § 133 BGB ist der wirkliche Wille zu erforschen. Dabei sind nicht nur der Wortlaut, sondern auch die sonstigen Umstände des Falls, die für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbar sind, zu berücksichtigen, insbesondere der Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten. Im Zweifel ist davon auszugehen, dass der Kläger unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips alles begehrt, was ihm aufgrund des Sachverhalts rechtlich zusteht (vgl BSG Urteil vom 13.12.2018 - B 10 ÜG 4/16 R - SozR 4-1500 § 92 Nr 5 RdNr 17 mwN).
Nach diesen Maßstäben ist das Klagebegehren des Klägers so zu verstehen, dass es sich ausschließlich auf eine Entschädigung für die Verzögerung des Ausgangsverfahrens in den Monaten März bis Mai 2020 bezieht. Dies ergibt sich aus der Klageschrift vom 20.12.2021, die den Hinweis enthält, geltend gemacht werde "eine weitere Entschädigung für die Monate März bis Mai 2020". "Streitig" sei "allein", ob die "Schließung" des Ausgangsgerichts in dieser Zeit wegen des ersten Corona-Lockdowns eine unangemessene Verzögerung begründe. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Entschädigungsgericht am 20.1.2023 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers ausweislich des Sitzungsprotokolls nochmals bekräftigt, dass es "hier um den Zeitraum von März bis Mai 2020" gehe. Dieses Klagebegehren erklärt sich aus dem Ergebnis der vorgerichtlichen Verhandlungen zwischen den Beteiligten und dem vom Beklagten abgegebenen Teilanerkenntnis. Damit hat der Beklagte anerkannt, dass das Ausgangsverfahren von Februar 2019 bis November 2019 und von Juni 2020 bis April 2021 nicht bearbeitet worden ist. Hingegen ist der Beklagte der Rechtsansicht des Klägers entgegengetreten, auch die Verzögerung in den Monaten März bis Mai 2020 sei ihm zuzurechnen und führe zu einem (weiteren) Entschädigungsanspruch. Dieser Argumentation des Beklagten hat der Kläger bei Klageerhebung abermals ausdrücklich widersprochen. Das dreimonatige Herunterfahren des Dienstbetriebs am Ausgangsgericht während des ersten Corona-Lockdowns sei unangemessen gewesen. Angesichts dieser "vorsätzlichen Verfahrensverzögerung" und der fehlenden Einsicht des Beklagten sei sogar eine Anhebung der monatlichen Entschädigung von regelhaft 100 Euro auf 200 Euro pro Monat - also insgesamt weitere 600 Euro - angemessen. Von diesem Begehren ausgehend hat der Kläger seinen Klageantrag insoweit folgerichtig auch als Mindestforderung (in Höhe "weiterer mindestens 300 Euro") formuliert und die aus seiner Sicht für die Ermessensausübung des Gerichts nach § 198 Abs 2 Satz 4 GVG maßgeblichen tatsächlichen Grundlagen und die Größenordnung des festzusetzenden (höheren) Anspruchs als die Regelpauschale benannt (vgl zur Zulässigkeit insoweit BSG Urteil vom 13.12.2018 - B 10 ÜG 4/16 R - SozR 4-1500 § 92 Nr 5 RdNr 14; BGH Urteil vom 23.1.2014 - III ZR 37/13 - BGHZ 200, 20 - juris RdNr 56) .
