Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit eines Schlossers. Verwertung der Gerichtskunde im Urteil. Gewährung rechtlichen Gehörs
Orientierungssatz
1. Bei der Bestimmung der zumutbaren "Verweisungstätigkeiten" kommt es entscheidend auf den bisherigen Beruf des Versicherten an, dem eine ihm noch zugemutete Tätigkeit angemessen entsprechen muß. Ein gelernter Facharbeiter kann noch auf Arbeiten als Facharbeiter auf die Anlernberufe der darunter liegenden tariflichen "Stufe" und auf alle Arbeiten verwiesen werden, die wegen ihrer Qualität tariflich etwa gleich hoch eingestuft sind (vgl BSG 1980-04-24 1 RJ 62/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 62).
2. Eine als gerichtskundig angesehene Tatsache muß zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden, damit die Beteiligten dies erkennen und sich hierzu äußern können. Geschieht dies nicht, liegt eine Verletzung des Anspruchs der Beteiligten auf rechtliches Gehör (GG Art 103 Abs 1; SGG § 62) und zugleich des SGG § 128 Abs 2 vor (vgl BSG 1978-12-14 1 RJ 72/78).
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs 2 Fassung: 1953-09-03; GG Art 103 Abs 1 Fassung: 1949-05-23
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 09.01.1979; Aktenzeichen L 5 Ar 394/77) |
SG Würzburg (Entscheidung vom 27.06.1977; Aktenzeichen S 5 Ar 58/76) |
Tatbestand
Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Der Kläger, gelernter Schlosser und zuletzt als Reparaturschlosser tätig gewesen, beantragte im Juni 1975 bei der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) Versichertenrente wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit. Nach ärztlicher Untersuchung und Begutachtung lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 30. Dezember 1975 den Antrag des Klägers mit der Begründung ab, daß BU noch nicht vorliege.
Mit der hiergegen erhobenen Klage hatte der Kläger in den Vorinstanzen keinen Erfolg. In der angefochtenen Entscheidung vom 9. Januar 1979 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers gegen das die Klage abweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 27. Juni 1977 zurückgewiesen: Der an einer chronischen Leberkrankheit und an einer Kniegelenksarthrose leidende Kläger könne noch auf Facharbeiten, auf Anlernberufe oder auf Arbeiten verwiesen werden, die wegen ihrer Qualität etwa gleich hoch eingestuft seien. Es gebe eine Reihe von Arbeiten als Schlosser oder auch artverwandte und gleichwertige Tätigkeiten, die überwiegend im Sitzen verrichtet werden könnten. Zu ihnen zählten Prüfarbeiten an Maschinen und an Apparaturen. Der Kläger könne ferner Arbeiten in der Fertigungskontrolle verrichten und hierbei seine erworbenen Fachkenntnisse verwerten. Schließlich könne er als Schloß- und Schlüsselmacher oder als Modellschlosser eingesetzt werden, alles Arbeiten, die keine besonderen Anforderungen an die körperliche Kraft stellten. Er sei deshalb nicht berufsunfähig. Ein berufskundliches Gutachten, wie vom Kläger beantragt, sei nicht notwendig.
Gegen dieses Urteil hat der Senat die Revision zugelassen (Beschluß vom 3. Oktober 1979).
Der Kläger hat die Revision eingelegt. Er ist der Meinung, das LSG habe im angefochtenen Urteil seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, indem es tatsächliche Feststellungen zu Verweisungstätigkeiten auf eigene Sachkunde gestützt, aber nicht zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht habe. Er habe dadurch keine Gelegenheit gehabt, Gegenbeweis anzubieten. Dieser hätte den Nachweis erbracht, daß er für keine der vom LSG in Betracht gezogenen Verweisungstätigkeiten geeignet sei.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil, das Urteil des SG Würzburg vom
27. Juni 1977 sowie den Bescheid der Beklagten vom
30. Dezember 1975 aufzuheben und diese zu verurteilen,
ihm auf seinen Antrag vom 9. Juni 1975 Versichertenrente
wegen Berufsunfähigkeit zu leisten,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung
an das Bayerische Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verweist auf das angefochtene Urteil.
Beide Beteiligten haben erklärt, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sind (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist mit ihrem Hilfsantrag auf Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.
Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ist bu ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Dabei umfaßt der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (Satz 2 aaO). Bei der Bestimmung der zumutbaren "Verweisungstätigkeiten" kommt es mithin entscheidend auf den bisherigen Beruf des Versicherten an, dem eine ihm noch zugemutete Tätigkeit angemessen entsprechen muß. Das LSG hat mithin sachlich-rechtlich zutreffend erkannt, daß der Kläger noch auf Arbeiten als Facharbeiter, auf die Anlernberufe der darunter liegenden tariflichen "Stufe" und auf alle Arbeiten verwiesen werden kann, die wegen ihrer Qualität tariflich etwa gleich hoch eingestuft sind (vgl BSGE 41, 129 = SozR 2200 § 1246 Nr 11; BSGE 43, 243 = SozR 2200 § 1246 Nr 16; der erkennende Senat zB in SozR 2200 § 1246 Nr 29 und in den Entscheidungen vom 12. Dezember 1979 - 1 RJ 132/78 - und vom 24. April 1980 - 1 RJ 62/79 -).
