Entscheidungsstichwort (Thema)
Hinterbliebenenrente für geschiedene Ehefrau des Versicherten. Unterhaltsbeitragspflicht nach EheG § 60 als Unterhaltsverpflichtung iS von RVO § 1265 S 2 Nr 1. eigene Versichertenrente als Erträgnis einer Erwerbstätigkeit. Auslegung einer Willenserklärung als Tatsachenfeststellung
Orientierungssatz
Eine vom LSG vorgenommene Auslegung einer Willenserklärung ist eine das Revisionsgericht gemäß SGG § 163 bindende Tatsachenfeststellung, soweit sie die Frage betrifft, was der Erklärende geäußert und was er entsprechend seinem "inneren" Willen tatsächlich gemeint hat (vgl BSG 1976-07-21 3 RK 81/74 = SozR 1500 § 163 Nr 2 und BSG 1976-11-24 1 RA 151/75 = SozR 2200 § 1265 Nr 24).
Normenkette
RVO § 1265 Abs 2 Nr 1 Fassung: 1972-10-16; EheG § 60 Fassung: 1946-02-20; SGG § 163 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 21.02.1979; Aktenzeichen L 6 J 38/78) |
SG Berlin (Entscheidung vom 17.01.1978; Aktenzeichen S 22 J 1645/77) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Hinterbliebenenrente nach ihrem früheren, am 8. Oktober 1976 verstorbenen Ehemann, dem Versicherten, zusteht.
Die 1904 geborene Klägerin war seit 1925 mit dem Versicherten verheiratet. 1973 wurde die Ehe aus beiderseitigem Verschulden geschieden. Bis 1974 lebten sie getrennt und bezogen danach gemeinsam eine Wohnung. Die Miete für diese Wohnung betrug monatlich 384,93 DM. Sie wurde von dem gemeinsamen Sohn der Klägerin und des Versicherten bezahlt. In gleicher Höhe zahlte der Versicherte an die Klägerin einen monatlich fälligen Betrag. Der Versicherte bezog seit 1966 Altersruhegeld, das sei Juli 1976 815,70 DM betrug. Die Klägerin hatte ebenfalls seit Jahren eine Rente, und zwar seit Juli 1976 in Höhe von 253,60 DM. In einer von dem Versicherten unterschriebenen Erklärung vom 14. Juli 1976 erklärte dieser, daß er die monatliche Miete in Höhe von 384,93 DM seit Januar 1975 (dem Bezug der gemeinsamen Wohnung) als Anrechnung für den Lebensunterhalt seiner geschiedenen Ehefrau allein trage.
Den von der Klägerin nach dem Tode des Versicherten gestellten Antrag auf Gewährung von Hinterbliebenenrente lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 13. April 1977 ab. Das Sozialgericht (SG) hat der hiergegen gerichteten Klage stattgegeben (Urteil vom 17. Januar 1978). Mit Urteil vom 21. Februar 1979 hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat im wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO), unter denen die Klägerin einen Hinterbliebenenanspruch haben könne, lägen nicht vor. Die Klägerin habe gegen den Versicherten keinen Unterhaltsanspruch gehabt. Denn ihr Bedarf sei durch Unterhaltsleistungen des Sohnes gedeckt worden. Dadurch, daß der Sohn die Miete gezahlt habe, habe er seiner Mutter in Höhe des halben Mietpreises Unterhalt gewährt. Einen gleich hohen Betrag habe er dadurch an sie erbracht, daß er auch den Mietanteil des Vaters getragen habe und unter den drei Beteiligten eine stillschweigende Vereinbarung getroffen worden sei, daß der Vater den ersparten Mietbetrag an die Klägerin weitergebe. Auch aus sonstigen Gründen sei der Versicherte nicht zum Unterhalt gegenüber der Klägerin verpflichtet gewesen. Seine Erklärung vom 14. Juli 1976 stelle weder einen Unterhaltsvertrag noch ein möglicherweise später von der Klägerin angenommenes Vertragsangebot dar. Die Erklärung habe lediglich von ihm bewirkte Zahlungen und seine Rechtsansicht über deren Charakter zum Inhalt, besage aber nichts darüber, ob er sich auch für die Zukunft zu einer solchen Zahlung verpflichten wollte. Im letzten Jahr vor seinem Tode habe der Versicherte der Klägerin auch nicht tatsächlich Unterhalt geleistet. Zwar habe er an die Klägerin monatlich 384,93 DM gezahlt. Davon sei die Hälfte als Unterhalt des Sohnes an die Klägerin anzusehen, der gegen diese Zahlung den Versicherten von der Erstattung des auf ihn fallenden Mietanteils freigestellt habe. Der restliche Betrag von 192,46 DM monatlich, den der Versicherte der Klägerin gezahlt habe, sei kein Unterhalt iS des § 1265 RVO. Denn Unterhalt leiste der Mann nur, wenn er den wirtschaftlichen Lebensbedarf der Frau unabhängig davon befriedige, ob diese eine Gegenleistung erbringe. Aus den eigenen Bekundungen der Klägerin und den Aussagen der gehörten Zeugen ergebe sich aber, daß sie ganz überwiegend seine Wäsche gewaschen und die Reinigungsarbeiten in dem vom Versicherten bewohnten Teil der Wohnung bzw die Hausarbeit geleistet habe. Ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente folge auch nicht aus § 1265 Satz 2 RVO. Auch wenn man davon ausgehe, daß eine aus § 60 des Ehegesetzes (EheG) folgende Verpflichtung zur Zahlung eines Beitrags zum Lebensunterhalt des anderen geschiedenen Teiles eine Unterhaltsverpflichtung nach § 1265 Satz 2 RVO sein könne, habe hier eine solche Verpflichtung nicht vorgelegen, weil der angemessene Unterhalt der Klägerin aus ihrer eigenen Rente und der zumutbaren Unterhaltsleistung durch den Sohn gedeckt gewesen sei.
Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 1265 RVO.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die
Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG
Berlin vom 17. Januar 1978 zurückzuweisen;
hilfsweise beantragt sie,
das Verfahren zur erneuten Verhandlung an
das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Auf die Revision der Klägerin ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Ob der Klägerin ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach dem Versicherten, ihrem früheren Ehemann, zusteht, läßt sich aufgrund der bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend entscheiden.
Unter Berücksichtigung der tatsächlichen Feststellungen des LSG, an die der Senat mangels hiergegen gerichteter formgerechter Verfahrensrügen der Revisionsklägerin gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebunden ist, hat das Berufungsgericht zu Recht entschieden, daß ein Hinterbliebenenrentenanspruch der Klägerin nach §1265 Satz 1 RVO nicht besteht. Das gilt auch für die - von der Revision allein gerügte - Verneinung einer tatsächlichen Unterhaltsleistung des Versicherten im letzten Jahr vor seinem Tode (letzte Alternative des Satzes 1 der Vorschrift). Da die Revision auch insoweit die Tatsachenfeststellungen des LSG, daß die Klägerin in diesem Zeitraum ganz überwiegend die Wäsche des Versicherten gewaschen und die Reinigungsarbeiten in dem vom Versicherten bewohnten Teil der Wohnung bzw die Hausarbeit geleistet habe, nicht angegriffen hat, ist die darauf beruhende Folgerung des LSG, die damaligen Zahlungen des Versicherten seien deshalb nicht als Unterhaltsleistung, sondern als Gegenleistung für die genannten Dienste der Klägerin anzusehen, nicht zu beanstanden. Sie entspricht vielmehr der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- (vgl BSGE 19, 185 = SozR Nr 13 zu § 1265 RVO; BSG in SozR 2200 § 1265 Nr 45 mwN). Entgegen der Meinung der Revision kann auch die von ihr angeführte Erklärung des Versicherten vom 14. Juli 1976 zu keinem abweichenden Ergebnis führen. Denn diese Erklärung wird in der Revisionsbegründung anders als im angefochtenen Urteil ausgelegt. Dabei wird übersehen, daß die vom LSG vorgenommene Auslegung der genannten Willenserklärung ebenfalls eine das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindende Tatsachenfeststellung ist, soweit sie die Frage betrifft, was der Erklärende geäußert und was er entsprechend seinem "inneren" Willen tatsächlich gemeint hat (so übereinstimmend BSG in SozR 1500 § 163 Nr 2 und SozR 2200 § 1265 Nr 24).
Indes kann nicht abschließend gesagt werden, ob der Klägerin eine Hinterbliebenenrente nach § 1265 Satz 2 RVO zusteht. Insoweit hat sie die Voraussetzungen der Nr 2 und Nr 3 dieser Vorschrift erfüllt, weil sie im Zeitpunkt der Ehescheidung das 45. Lebensjahr vollendet hatte und zur Zeit des Todes des Versicherten schon über 60 Jahre alt war. Der Anspruch hängt demnach allein davon ab, ob iS des § 1265 Satz 2 Nr 1 RVO eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten wegen dessen Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse oder wegen der Erträgnisse der Klägerin aus einer Erwerbstätigkeit nicht bestanden hat. Der Große Senat des BSG hat mittlerweile, dh nach Erlaß des angefochtenen Berufungsurteils, die Frage, ob eine hier lediglich in Betracht kommende Unterhaltsbeitragspflicht nach § 60 EheG eine Unterhaltsverpflichtung iS des § 1265 Satz 2 Nr 1 RVO ist, bejaht (Beschluß vom 25. April 1979 in BSGE 48, 146 ff = SozR 2200 § 1265 Nr 41). Die Auffassung des LSG, daß unabhängig davon eine Unterhaltsverpflichtung nach dieser Vorschrift nicht bestanden habe, weil der angemessene Unterhalt der Klägerin aus den zumutbaren Unterhaltsleistungen ihres Sohnes und aus ihrer eigenen Rente gedeckt gewesen sei, ist im Hinblick auf die Verknüpfung dieser beiden Einkünfte unzutreffend; denn die eigene Rente der Klägerin gehört nach der Entscheidung des BSG vom 25. September 1975 - 12 RJ 316/74 - (SozR 2200 § 1265 Nr 9) zu den Erträgnissen einer Erwerbstätigkeit iS des § 1265 Satz 2 Nr 1 RVO. Sie hätte deshalb bei der vom LSG angestellten Prüfung außer Betracht bleiben müssen.
Da somit im Rahmen dieser Vorschrift allein als vom Versicherten und von Erträgnissen eigener Erwerbstätigkeit der Klägerin unabhängiges Einkommen die Unterhaltsleistung des Sohnes zugrunde gelegt werden darf, ist nach den bisherigen Feststellungen des LSG nicht auszuschließen, daß gemäß § 1265 Satz 2 Nr 1 RVO noch Raum für eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten bleibt, die wenigstens etwa ein Viertel des zeitlich und örtlich notwendigen Mindestbedarfs der Klägerin nach Sozialhilfegrundsätzen (vgl hierzu BSG in SozR 2200 § 1265 Nr 18 und Nr 34 sowie Urteil des erkennenden Senats vom heutigen Tage in der Sache 5 RJ 90/79) betragen hätte. Dies wird das Berufungsgericht noch zu prüfen haben.
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen