Entscheidungsstichwort (Thema)
Revision bei Vorliegen eines wesentlichen Mangels des Verfahrens
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein mangelhaftes Widerspruchsverfahren rechtfertigt es nicht, dem Kläger die richterliche Entscheidung zu verwehren. Ist daher ein sich äußerlich als Widerspruchsbescheid darstellender Bescheid ergangen, so ist der Beschwerte befugt, dagegen Klage zu erheben.
2. Ein Widerspruchsbescheid gegen den ein Rechtsbehelf nicht eingelegt wurde, wird auch dann bindend, wenn vorher kein Verwaltungsakt ergangen ist.
Normenkette
SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 85 Fassung: 1953-09-03, § 77 Fassung: 1953-09-03; GG Art. 19 Abs. 4 Fassung: 1968-06-24
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. März 1964 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beigeladene zu 3), die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) Germersheim, stellte mit Bescheid vom 30. März 1960 fest, der bei der beklagten Ersatzkasse gegen Krankheit pflichtversicherte Kläger unterliege auf Grund seiner Beschäftigung als Pedell beim Auslands- und Dolmetscher-Institut Germersheim der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung der Arbeiter. Sie hob am 27. April 1960 diesen Bescheid wieder auf, weil sie nicht für die Erteilung zuständig war. Nach einer Überprüfung der Verhältnisse kamen die beigeladene Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA), die beigeladene Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinland-Pfalz und die beklagte Ersatzkasse ebenfalls zu dem Ergebnis, die Tätigkeit des Klägers sei arbeiterrentenversicherungspflichtig.
Die beklagte Ersatzkasse erließ hierüber jedoch keinen Bescheid und teilte dem Kläger das Ergebnis auch nicht formlos mit. Der Kläger bat aber die beigeladene LVA, ihm wegen der in Frage kommenden Überweisung von der Angestellten- in die Arbeiterrentenversicherung einen widerspruchsfähigen Bescheid zu erteilen. Diesen Antrag leitete die beigeladene LVA an die Beklagte weiter. Diese stellte nunmehr in einem Widerspruchsbescheid vom 17. August 1961 fest, der Kläger unterliege der Versicherungspflicht in der Arbeiterrentenversicherung.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage gegen den Bescheid vom 30. März 1960 der beigeladenen AOK in Gestalt des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 17. August 1961 abgewiesen. Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt mit dem Antrag, das Urteil des SG und den Widerspruchsbescheid aufzuheben und festzustellen, daß er der Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung unterliege. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG und den Widerspruchsbescheid aufgehoben und zur Begründung ausgeführt, die Beklagte habe gegenüber dem Kläger weder einen förmlichen Bescheid noch überhaupt eine Mitteilung über eine Überweisung von der Angestellten- in die Arbeiterrentenversicherung erlassen, es liege deshalb überhaupt kein Verwaltungsakt vor. Ein Vorverfahren sei wegen Fehlens eines solchen Verwaltungsaktes unzulässig gewesen, ein Widerspruchsbescheid habe daher nicht erteilt werden dürfen. Durch den dennoch erteilten Widerspruchsbescheid sei der Kläger beschwert gewesen, ihm habe die Anfechtungsklage zugestanden. Diese sei mangels Vorliegens eines Verwaltungsakts begründet und müsse zur Aufhebung des angefochtenen Widerspruchsbescheides führen. Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Die Beklagte hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Sie trägt vor, das LSG habe zu Unrecht einen Verwaltungsakt für erforderlich angesehen. Denn weder das Gesetz noch die Satzung sehe einen Anspruch auf die Feststellung vor, ob ein Versicherter zur Rentenversicherung der Angestellten oder zur Rentenversicherung der Arbeiter gehöre. Auf alle Fälle sei der Kläger in seinen Rechten dadurch beschwert gewesen, daß die Kasse die Aufforderung der LVA befolgt und die Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter verbucht habe. Der Kläger habe somit ein berechtigtes Interesse an der Feststellung, welcher Versicherungsträger zuständig sei. Von diesem sich aus § 55 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ergebenden Recht habe der Kläger Gebrauch gemacht. Diese Feststellungsklage müsse als zulässig angesehen werden.
Ein wesentlicher Mangel des berufungsgerichtlichen Verfahrens liege vor, weil das Berufungsgericht zu Unrecht eine Sachentscheidung über die gegen ein erstinstanzliches Urteil eingelegte Berufung unterlassen und damit die besonderen Voraussetzungen seines eigenen Tätigwerdens verkannt habe. Überdies habe das LSG zu Unrecht die drei gleichartigen Streitsachen voneinander getrennt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 4. März 1964 aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Weiter:
Die im Zusammenhang stehenden drei Rechtsstreite wieder miteinander zu verbinden.