Der Senat kann dahinstehen lassen, ob der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Entschädigungsgericht - einem richterlichen Hinweis folgend - seine Klage auf andere Monate des Ausgangsverfahrens erweitert hat. Eine solche nachträgliche Änderung des Klagegrunds würde eine Klageänderung iS des § 99 Abs 1 SGG darstellen. Unabhängig von der Frage, ob diese prozessual zulässig gewesen wäre, weil sich der Beklagte auf die neue Klage rügelos eingelassen hätte ( § 99 Abs 2 SGG ) , ist dann aber nach ständiger Rechtsprechung des BSG über die Zulässigkeit der geänderten Klage zu entscheiden. Infolgedessen müssen für die geänderte Klage sämtliche Sachurteilsvoraussetzungen vorliegen (vgl zB BSG Urteil vom 23.4.2015 - B 5 RE 23/14 R - BSGE 118, 294 = SozR 4-2600 § 2 Nr 20, RdNr 12; Guttenberger in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 99 RdNr 55 f, mwN) . Hierzu gehört auch die Klagefrist (vgl LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 17.2.2021 - L 37 SF 123/20 EK AS - juris RdNr 14 ) . Zumindest daran fehlte es hier. Denn die im Protokoll der mündlichen Verhandlung festgehaltene Erklärung des Klägers, das Entschädigungsgericht sei "nicht daran gehindert, über andere als seitens des Klägers ausdrücklich geltend gemachte Monate zu entscheiden", konnte jedenfalls die Klagefrist des § 198 Abs 5 Satz 2 GVG (spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung des Ausgangsgerichts) nicht mehr wahren. Bei der Klagefrist des § 198 Abs 5 Satz 2 GVG handelt es sich um eine nicht wiedereinsetzungsfähige materiell-rechtliche Ausschlussfrist ( BSG Urteil vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 1/17 R - SozR 4-1710 Art 23 Nr 5 RdNr 22 und 29; BSG Urteil vom 10.7.2014 - B 10 ÜG 8/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 2 RdNr 12; BSG Beschluss vom 19.12.2019 - B 10 ÜG 2/19 RH - juris RdNr 8 ) , nach deren Ablauf materiell eine Verwirkung des Entschädigungsanspruchs eintritt (vgl BFH Urteil vom 20.3.2019 - X K 4/18 - BFHE 263, 498 - juris RdNr 43; OLG Karlsruhe Urteil vom 1.10.2013 - 23 SchH 13/12 EntV, 23 SchH 13/12 - juris RdNr 16; Ott in Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangenGerichtsverfahren, 2013, § 198 GVG RdNr 255).
c) Nach alledem hat der Kläger sein Entschädigungsbegehren für eine weitergehende Verurteilung des Beklagten dem Grunde und der Höhe nach auf die drei Verzögerungsmonate im ersten Corona-Lockdown von März bis Mai 2020 beschränkt. Damit hat er den Streitgegenstand und den Entscheidungsumfang des Gerichts gemäß § 123 SGG für das Entschädigungsverfahren verbindlich festgelegt und begrenzt. Das Entschädigungsgericht durfte die von ihm als entschädigungspflichtig angenommenen Verzögerungsmonate April 2016, Januar 2019 sowie Januar und Februar 2020 einer Verurteilung des Beklagten zur Entschädigungszahlung nicht zugrunde legen, weil diese von dem Begehren des Klägers nicht umfasst waren (vgl BGH Urteil vom 15.12.2022 - III ZR 192/21 - BGHZ 236, 10 - juris RdNr 79) .
2. Das angefochtene Urteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar ( § 170 Abs 1 Satz 2 SGG ) . Der hier allein streitgegenständliche Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung für die Verzögerung des Ausgangsverfahrens in den Monaten März bis Mai 2020 steht dem Kläger nicht zu. Zwar hat der Kläger im Ausgangsverfahren ordnungsgemäß Verzögerungsrüge erhoben (dazu unter a) . Zutreffend gehen der Beklagte und das Entschädigungsgericht aber davon aus, dass die mit dem ersten Corona-Lockdown einhergehende Verfahrensverzögerung von März bis Mai 2020 nicht dem staatlichen Verantwortungsbereich zuzuordnen ist. Sie ist daher entschädigungsrechtlich irrelevant. Dabei ist nach Ansicht des Senats in diesem Zeitabschnitt nicht zwischen Einschränkungen des Sitzungs- und des sonstigen Geschäftsbetriebs der Sozialgerichte zu unterscheiden. Erfasst werden vielmehr Verzögerungen jeglicher Art (dazu unter b) .
a) Der Kläger hat beim Ausgangsgericht am 16.3.2021 wirksam Verzögerungsrüge erhoben. Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter nach § 198 Abs 3 Satz 1 GVG nur, wenn er bei dem Ausgangsgericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat. Die Verzögerungsrüge kann erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird ( § 198 Abs 3 Satz 2 Halbsatz 1 GVG ) . Eine solche Besorgnis der Verzögerung lag aus der maßgeblichen ex-ante Perspektive eines verständigen Rügeführers hier vor (vgl hierzu BSG Urteil vom 9.3.2023 - B 10 ÜG 2/21 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 23 RdNr 28 f) . Denn zum Zeitpunkt der Erhebung der Verzögerungsrüge im März 2021 dauerte das Verfahren bereits 101 Monate und nach dem gescheiterten Versuch einer Terminierung durch das Ausgangsgericht im Dezember 2019 war für den Kläger nicht absehbar, wann mit einem Fortgang und einer Entscheidung des Verfahrens zu rechnen war.
b) Zutreffend ist das Entschädigungsgericht davon ausgegangen, dass die von ihm festgestellte Inaktivitätszeit in der ersten Phase der Corona-Pandemie nicht dem Ausgangsgericht anzulasten ist. Denn die mit dem ersten Corona-Lockdown einhergehenden Verfahrensverzögerungen im Zeitraum von März bis Mai 2020 sind nicht dem staatlichen Verantwortungsbereich zuzuordnen und deshalb dem Beklagten für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs 1 Satz 2 GVG nicht zuzurechnen. Dies gilt für diesen Zeitabschnitt unterschiedslos und generell für coronabedingte Verzögerungen sowohl im Sitzungs- als auch für den sonstigen Geschäftsbetrieb der Sozialgerichte. Erfasst werden Verzögerungen jeglicher Art.
Dass Umstände außerhalb des staatlichen Verantwortungsbereichs, die das Verfahren verlängern, keinen Entschädigungsanspruch auslösen, ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte sowie dem Sinn und Zweck des § 198 GVG . Die Gesetzesmaterialien führen insoweit aus, der für einen Entschädigungsanspruch maßgebliche Tatbestand sei die Verletzung des Anspruchs eines Verfahrensbeteiligten aus Art 19 Abs 4 GG , Art 20 Abs 3 GG und aus Art 6 Abs 1 EMRK auf Entscheidung seines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit ( BT-Drucks 17/3802 , S 18) . Gegenüber diesen Rechten, die sich nicht nur an das zur Entscheidung berufene Gericht, sondern maßgeblich an die staatlich verfasste Gemeinschaft richten, könne sich der Staat nicht rechtfertigend auf Umstände innerhalb seines Verantwortungsbereichs berufen. Vielmehr müsse er "alle notwendigen Maßnahmen" treffen, damit Gerichtsverfahren in angemessener Zeit beendet werden könnten ( BT-Drucks 17/3802 , S 19) . Im Umkehrschluss folgt daraus, dass das Verfahren verlängernde Umstände, die der Staat auch bei Ergreifen aller notwendigen Maßnahmen nicht vermeiden kann, seine Entschädigungspflicht nicht begründen können (vgl BSG Urteil vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 2/20 R - BSGE 134, 18 = SozR 4-1720 § 198 Nr 22, RdNr 42; BFH Urteil vom 27.10.2021 - X K 5/20 - BFHE 274, 485 - juris RdNr 33 ff; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 2.8.2023 - L 11 SF 269/22 EK AS - juris RdNr 49 ; vgl auch EGMR Urteil vom 16.7.2009 - 8453/04 - juris RdNr 53, der insoweit von " höherer Gewalt " spricht).
Einen solchen besonderen Fall von höherer Gewalt stellte die Corona-Pandemie (auch) mit ihren Auswirkungen auf den laufenden Justizbetrieb in der Sozialgerichtsbarkeit jedenfalls in ihrer Anfangsphase dar.
Die Weltgesundheitsorganisation hatte am 11.3.2020 den weltweiten Ausbruch der durch das Corona-Virus SARS-Cov-2 ausgelösten Covid-19-Erkrankungen zur Pandemie erklärt. Dabei handelte es sich um ein außergewöhnliches und auch in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beispielloses Ereignis (so bereits BFH Urteil vom 27.10.2021 - X K 5/20 - BFHE 274, 485 - juris RdNr 44) . Am 25.3.2020 stellte der Deutsche Bundestag eine epidemische Lage von nationaler Tragweite fest (Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages 19/24 S 19169; s § 5 Abs 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz ≪IfSG≫ in der Fassung des am selben Tag vom Bundestag beschlossenen und nach Zustimmung des Bundesrats ( BR-Drucks 151/20 ) drei Tage später am 28.3.2020 in Kraft getretenen Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27.3.2020, BGBl I 587) .
