Leitsatz (amtlich)

In Schul- oder Berufsausbildung befindet sich eine Waise nicht, wenn sie während der Berufsausbildung für eine Arbeit - jedenfalls wenn diese dem angestrebten Beruf angemessen ist - wie eine vollwertige Arbeitskraft bezahlt wird.

 

Normenkette

RVO § 1267 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1971-01-25

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Main) vom 26. September 1973 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob ein Anspruch auf Waisenrente dadurch ausgeschlossen wird, daß die Waise, die das 18. Lebensjahr vollendet hat, zur Überbrückung einer Zeit zwischen Schulabschluß und dem Beginn der Ausbildung für den Beruf einer Hebamme einer Beschäftigung als Wochenpflegerin nachgeht (§ 1267 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Die beabsichtigte Ausbildung an einer Hebammenlehranstalt konnte die Klägerin zunächst nicht beginnen, weil sie das dafür vorgeschriebene Mindestalter noch nicht erreicht hatte. Die Zwischenspanne füllte sie damit aus, daß sie einen Kursus in Wochenpflege besuchte und anschließend die Tätigkeit als Wochenpflegerin in einem Krankenhaus aufnahm. Sie erhielt ein monatliches Bruttoarbeitsentgelt von 1.000,- DM.

Die Beklagte lehnte es ab, der Klägerin für die Zeit ihrer Beschäftigung als Wochenpflegerin (16. Oktober 1972 bis 31. März 1973) die Waisenrente zu gewähren. Sie meinte, für eine solche Leistung bestehe kein Anlaß, weil die Klägerin wie eine vollwertige Arbeitskraft entlohnt worden sei. Das Sozialgericht (SG) hat dagegen die Beklagte zur Leistung verurteilt. Es ist von der Erwägung ausgegangen, daß die Höhe des Arbeitseinkommens unerheblich für die Frage sei, ob sich eine Waise in Schul- oder Berufsausbildung befinde. Der Tatbestand der Ausbildung sei gegeben, wenn eine Waise - wie hier - die ihr aufgezwungene Unterbrechung der Ausbildung im Hinblick auf das angestrebte Berufsziel sinnvoll nutze.

Die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) hat im Einverständnis mit der Klägerin unmittelbar die Revision eingelegt. Sie meint, eine Waise habe nach Vollendung des 18. Lebensjahres Anspruch auf Rente nur, wenn sie wegen ihrer Ausbildung außerstande sei, sich selbst zu unterhalten.

Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Klägerin stünde für die Zeit ihrer Beschäftigung als Wochenpflegerin die Waisenrente nur zu, wenn sie sich während dieser Beschäftigung in Schul- oder Berufsausbildung befunden hätte (§ 1267 Satz 2 RVO). Dies trifft indessen nicht zu. Allerdings kann auch eine Erwerbsarbeit, die nicht unmittelbar in das übliche Lehrprogramm fällt und nicht geradewegs zu dem Ausbildungsziel führt, aber geeignet ist, für die künftige Lebensstellung wertvolles Wissen und Können zu vermitteln, als Berufsausbildung gewertet werden. Das ist für sogenannte überbrückende entgeltliche Tätigkeiten angenommen worden, wenn damit eine, von dem Auszubildenden nicht zu vertretende Pause zwischen zwei Ausbildungsabschnitten im Hinblick auf den angestrebten Beruf sinnvoll genutzt wird (BSG SozR Nrn 38 und 42 zu § 1246 RVO). Von diesem Tatbestand eines überbrückenden Arbeitens ist im gegenwärtigen Streitfalle auszugehen. Die Arbeit der Klägerin als Wochenpflegerin auf der Neugeborenenstation einer Frauenklinik war in bezug auf das Ausbildungsvorhaben sinnvoll und nützlich. Daran änderte nichts, daß die Klägerin bereits vorher einen vom normalen Ausbildungsgang her vorgesehenen praktischen Kursus absolviert hatte. Auch die zusätzliche praktische Arbeit diente der Unterweisung und Sammlung von Erfahrungen.

Indessen ist auch zu fordern, daß die Klägerin sich in der fraglichen Zeit in Ausbildung "befand". Dazu genügt es nicht allein, daß sie für den Ausbildungszweck in erheblichem Umfang Kraft und Zeit aufwandte. Vielmehr ist auch bedeutsam, welches Arbeitseinkommen sie erzielte. Zwar kann eine Ausbildung mit einer Erwerbsarbeit einhergehen; ebenso wie es sein kann, daß der Auszubildende ergiebige Arbeit leistet. Infolgedessen ist das Merkmal der Berufsausbildung von der wahrgenommenen Aufgabe und Funktion und nicht eigentlich von einer Vergütung her zu bestimmen (dazu BSG SozR Nr 52 zu § 1267 RVO; Nr 8 zu § 45 BVG). Dies schließt aber nicht aus, daß der Höhe der Arbeitsvergütung dann eine Bedeutung beigemessen wird, wenn es sich um Bezüge aufgrund einer dauerhaften und gefestigten beruflichen Position handelt oder wenn das Maß einer Ausbildungsvergütung und einer bloßen Unterhaltssicherung erheblich überschritten wird. Ausschlaggebend ist, ob das Arbeitsentgelt für die jeweilige wirtschaftliche Situation der Waisen beherrschend ist, so daß demgegenüber die Besonderheit des Ausbildungsverhältnisses zurücktritt (vgl. BSG 25, 289; SozR Nrn 15 und 44 zu § 1267 RVO). Diese Auffassung findet ihre Rechtfertigung in der typischen Bedarfslage, von welcher der Gesetzgeber bei der Regelung des Anspruchs auf Waisenrente für die Zeit der Schul und Berufsausbildung ausgegangen ist. Darauf weist § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO im Zusammenhang mit einer körperlich oder geistig gebrechlichen Waisen hin. Ihr wird die Rente nur unter der Voraussetzung zugestanden, daß sie "außerstande ist, sich selbst zu unterhalten". Freilich erhält eine gebrechliche Waise Rente dann, wenn sie nicht in Ausbildung steht, aber eben deshalb auch nur bei festgestellter Bedarfslage. Diese Situation wird bei der Waisen, die infolge der Ausbildung an der Erwerbsarbeit gehindert ist, im allgemeinen unterstellt. Diese Unterstellung ist jedoch nur so lange angebracht, wie das Arbeitseinkommen den vom Gesetz vorausgesetzten Rahmen einer mit der Schul- und Berufsausbildung verbundenen typischen Bedarfslage nicht völlig sprengt. Eine solche Sachlage ist dann gegeben, wenn die Waise während der Berufsausbildung für die geleistete Arbeit wie eine vollwertige Arbeitskraft bezahlt wird (insoweit übereinstimmend: Nr 15 der Verwaltungsvorschriften zu § 33b BVG; ferner § 156 Abs. 2, § 164 Abs. 2 des Bundesbeamtengesetzes - BBG -, § 18 Abs. 2 des Bundesbesoldungsgesetzes - BBesG -). Dies gilt jedenfalls, wenn die Arbeit dem angestrebten Beruf angemessen ist.

Für die Beurteilung des gegenwärtigen Streitfalles ist festzuhalten, daß die Tätigkeit, welche die Klägerin als Wochenpflegerin im Alter von 18 Jahren ausübte, mit einem Verdienst von monatlich 1.000,- DM voll entgolten wurde. Sie "befand" sich mithin während dieser Beschäftigung nicht in Berufsausbildung.

Die von einer anderen Rechtsauffassung her bestimmte Entscheidung des SG ist aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646841

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