Die beigeladene BfA und LVA schließen sich dem Antrag der Beklagten an.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Alle Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
II
Da das LSG die Revision nicht zugelassen hat, ist sie nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG gerügt wird und auch vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150). Diese Voraussetzung ist erfüllt.
Es kann für die Entscheidung dahinstehen, ob die Auffassung des LSG zu billigen ist, daß ein Widerspruchsbescheid nicht habe ergehen dürfen, weil es an einem (ersten) Verwaltungsakt fehle, der allein Gegenstand eines Widerspruchsverfahrens habe sein können. Denn auf alle Fälle würde es sich bei der Annahme des LSG, ein Widerspruchsbescheid hätte nicht ergehen dürfen, nicht um einen Fehler im gerichtlichen Verfahren, sondern um eine sachlich unrichtige Entscheidung des LSG handeln. Wie das Bundessozialgericht (BSG) schon wiederholt entschieden hat, betrifft eine unrichtige Beurteilung der Anwendung von Vorschriften über das Verwaltungsverfahren einschließlich des Widerspruchsverfahrens durch das Gericht nicht das gerichtliche Verfahren, sondern den Inhalt seiner Entscheidung (vgl. BSG, Beschluß vom 18. April 1958, SozR SGG § 162 Nr. 95 und Beschluß vom 28. September 1959, SozR SGG § 87 Nr. 2). Das LSG hätte sich aber auch von seinem Standpunkt aus nicht auf die Aufhebung des angefochtenen Bescheides aus formellen Gründen beschränken dürfen. Es hätte vielmehr über die inhaltliche Rechtmäßigkeit des Widerspruchsbescheides entscheiden müssen. Der Senat hat in seinem Urteil vom 30. November 1965 (SozR SGG § 85 Nr. 7) ausgeführt, ein mangelhaftes Widerspruchsverfahren rechtfertige es nicht, dem Kläger deswegen die begehrte richterliche Entscheidung zu verwehren, denn sobald ein äußerlich sich als Widerspruchsbescheid darstellender Bescheid ergangen sei, müsse der Betroffene befugt sein, dagegen Klage zu erheben und seine Rechtsansprüche vor den Gerichten weiter zu verfolgen. Eine andere Auffassung würde dazu führen, daß dem Kläger wegen eines Fehlers der Verwaltung im Ergebnis der Rechtsschutz verweigert werde, auf den er nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes Anspruch habe. Solange der Widerspruchsbescheid nicht an einem so wesentlichen und eindeutig erkennbaren Mangel leide, daß er als nicht vorhanden angesehen werden dürfe, könne dem Anfechtungskläger nicht entgegengehalten werden, es fehle an dem Verwaltungsakt, der Gegenstand eines Widerspruchsverfahrens hätte sein können. Ein nicht diesen Grundsätzen entsprechendes Verfahren ist deshalb fehlerhaft, insbesondere wenn man berücksichtigt, daß der Widerspruchsbescheid in Rechtskraft erwachsen wäre, wenn er von dem Kläger nicht angefochten wäre, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob vorher ein Verwaltungsakt ergangen ist oder nicht. Das Verfahren des LSG ist daher fehlerhaft.
Hinzu kommt im vorliegenden Falle noch, daß der Kläger neben seiner Aufhebungsklage auch eine Klage auf Feststellung erhoben hat, er unterliege der Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung. Über diese Feststellungsklage hätte das LSG auf alle Fälle entscheiden müssen; ein Unterlassen dieser Entscheidung stellt ebenfalls einen Verstoß gegen Prozeßgesetze dar.
Das Verfahren des LSG leidet daher an wesentlichen Mängeln, die die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft machen, ohne daß es noch auf das weitere Vorbringen ankommt.
Das Rechtsmittel erweist sich sachlich als begründet, weil die Möglichkeit besteht, daß das LSG bei einem den Verfahrensgesetzen entsprechenden Verfahren zu einem für die Beklagte günstigeren Urteil gekommen wäre. Das Urteil des LSG muß daher aufgehoben werden.
Weil Feststellungen fehlen, die dem Senat eine abschließende Entscheidung ermöglicht hätten, muß die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Diesem bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens überlassen.
Fundstellen