Es bestand die Gefahr der Infektion vieler Menschen und infolgedessen einer Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen bei der Behandlung schwerwiegender Fälle, in denen die Erkrankung schlimmstenfalls zum Tod führen konnte (vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 10.4.2020 - 1 BvQ 28/20 - juris RdNr 13; BVerfG Beschluss vom 19.11.2021 - 1 BvR 781/21 ua - BVerfGE 159, 223 - juris RdNr 126 - "Bundesnotbremse I"; vgl auch BVerfG Beschluss vom 19.11.2021 - 1 BvR 971/21 ua - BVerfGE 159, 355 ff - juris RdNr 155 - "Bundesnotbremse II"). Zu dieser Bewertung gerade in der frühen Phase der Pandemie gelangte auch das Robert-Koch-Institut (RKI). Die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland wurde insgesamt als hoch eingeschätzt, für Risikogruppen sogar als sehr hoch (vgl hierzu im Einzelnen die täglichen Lageberichte des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 ≪COVID-19≫ im hier relevanten Zeitraum März 2020 ≪ab 4.3.2020≫ bis Mai 2020 ≪31.5.2020≫, online abrufbar beim RKI im Archiv der Situationsberichte des RKI zu COVID-19).
Als Reaktion hierauf wurden bundesweit auf der Grundlage des IfSG in schneller Folge unter Anpassung an das sehr dynamische und äußerst bedrohliche Infektionsgeschehen ab März 2020 auch diverse bundes- und landesrechtliche Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Corona-Virus und zum Schutz der Bevölkerung ergriffen. Die Länder erließen Corona-Schutzverordnungen, in denen sie die Einhaltung von Abständen regelten, Hygienevorschriften aufstellten, Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen erließen sowie Veranstaltungen und Versammlungen weitgehend untersagten (vgl Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2020, S 20 ff; BFH Urteil vom 27.10.2021 - X K 5/20 - BFHE 274, 485 - juris RdNr 42) .
Auch der Berliner Senat hat in rascher Folge eine Vielzahl solcher Corona-Schutzverordnungen erlassen. So wurden zu Beginn der Pandemie gemäß § 1 Abs 1 Satz 1 der Verordnung über erforderliche Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in Berlin (SARS-CoV-2-EindmaßnV) vom 17.3.2020 (GVBl 2020, 213) mit Wirkung vom 18.3.2020 zunächst öffentliche und nicht öffentliche Veranstaltungen, Versammlungen und Ansammlungen mit mehr als 50 Teilnehmenden und sodann nur wenige Tage später gemäß § 4 Abs 1 der SARS-CoV-2-EindmaßnV vom 22.3.2020 (GVBl 2020, 220) mWv 23.3.2020 schließlich sogar ganz untersagt. Hiervon ausgenommen waren jedoch nach Abs 2 der Vorschrift Veranstaltungen und Zusammenkünfte, einschließlich Sitzungen ua auch der Gerichte. Weiter ausdrücklich möglich waren zudem noch ua die Wahrnehmung dringend erforderlicher Termine bei Gerichten und Rechtsantragstellen (§ 14 Abs 3 Buchst n SARS-CoV-2-EindmaßnV idF vom 22.3.2020).
