Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Anspruch auf Landesblindengeld für cerebral schwerst geschädigte Kinder. Entbehrlichkeit einer spezifischen Sehstörung. Diskriminierungsverbot. sozialgerichtliches Verfahren. Revisibilität von Landesrecht
Leitsatz (amtlich)
Eine der Blindheit entsprechende gleich schwere cerebrale Störung des Sehvermögens setzt keine spezifische Sehstörung voraus (Aufgabe von BSG vom 20.7.2005 - B 9a BL 1/05 R = BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2).
Orientierungssatz
Der Begriff der Blindheit nach dem BlindG BY stimmt nicht nur mit dem Blindheitsbegriff überein, den auch andere landesrechtliche Blindengeldgesetze zu Grunde legen, sondern entspricht zudem dem bundeseinheitlich geltenden Begriff der Blindheit in § 72 Abs 5 SGB 12, sodass die Auslegung des entsprechenden Landesrechts nach § 162 SGG revisibel ist (vgl BSG Urteil vom 26.10.2004 - B 7 SF 2/03 R = SozR 4-5921 Art 1 Nr 1 und vom 20.7.2005 - B 9a BL 1/05 R aaO).
Normenkette
BlindG BY Art. 1 Abs. 1, 2 Sätze 1, 2 Nrn. 1-2; SGB XII § 72 Abs. 5; VersMedV Anlage Teil A Nr. 6 Buchst. c; GHBG NW § 1; GG Art. 3 Abs. 1, 3 S. 2; UNBehRÜbk Art. 5; SGG § 162
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. März 2014 aufgehoben und die Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15. Dezember 2010 zurückgewiesen.
Das beklagte Land trägt die Kosten auch des Berufungs- und Revisionsverfahrens.
Tatbestand
Streitig ist ein Anspruch des Klägers auf Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG).
Der Kläger erlitt bei seiner Geburt (2005) wegen einer Minderversorgung mit Sauerstoff schwerste Gehirnschäden. Diese führten unter anderem zu einem Anfallsleiden, einer spastischen Bewegungsstörung sowie zu einer schweren mentalen Retardierung mit Intelligenzminderung. Der Entwicklungsstand des Klägers entspricht dem eines ein- bis viermonatigen Säuglings. Seine kognitive Wahrnehmungsfähigkeit ist im Bereich aller Sinnesmodalitäten stark eingeschränkt. Unter anderem verfügt der Kläger lediglich über basale visuelle Fähigkeiten, die unterhalb der Blindheitsschwelle liegen, so dass der Kläger nicht sehen kann.
Die allein sorgeberechtigte Mutter des Klägers beantragte 2006 für ihren Sohn Blindengeld nach dem BayBlindG. Der beklagte Freistaat lehnte den Antrag ab. Zwar liege beim Kläger eine schwerste Hirnschädigung vor, jedoch sei das Sehvermögen nicht wesentlich stärker beeinträchtigt als die übrigen Sinnesmodalitäten. Dies aber sei nach der Rechtsprechung des BSG zur sogenannten cerebralen Blindheit Voraussetzung für die Gewährung von Blindengeld (Bescheid vom 31.7.2007; Widerspruchsbescheid vom 4.12.2007).
Das SG hat der Klage stattgegeben, weil der Kläger faktisch blind und seine visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen sei als die Wahrnehmung durch andere Sinnesorgane (Urteil vom 15.12.2010). Auf die Berufung des beklagten Freistaates hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage nach Einholung weiterer Sachverständigengutachten abgewiesen. Der Kläger sei zwar faktisch blind. Auch stehe das Vorliegen cerebraler Schäden der Annahme von Blindheit nicht grundsätzlich entgegen. Bei Vorliegen umfangreicher cerebraler Schäden müsse für einen Anspruch auf Blindengeld jedoch im Vergleich zu anderen - möglicherweise ebenfalls eingeschränkten - Gehirnfunktionen eine spezifische Störung des Sehvermögens vorliegen. Dies sei entgegen der Ansicht des SG beim Kläger nicht der Fall. Die Unterschiede bei den noch vorhandenen Sinneswahrnehmungen seien nach den eingeholten Gutachten im Hinblick auf den Gesamtzustand des Klägers vielmehr marginal (Urteil vom 27.3.2014).
Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung formellen und materiellen Rechts (§§ 62, 103 SGG, Art 1 Abs 2 BayBlindG). Die vom LSG gestellten Anforderungen an die Prüfung einer spezifischen Sehstörung seien mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht vereinbar. Soweit gutachterlich zur Darstellung der Entwicklung von Kindern mit schwerer Mehrfachbehinderung und motorischer sowie mentaler Retardierung auf die sogenannten Griffiths Entwicklungsskalen (GES) zurückgegriffen worden sei, fehle es an einer allgemein anerkannten Grundlage für die Prüfung einzelner Sinneswahrnehmungen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. März 2014 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15. Dezember 2010 zurückzuweisen.
Der beklagte Freistaat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das Urteil für zutreffend.
Der Senat hat zu den GES als Methode der Diagnostik spezifischer Sehstörungen bei cerebral geschädigten Kindern Auskünfte der Gesellschaft für Neuropädiatrie und des Gemeinsamen Bundesausschusses eingeholt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet (§ 170 Abs 2 S 1 SGG). Die streitgegenständlichen Bescheide sind rechtswidrig. Der Kläger hat Anspruch auf Blindengeld nach dem BayBlindG.
1. Der Senat ist, obwohl in der Sache um die Auslegung bayerischen und damit an sich irreversiblen Landesrechts gestritten wird, nicht an einer Sachentscheidung gehindert.
Nach § 162 SGG kann die Revision nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung einer Vorschrift des Bundesrechts oder einer sonstigen im Bezirk des Berufungsgerichts geltenden Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt. Zwar erstreckt sich das BayBlindG nicht über den Freistaat Bayern und damit den Bezirk des Bayerischen LSG hinaus. Revisibilität von Landesrecht hat das BSG jedoch auch angenommen, wenn inhaltsgleiche Vorschriften verschiedener Länder in den Bezirken verschiedener LSG gelten und die Übereinstimmung nicht nur zufällig, sondern im Interesse der Rechtsvereinheitlichung bewusst und gewollt ist (vgl dazu Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 162 RdNr 5a mwN; Heinz in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 162 RdNr 17 f mwN). Letzteres hat das BSG in ständiger Rechtsprechung auch für den Begriff der Blindheit nach dem BayBlindG angenommen. Der dort verwendete - hier umstrittene und entscheidungserhebliche - Blindheitsbegriff stimmt mit dem Blindheitsbegriff überein, den auch die in den Bezirken anderer LSG geltenden landesrechtlichen Blindengeldgesetze zu Grunde legen (zB für NRW § 1 Gesetz über die Hilfen für Blinde und Gehörlose vom 25.11.1997, GVBl S 430 idF des Gesetzes vom 5.4.2005, GVBl S 332). Übereinstimmung besteht zudem mit dem bundeseinheitlich geltenden Begriff der Blindheit in § 72 Abs 5 SGB XII, auf den im Schwerbehindertenrecht (§ 3 Abs 1 Nr 3 Schwerbehindertenausweisverordnung) Bezug genommen wird (vgl BSG Urteil vom 26.10.2004, SozR 4-5921 Art 1 Nr 1 RdNr 5; Urteil vom 20.7.2005 - B 9a BL 1/05 R, BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2, RdNr 6 mwN).
2. Die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage des Klägers ist begründet. Der allein gegenständliche Bescheid vom 31.7.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4.12.2007, mit dem der Beklagte dem Kläger Blindengeld versagt hat, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat seit Antragstellung Anspruch auf Gewährung von Blindengeld nach dem BayBlindG. Er ist blind im Sinne des Gesetzes (dazu a). Dem Anspruch steht nicht entgegen, dass beim Kläger auch weitere Sinnesorgane wie das Hörvermögen oder der Tastsinn nicht weniger auf Schwerste beeinträchtigt sind (dazu b).
a) Monatliches Blindengeld nach dem BayBlindG erhalten blinde und taubblinde Menschen auf Antrag, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben oder durch die VO (EG) Nr 883/2004 gleichgestellt sind, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen (Art 1 Abs 1 BayBlindG vom 7.4.1995, GVBl 1995, 150, zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des BayBlindG vom 24.7.2013, GVBl 2013, 464). Dies ist beim Kläger der Fall. Er lebt in Bayern und ist entgegen der Ansicht des beklagten Freistaates auch blind im Sinne des Gesetzes.
Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art 1 Abs 2 S 1 BayBlindG). Als (faktisch) blind gelten darüber hinaus Personen, deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt (Art 1 Abs 2 S 2 Nr 1 BayBlindG) sowie bei denen hierdurch (Nr 1) nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr 1 gleichzuachten sind (Art 1 Abs 2 S 2 Nr 2 BayBlindG ; zur Entwicklung des Begriffs "Blindheit" vgl Dau, jurisPR-SozR 24/2009 Anm 4).
Dies ist beim Kläger der Fall. Nach den Feststellungen des LSG besitzt er lediglich basale visuelle Fähigkeiten, die unterhalb der Blindheitsschwelle liegen. Der Einsatz seiner Sehfähigkeit im Alltag unter Tageslichtbedingungen ist nicht möglich.
Dabei kann es sowohl nach dem Wortlaut als auch nach Sinn und Zweck des Gesetzes dahingestellt bleiben, auf welcher konkreten Ursache die Blindheit im Einzelfall beruht, ob sie auf einer Schädigung des optischen Sehapparates, einer Hirnschädigung oder einer Kombination denkbarer Ursachen beruht. Auch cerebrale Schäden, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, sind beachtlich und können zur Blindheit führen (etwa der Ausfall der Sehrinde ≪sog Rindenblindheit≫, vgl auch Anl zu § 2 Teil A Nr 6 Buchst c Versorgungsmedizin-Verordnung ≪VersMedV≫), und zwar für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans. Der erkennende, für das BayBlindG allein zuständige 9. Senat des BSG gibt insoweit seine bisherige anderslautende, an die Materialien zum Gesetzentwurf für ein BayBlindG anknüpfende Rechtsprechung auf.
Das BSG hatte bisher in Anlehnung an Empfehlungen der Sektion Versorgungsmedizin des Ärztlichen Sachverständigenbeirates beim früheren Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA, Rundschreiben vom 16.2.1990) zwischen Störungen beim "Erkennen" (Schädigung des Sehapparates) und beim "Benennen" (Schädigung in der Verarbeitung wahrgenommener optischer Reize) unterschieden. Ausgangspunkt der Empfehlung war der Antrag eines Mädchens, das infolge einer Gewalttat unter einem apallischen Syndrom litt und die Versorgung mit einem Blindenführhund beantragt hatte. Der Sachverständigenbeirat beim BMA kam zu dem Ergebnis, dass bei einer solchen cerebralen Schädigung (dort als "Seelenblindheit" oder "visuelle Agnosie" bezeichnet) keine Blindheit vorliege; nicht das Sehvermögen mit dem Sehorgan im engeren Sinne sei beeinträchtigt, sondern die Fähigkeit, das Gesehene geistig zu verarbeiten (vgl dazu Stefan Jungeblut, Nicht sehen können - doch nicht blind? in: Sozialrecht im Umbruch, 2010, S 69, 70). Das BSG hat bei seiner Differenzierung zwischen "Erkennens- und Benennungsstörungen" selbst darauf hingewiesen, dass es sich im Einzelfall als sehr schwierig erweisen könne, eine Störung zu lokalisieren und einer dieser Kategorien zuzuweisen (vgl BSG Urteil vom 31.1.1995 - 1 RS 1/93 - SozR 3-5920 § 1 Nr 1 S 5, Juris RdNr 34 zum Saarländischen Gesetz Nr 761 über die Gewährung einer Blindheitshilfe; zum BayBlindG wieder Urteil vom 26.10.2004 - B 7 SF 2/03 R - SozR 4-5921 Art 1 Nr 1 RdNr 13; Urteil vom 20.7.2005 - B 9a BL 1/05 R - BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2, RdNr 9-11).