Die Frage, welche Anforderungen eine bestimmte, zur Verweisung in Betracht kommende Tätigkeit an "Kräfte und Fähigkeiten" (Satz 2 aaO) des Versicherten stellt, ist dagegen tatsächlicher Natur. Sie ist vom erkennenden Gericht regelmäßig aufgrund des Ergebnisses einer Beweisaufnahme zu beantworten, wobei dem Versicherten im erheblichen Umfang Anhörungs- und Mitwirkungsrechte eingeräumt sind (vgl §§ 62, 107, 116, 127, 128 Abs 2 SGG; § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 357, 397 der Zivilprozeßordnung -ZPO-; Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes -GG-). Indessen ist dem LSG einzuräumen, daß eine Beweisaufnahme dort entbehrlich ist, wo das Gericht aufgrund eigener Kenntnis der entscheidungserheblichen Tatsachen (Gerichtskunde) in der Lage ist, die erforderlichen Feststellungen zu treffen. Die eine Beweisaufnahme ersetzende Gerichtskunde kann jedoch, wie nicht näher begründet zu werden braucht, nicht unter geringeren Beteiligungs- und Anhörungsrechten zur Grundlage einer Gerichtsentscheidung gemacht werden wie das Ergebnis einer Beweisaufnahme. Deshalb muß nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) eine als gerichtskundig angesehene Tatsache zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden, damit die Beteiligten dies erkennen und sich hierzu äußern können. Geschieht dies nicht, liegt eine Verletzung des Anspruchs der Beteiligten auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) und zugleich des § 128 Abs 2 SGG vor (vgl zB BSGE 22, 19 = SozR Nr 70 zu § 128 SGG; BSG SozR Nr 91 zu § 128 SGG; SozR 1500 § 62 Nr 2 und 3; Urteil des 11. Senats des BSG vom 16. März 1978 - 11 RA 66/77 -; Entscheidungen des erkennenden Senats in SozR 2200 § 1246 Nr 29 und vom 14. Dezember 1978 - 1 RJ 72/78 - und weiterhin in ständiger Rechtsprechung). Für die Feststellung im angefochtenen Urteil, daß eine Reihe von Arbeiten als Schlosser oder auch artverwandte und gleichwertige Tätigkeiten überwiegend im Sitzen verrichtet werden könnten, daß das Arbeitsfeld des Maschinenschlossers auch Prüfarbeiten an Maschinen und an Apparaturen umfasse, welche überwiegend im Sitzen verrichtet werden könnten, daß der Kläger Arbeiten in der Fertigungskontrolle verrichten und hierbei seine erworbenen Fachkenntnisse verwerten könne, daß der Kläger aufgrund seiner Kenntnisse auch als Schloß- oder Schlüsselmacher oder als Modellschlosser eingesetzt werden könne, weil es sich hierbei um Arbeiten als Facharbeiter handele, die keine besonderen Anforderungen an die körperliche Kraft stellten, nimmt das LSG offensichtlich die eigene Gerichtskunde in Anspruch. Zwar erwähnt das LSG auch die in Broschürenform vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1966 herausgegebene Klassifizierung der Berufe sowie den Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der bayerischen Metallindustrie vom 1. Dezember 1973 sowohl nach dem Stande vom 1. Mai 1974 wie nach dem vom 1. Juli 1977. Indessen folgt aus der ersteren Unterlage auch nach der Angabe des LSG nur, daß das Arbeitsfeld des Maschinenschlossers auch Prüfarbeiten an Maschinen und Apparaturen umfasse. Welche Anforderungen körperlicher und geistiger Art die genannten Prüfarbeiten an den Versicherten stellen, ist der Klassifizierung der Berufe nicht zu entnehmen; das LSG stützt sich insoweit auch nicht auf sie. Der vom LSG weiter herangezogene Tarifvertrag ist im angefochtenen Urteil nur insoweit verwertet, als Arbeiten in der Fertigungskontrolle, zu deren Verrichtung das LSG den Kläger ohne weitere Begründung für fähig hält, lohnmäßig wie die Tätigkeit eines Facharbeiters eingestuft sind.
Dem angefochtenen Urteil und der vom LSG angefertigten Sitzungsniederschrift vom 9. Januar 1979 ist nicht zu entnehmen, daß das Berufungsgericht die in bezug auf die vorstehend dargestellten Tatsachenfeststellungen von ihm in Anspruch genommene Sach- und Gerichtskunde wie bezeichnet zum Gegenstand des Verfahrens gemacht und dem Kläger Gelegenheit gegeben hat, hierzu Stellung zu nehmen. Im Sitzungsprotokoll sind lediglich die vorerwähnte Klassifizierung der Berufe und der oben bezeichnete Tarifvertrag erwähnt, die - wie dargetan - zum größten Teil die Feststellungen des LSG nicht tragen. Die vom Kläger gerügten Verfahrensverstöße liegen mithin vor.
Da nicht ausgeschlossen werden kann, daß das LSG anders entschieden hätte, wenn es unter Vermeidung der dargestellten Verfahrensverstöße bei der Feststellung von Tatsachen seine Gerichtskunde zum Gegenstand der Verhandlung gemacht hätte, hatte der Senat gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Der Ausspruch im Kostenpunkt bleibt der Endentscheidung in der Sache vorbehalten.
Fundstellen