Ausgehend von dieser Verordnungslage zu Kontaktbeschränkungen zum Schutz der Bevölkerung zwecks Eindämmung der Ausbreitung des potentiell tödlichen Corona-Virus hatte auch das Ausgangsgericht darüber zu entscheiden, in welchem Umfang und in welcher Weise die gerichtlichen Verfahren während der Pandemie weiterbetrieben werden. Die exemplarisch genannten normativen Maßnahmen betrafen - schon mit Blick auf die durch Art 97 Abs 1 GG im Interesse einer geordneten Rechtspflege geschützte richterliche Unabhängigkeit - zwar nicht unmittelbar die richterliche Tätigkeit, beeinflussten aber neben der Funktionsfähigkeit auch die Erreichbarkeit des Gerichts vor allem für Bedienstete und Verfahrensbeteiligte.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des Entschädigungsgerichts ( § 163 SGG ) wurden in Berlin ab März 2020 von den Gerichten Schutzmaßnahmen für Bedienstete und Verfahrensbeteiligte getroffen. Es wurde ein Notbetrieb unter vorübergehender weitgehender Einstellung des Sitzungsbetriebs eingerichtet. Der reguläre Gerichtsbetrieb konnte erst nach der Erstellung von Hygiene- und Schutzkonzepten stufenweise ab Mai 2020 wieder aufgenommen werden (vgl für das SG Berlin und weitere Gerichte des beklagten Landes auch die Übersicht in Votum 2/2020 , herausgegeben vom Deutschen Richterbund Landesverband Berlin, 3 ff; s exemplarisch zudem Pressemitteilungen des Präsidenten des Kammergerichts Berlin Nr 16/2020 vom 17.3.2020, Nr 24/2020 vom 14.4.2020, Nr 28/2020 vom 27.4.2020 und Nr 30/2020 vom 7.5.2020; Pressemitteilung Nr 14/20 der Präsidentin des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 19.3.2020; Pressemitteilung Nr 10/2020 des Verwaltungsgerichts Berlin vom 20.3.2020, alle online abrufbar bei den genannten Gerichten; vgl zu den Einschränkungen im Rechtsprechungsbetrieb der Sozialgerichte ab März 2020 durch die Pandemie allgemein Höland/Welti, info also 2022, 249, 251 ff).
Dass es in dieser besonderen Zeit von März bis Mai 2020 im vorliegenden Ausgangsverfahren zu einer dreimonatigen gerichtlichen Untätigkeit gekommen ist, ist hinzunehmen. Vor dem Hintergrund der außergewöhnlichen und neuartigen Gefahrenlage hatten der Justizgewährungsanspruch aus Art 19 Abs 4 Satz 1, Art 20 Abs 3 GG einschließlich des Anspruchs auf Rechtsschutz in angemessener Zeit aus Art 6 Abs 1 EMRK für diesen begrenzten Zeitraum in der frühen Phase der Corona-Pandemie hinter der Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung aus Art 2 Abs 2 Satz 1 GG zurückzustehen. Grundsätzlich obliegt es den Bundesländern, in ihrem Zuständigkeitsbereich bei einer generell vorhersehbaren besonderen Situation (wie zB bei Erkrankung des Gerichtspersonals) für eine hinreichende materielle und personelle Ausstattung der Gerichte zu sorgen, damit diese ihrem Rechtsprechungsauftrag in einer Weise nachkommen können, die den Anforderungen des Art 19 Abs 4 Satz 1 GG genügt ( BSG Urteil vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 2/20 R - BSGE 134,18 = SozR 4-1720 § 198 Nr 22, RdNr 44 mwN) . Bei unvorhergesehenen und außergewöhnlichen Entwicklungen gilt dies aber nicht in gleicher Weise. Gerade in der frühen Phase der Corona-Pandemie sprach alles dafür, dass die mit einer unkontrollierten Ausbreitung der Pandemie verbundene Gefahr der Überbelegung von Behandlungskapazitäten insbesondere in Krankenhäusern und damit auch ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems mit zahlreichen Todesfällen auf dem Boden der damals möglichen Gefahrenprognose nur dadurch vermieden werden konnte, dass die Ausbreitung der hoch infektiösen und potentiell tödlichen Erkrankung durch eine möglichst weitgehende Verhinderung von Kontakten verlangsamt wurde (vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 10.4.2020 - 1 BvQ 31/20 - juris RdNr 15 unter Hinweis auf das RKI; vgl in diesem Kontext auch die täglichen Lageberichte des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 ≪COVID-19≫ im hier relevanten Zeitraum März 2020 ≪ab 4.3.2020≫ bis Mai 2020, online abrufbar beim RKI im Archiv der Situationsberichte des RKI zu COVID-19; vgl insoweit auch BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 1.5.2020 - 1 BvQ 42/20 - juris RdNr 10 und BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 10.4.2020 - 1 BvQ 28/20 - juris RdNr 13; BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 11.11.2020 - 1 BvR 2530/20 - juris RdNr 15 f) . Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art 2 Abs 2 Satz 1 GG bedingt eine allgemeine staatliche Schutzpflicht, sich schützend und fördernd vor diese Rechtsgüter zu stellen (BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 20.5.2021 - 1 BvR 928/21 - juris RdNr 17; BVerfG Beschluss vom 26.7.2016 - 1 BvL 8/15 - BVerfGE 142, 313 - juris RdNr 69 mwN) . Bei der Erfüllung dieser Schutzpflicht kommt den staatlichen Stellen und damit auch den Gerichtsleitungen ein erheblicher Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu (vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 19.5.2020 - 2 BvR 483/20 - juris RdNr 8 mwN) , der nur bei Unterlassung von Schutzvorkehrungen oder offensichtlich ungeeigneten oder völlig unzulänglichen Maßnahmen verletzt ist (vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 12.5.2020 - 1 BvR 1027/20 - juris RdNr 7 mwN) .