Das BSG gibt diese Differenzierung nunmehr auf. Soweit in der Gesetzesbegründung ausgeführt wird, unter dem Begriff "Störungen des Sehvermögens" seien Störungen beim Erkennen optischer Reize zu verstehen, die sich nicht auf eine Beeinträchtigung elementarer visueller Leistungen, auf eine Benennungsstörung oder auf eine allgemeine Herabsetzung kognitiver Fähigkeiten zurückführen lassen (Gesetzentwurf der Staatsregierung für ein BayBlindG, BayLT-Drucks 13/458 S 5; vgl zum Ausschluss jeder visuellen Agnosie nach Anl zu § 2 Teil A Nr 6 Buchst c VersMedV; zur Teilnichtigkeit dieser Regelung SG Osnabrück Urteil vom 24.6.2009 - S 9 SB 231/07 mit Anm Dau, jurisPR-SozR 24/2009 Anm 4), hat diese Differenzierung in Art 1 BayBlindG keinen normativen Niederschlag gefunden.
Die Differenzierung kann zudem gerade bei cerebral geschädigten Menschen vielfach medizinisch kaum nachvollzogen werden, dh die Ursache der Beeinträchtigung des Sehvermögens nicht genau bestimmt werden. Denn die Untersuchung visueller Wahrnehmungsleistungen setzt voraus, dass Untersuchungsfähigkeit gegeben ist; dazu gehören ua ausreichende Leistungen in den kognitiven Bereichen Aufmerksamkeit und Gedächtnis, ausreichende Sprachleistungen (Mitteilung ua über das eigene Sehvermögen bzw Beschreiben von optischen Reizen) oder ausreichende Handfunktionen, etwa um Reaktionstasten im Rahmen perimetrischer Untersuchungen betätigen zu können (vgl dazu Braun/Zihl, Der Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, MED SACH 2/2015, 81 ff; und sogleich unter 2b, aa).
Ein hinreichend sachlicher Grund für das Erfordernis einer genauen Lokalisierung der Sehstörung ist daher nicht nachweisbar. Entscheidend für den Anspruch auf Blindengeld ist allein, ob es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung "Sehen" (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein des Menschen) fehlt, ob der behinderte Mensch "blind" ist. Damit wird die Frage hinfällig, ob die zugrunde liegende Annahme, der Wahrnehmungsvorgang stelle einen in strikter zeitlicher Abfolge stattfindenden Prozess mit mehreren voneinander klar abgrenzbaren Phasen (perzeptiv, semantisch und lexikalisch) dar, mit der aktuellen wissenschaftlichen Evidenzlage vereinbar ist (vgl Braun/Zihl, Der Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, MED SACH 2/2015, 81, 82: fehlende Trennschärfe visueller Verarbeitungsstrukturen; aA und für einen mehrstufigen Prozess weiterhin vgl Zimbardo/Gerrig, Psychologie, 20. Aufl, 2015, S 112 ff, 161 f).
b) Dem Anspruch des Klägers steht auch nicht entgegen, dass bei ihm darüber hinaus auch sonstige Sinnesorgane wie sein Hörvermögen oder der Tastsinn auf Schwerste beeinträchtigt sind. Soweit der Senat in seiner bisherigen Rechtsprechung für den Blindengeldanspruch verlangt hat, dass bei cerebralen Schäden eine spezifische Störung des Sehvermögens vorliegt, hält er auch daran nicht mehr fest (Aufgabe von BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2). Der Senat hat für den Nachweis einer schweren Störung des Sehvermögens bisher verlangt, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen ist, als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten (vgl BSG Urteil vom 20.7.2005 - B 9a BL 1/05 R - BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2, RdNr 9). Zu einer Aufgabe dieser Rechtsprechung sieht sich der Senat aus den oben bereits angesprochenen Erkenntnisschwierigkeiten (dazu aa) sowie unter dem Aspekt der Gleichbehandlung veranlasst (dazu bb).
aa) Die Praxis der Instanzgerichte, darunter diejenige über den Anspruch des Klägers, zeigen, dass sich gerade bei mehrfach schwerstbehinderten Kindern eine spezifische Störung des Sehvermögens medizinisch kaum verlässlich feststellen lässt (vgl weiter zB Urteil des Bayerischen LSG vom 17.7.2012 - L 15 BL 11/08 - Juris RdNr 58 ff). Insoweit fehlt es an Erhebungs- und Untersuchungsmethoden, deren Einsatz sowohl zu medizinisch sicheren Ergebnissen führt als auch ethisch vertretbar ist. Das Kriterium der "spezifischen Sehstörung" hat sich aus Sicht des Senates insgesamt als nicht praktikabel erwiesen, weil es zu einer Erhöhung des Risikos von Zufallsergebnissen führt.