Diese Schutzpflicht ist vorliegend aus der erforderlichen ex-ante-Betrachtung heraus nicht verletzt, sondern hat die Gerichtsleitungen aller Sozialgerichte vielmehr verpflichtet, nach ihrer situativen Einschätzung die oben genannten oder vergleichbare pandemiebedingt notwendige Schutzvorkehrungen zu treffen, um mögliche Folgeinfektionen unzähliger Menschen mit dem potentiell tödlichen Virus zu verhindern und damit auch der Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems entgegenzuwirken (vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 10.4.2020 - 1 BvQ 28/20 - juris RdNr 13 f) . Wie bereits der BFH in seinem Urteil vom 27.10.2021 ( X K 5/20 - BFHE 274, 485 - juris RdNr 45) festgestellt hat, kann insoweit nicht von einem Organisationsverschulden der Justizbehörden ausgegangen werden. Sie waren insbesondere in dieser frühen Phase der Corona-Pandemie nicht dazu verpflichtet, im Hinblick auf eine - weder in ihrem Eintritt noch in ihren Wirkungen vorhersehbare - pandemische Lage Vorsorge für die Aufrechterhaltung einer stets uneingeschränkten Rechtspflege zu treffen.
Nach alledem hält es der Senat - insoweit in grundsätzlicher Übereinstimmung mit dem Entschädigungsgericht - angesichts der geschilderten pandemiebedingten Risiken und Unwägbarkeiten für angemessen, den Sozialgerichten mit Beginn des ersten Corona-Lockdowns im März 2020 eine dreimonatige Frist zuzubilligen, die im Interesse des Gesundheitsschutzes insbesondere von Gerichtsangehörigen und Verfahrensbeteiligten notwendigen Schutzvorkehrungen zur Verringerung des Übertragungs- und Ansteckungsrisikos mit dem (damals noch) neuartigen und potentiell tödlichen Coronavirus SARS-CoV2 umzusetzen, um diese sowie auch die weitere Bevölkerung zu schützen und mit den getroffenen Schutzmaßnahmen dazu beizutragen, die mit einer unkontrollierten Ausbreitung der Pandemie verbundenen weitreichenden Gefahren zu verhindern. Entschädigungsrechtlich sind die dadurch innerhalb dieser dreimonatigen "Schutzfrist" eingetretenen Verzögerungen im Verfahrensablauf nicht der staatlichen Verantwortungssphäre und damit auch nicht derjenigen der Sozialgerichte zuzurechnen, selbst wenn sich dies als Ursache nicht unmittelbar aus den Akten des jeweiligen Ausgangsverfahrens entnehmen lässt. Das gilt unterschiedslos und generell für alle während dieses Zeitraums verursachten Verzögerungen im Sitzungs- oder Geschäftsbetrieb der Gerichte. Denn auch eine Bearbeitung im schriftlichen Verfahren führt zu Arbeitsabläufen in der Geschäftsstelle, die im Interesse der weitgehenden Kontaktvermeidung zur Sicherstellung des Gesundheitsschutzes reduziert und für diesen sehr begrenzten Zeitraum in der frühen Phase der Pandemie angesichts der damaligen außergewöhnlichen und neuartigen Gefahrenlage für die gesamte Bevölkerung auf besonders eilige oder wichtige Verfahren beschränkt werden durften.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 1 VwGO und berücksichtigt das vollständige Unterliegen des Klägers in beiden Instanzen.
Fundstellen
Dokument-Index HI16444089 |