Anspruchsbegründende Tatsachen im Recht der sozialen Leistungen unterliegen grundsätzlich einem notwendigen Vollbeweis (BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 15 RdNr 46), die Nichterweislichkeit geht zu Lasten des Klägers. Die Nichterweislichkeit ginge auch im Falle des bayerischen Blindengelds zu Lasten des Klägers (hierzu Demmel, Die Entwicklung und Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Blindengeldleistung als Sozialleistung, 2003, S 228). Etwaige Beweiserleichterungen des sozialen Entschädigungsrechts kommen nicht zum Tragen (zB § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung; Wahrscheinlichkeitsmaßstab bei Kausalitätsfragen BSG SozR 4-3200 § 81 Nr 6 RdNr 25). Besondere Vorschriften der Kriegsopferversorgung gelten im Rahmen des BayBlindG nur, soweit solche im SGG vorgesehen sind (vgl Art 7 Abs 3 S 2 BayBlindG, zB § 154 Abs 2 SGG; vgl BayLT-Drucks 13/458 S 6).
Die mit dem Beweisrecht verbundene typisierende Annahme, dass die relevanten Tatsachen im Ansatz hinreichend verlässlich feststellbar sind, ist in Bezug auf die vorhandene medizinische Diagnostik zur Feststellung einer spezifischen Sehstörung nicht gerechtfertigt. Die Diagnostik spezifischer Sehstörungen insbesondere bei cerebral geschädigten Kindern ist beschränkt. Medizintechnische Untersuchungsmethoden sind - worauf in der Vorinstanz unangegriffen hingewiesen wurde - wegen der notwendigen Sedierung oder gar Narkotisierung ethisch kaum vertretbar, verbleibende Befragungen der Betreuungspersonen störanfällig, weil oftmals subjektiv gefärbt (vgl dazu Braun/Zihl, Der Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, MED SACH 2/2015, 81, 83). Der Einsatz von Entwicklungsskalen hängt nach Auskunft der Gesellschaft für Neuropädiatrie maßgeblich von der Expertise des Testleiters ab. Die Anwendung der GES für Kleinkinder (im Alter von 0 bis 12 Monaten) auf ältere Kinder begünstigt weitere Unwägbarkeiten, unabhängig davon, ob sie dem neuesten anerkannten Stand des einschlägigen Erfahrungswissens genügen, welcher im Rahmen der richterlichen Sachaufklärung (§ 103 SGG) verbindlich zugrunde zu legen wäre (vgl BSG Urteil vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 63). Zweifel bestehen jedenfalls insofern auch in Anbetracht des Umstandes, dass die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in ihrer S2k-Praxisleitlinie "Intelligenzminderung" von Dezember 2014 S 35 die GES (Brandt und Sticker 2001) wegen ihrer geringen Testgüte und mangels aktueller Normen für den diagnostischen Einsatz nicht einmal mehr empfohlen hat (abrufbar unter www.awmf.de).
bb) Vor allem aber lässt es der allgemeine Gleichheitssatz nicht zu, bei schwer cerebral geschädigten Menschen zu verlangen, dass die zu Blindheit führende Beeinträchtigung ihres Sehvermögens noch deutlich stärker ausgeprägt ist als die Beeinträchtigung ihrer sonstigen Sinneswahrnehmungen (Hören, Tasten etc), sog spezifische Sehstörung. Hieran hält der Senat im Hinblick auf das Gebot der Gleichbehandlung behinderter Menschen vor dem Gesetz nicht mehr fest (Art 3 Abs 1 und 3 S 2 GG; Art 5 UN-Behindertenrechtskonvention, zur unmittelbaren Anwendbarkeit BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 69, RdNr 29 ff).
Abgesehen davon, dass sich bei schwersten cerebralen Schäden die mit dem Merkmal einer spezifischen Sehstörung angestrebte Begrenzung des blindengeldberechtigten Personenkreises angesichts des erhöhten Risikos von Zufallsergebnissen (dazu oben aa) nach derzeitigen Erkenntnissen nicht hinreichend rechtssicher erreichen lässt (zum vorgelagerten Aspekt einer genauen Abgrenzung des begünstigten Personenkreises bereits BVerfGE 37, 154, 155, 164 f), besteht auch sonst keine Möglichkeit die genannte Differenzierung zu rechtfertigen.
Der Senat sieht keinen hinreichenden sachlichen Grund dafür, dass zwar derjenige Blindengeld erhalten soll, der "nur" blind ist, nicht aber derjenige, bei dem zusätzlich zu seiner Blindheit noch ein Verlust oder eine schwere Schädigung des Tastsinns oder sonstiger Sinnesorgane vorliegt, bei dem aber nicht von einer deutlich stärkeren Betroffenheit des Sehvermögens gegenüber der Betroffenheit sonstiger Sinnesorgane gesprochen werden kann (im Ergebnis ebenso bereits BVerfG Beschluss vom 7.5.1974 - 1 BvL 6/72 - BVerfGE 37, 154, 165 f zur Differenzierung zwischen zu einer zu fehlendem Sehvermögen führenden Beeinträchtigung der Sehschärfe und einer vergleichbar wirkenden Einschränkung des Gesichtsfeldes).
Zwar kommt in der früheren Rechtsprechung des BSG das Anliegen zum Ausdruck, dass Störungen aus dem seelisch/geistigen Bereich nicht zu einem Blindengeldanspruch führen sollen, weil Behinderungen solcher Art ggf durch anderweitige, auch einkommens- und vermögensunabhängige Sozialleistungen ausgeglichen werden, wenn deren Voraussetzungen vorliegen (etwa Leistungen der Pflegeversicherung oder der Eingliederungshilfe, §§ 61 ff SGB XII; vgl Demmel, aaO, S 501 ff; zur Reform der Eingliederungshilfe durch Einführung eines Bundesteilhabegelds vgl Koalitionsvertrag 2013, S 111 abrufbar unter www.bundesregierung.de). Dies kann die Ungleichbehandlung schwer cerebral geschädigter Behinderter jedoch nicht begründen.
Insbesondere stellt die Erwägung, dass derjenige, der wegen schwerster cerebraler Schäden zu keiner oder so gut wie keinen Sinneswahrnehmungen fähig ist, des Blindengeldes nicht bedarf, weil behinderungsbedingte Mehraufwendungen ohnehin nicht ausgeglichen werden können, keinen solchen sachlichen Grund dar. Zwar heißt es in Art 1 Abs 1 BayBlindG, das Blindengeld werde "zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehraufwendungen" gezahlt. Das BSG hat jedoch entsprechend der Praxis der zuständigen Behörden, ohne dass dem der Gesetzgeber entgegengetreten wäre, entschieden, dass das Blindengeld derzeit ohne Rücksicht auf einen im Einzelfall nachzuweisenden oder nachweisbaren Bedarf pauschal gezahlt wird. Dabei ist gerade Sinn und Zweck der Pauschale, bei festgestellter Schädigung auf die Ermittlung des konkreten Mehrbedarfs sowie einer konkreten Ausgleichsfähigkeit zu verzichten. "Blindheitsbedingte Mehraufwendungen" sind insoweit keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung, sondern umschreiben lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung (vgl BSG Urteil vom 26.10.2004 - B 7 SF 2/03 R - SozR 4-5921 Art 1 Nr 1, RdNr 10 und 11; BSG SozR 3-5922 § 1 Nr 1; BVerwGE 51, 281, 286). Insoweit hält der Senat an seiner Rechtsprechung fest.
Nach allem gilt: Auch in den Fällen, in denen neben dem fehlenden Sehvermögen weitere oder alle Sinnesorgane schwer geschädigt sind, ändert dies nichts daran, dass der Betroffene sowohl in tatsächlich wie auch in rechtlicher Hinsicht blind ist und jedenfalls Anspruch auf Blindengeld hat.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
BSGE 2016, 224 |
NVwZ 2015, 8 |
SGb 2015, 561 |
ZfF 2016, 21 |
ZfSH/SGB 2015, 731 |
br 2015, 181 |
Breith. 2016, 254 |