Entscheidungsstichwort (Thema)
Beurteilung der Krankenhauspflegebedürftigkeit bei Alkoholikern. Abgrenzung der Anstaltspflege von der Krankenhauspflege. zuständiger Rehabilitationsträger bei chronischem Alkoholismus. Geltendmachung von Ersatzansprüchen als echte Leistungsklage
Leitsatz (redaktionell)
1. Bei der Beurteilung darüber, ob eine Notwendigkeit der Krankenhauspflege besteht, darf das Tatsachengericht sich nicht lediglich auf ein Gutachten des Krankenhauses stützen, in dem der Versicherte untergebracht worden ist und das auch noch von dem Träger der Sozialhilfe unterhalten wird, der den Ersatzanspruch geltend macht. Es muß vielmehr noch einen unbeteiligten Gutachter hören.
2. Leidet ein Versicherter an chronischem Alkoholismus, muß bei einem Streit darüber, ob Krankenhauspflege notwendig ist auch geprüft werden, ob die Voraussetzungen des RVO § 184a gegeben sind.
Orientierungssatz
1. Bei der Abgrenzung der Anstaltspflege iS des RVO § 216 Abs 1 Nr 4 von der Krankenhauspflege iS des RVO § 184 Abs 1 ist im allgemeinen ohne Rücksicht auf die Dauer der Unterbringung darauf abzustellen, ob die erforderlichen Pflegemaßnahmen lediglich dem Zweck dienen, einem Zustand der Hilflosigkeit zu begegnen, oder ob sie als Teil einer ärztlichen Behandlung dieser untergeordnet sind.
2. Ist eine Rehabilitationsmaßnahme als Behandlung iS des RVO § 184a zu werten, so hat dafür der Träger der Rentenversicherung einzustehen, selbst wenn es sich dabei nur um eine im pflichtgemäßen Ermessen des Versicherungsträgers stehende Leistung handelt. Maßnahmen zur Bekämpfung einer krankhaften Trunksucht lassen sich weder ausschließlich dem Bereich der Krankenversicherung noch ausschließlich dem der Rentenversicherung zuordnen, sondern betreffen eine Aufgabe, die beiden Versicherungszweigen zugeteilt ist.
3. Bei der Geltendmachung von Ersatzansprüchen der Rechtsträger des öffentlichen Rechts untereinander handelt es sich nicht um eine Verpflichtungsklage, sondern um eine echte Leistungsklage (SGG § 54 Abs 5).
Normenkette
RVO § 216 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1956-06-12, § 184 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1973-12-19, § 184a Fassung: 1974-08-07; SGG § 54 Abs. 5
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 21.02.1979; Aktenzeichen L 14 Kr 5/77) |
SG Würzburg (Entscheidung vom 25.11.1976; Aktenzeichen S 8 Kr 17/75) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagte wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. Februar 1979 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der klagende Sozialhilfeträger fordert von der beklagten Krankenkasse Ersatz der Kosten, die er für die stationäre Unterbringung des Beigeladenen im Nervenkrankenhaus (Bezirkskrankenhaus) I ab 1. Juli 1974 aufgewandt hat.
Der Beigeladene ist als Rentner Mitglied der Beklagten. Er leidet an einer hirnorganischen Wesensänderung mit Liquorzirkulationsstörungen, einem Hydrocephalus internus sowie einem Zustand nach einer 1960 erfolgten Operation im Bereich des Atlasbogens und der Hinterhauptschuppe, verbunden mit wiederkehrenden Verstimmungs- und Erregungszuständen, einem chronischen Alkoholismus sowie gelegentlich auftauchenden Suizidneigungen. Deshalb befindet er sich seit 1971 in dem genannten Krankenhaus. Die Beklagte, die bis dahin die Krankenhauskosten getragen hatte, lehnte eine Kostenübernahme über den 30. Juni 1974 hinaus ab, weil es sich nunmehr um einen Pflegefall handele. Deshalb übernahm der Kläger vorläufig die Kosten. Das Sozialgericht (SG) hat ein am 2. Juni 1976 erstattetes nervenfachärztliches Gutachten des Direktors des Krankenhauses I Dr. K eingeholt und mit Urteil vom 25. November 1976 die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die ab 1. Juli 1974 für den Beigeladenen vorläufig getragenen Krankenhauskosten zu erstatten. Die Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat - gestützt auf die vorliegenden ärztlichen Unterlagen und das Urteil des Senats vom 10. Oktober 1978 - 3 RK 81/77 - ausgeführt: Der Beigeladene habe auch über den 30. Juni 1974 hinaus Krankenhauspflege iS des § 184 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erhalten. Der Anspruch auf diese Leistung habe nicht nach § 216 Abs 1 Nr 4 RVO geruht, weil eine dauernde Unterbringung zur Pflege nicht vorgelegen habe. Entscheidend sei, daß hier durch die Krankenhausbehandlung eine Linderung der Beschwerden erreicht und ihre Verschlimmerung verhütet worden seien. Außerdem könnten die plötzlichen und unberechenbaren Ausbrüche des Beigeladenen nur durch besonders geschultes Pflegepersonal aufgefangen werden. Im Falle einer Entlassung des Beigeladenen werde sofort eine wesentliche Verschlimmerung eintreten.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte Verletzung des § 184 RVO. Sie vertritt weiterhin die Auffassung, es handele sich um einen Pflegefall. Der Sachverhalt unterscheide sich wesentlich von dem, der der genannten Entscheidung des Senats vom 10. Oktober 1978 zugrundegelegen habe. Die Behandlung bestehe hier lediglich in begleitenden, unterstützenden Maßnahmen. Der Beigeladene sei untergebracht wegen seiner Unfähigkeit, außerhalb einer Anstalt ohne ernsthafte Selbstgefährdung zu leben. Daß die Behandlung die Krankheitsbeschwerden lindern und eine Verschlimmerung der Krankheitsfolgen weitgehend bannen könne, sei zwar nicht zu bestreiten. Im Vordergrund stehe aber das Fernhalten des Beigeladenen von den Gefahren eines unbeaufsichtigten Lebens, in erster Linie also ein Ausgleich seiner Hilflosigkeit außerhalb des Krankenhauses.
Die Beklagte beantragt,
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise: den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Beigeladene ist nicht vertreten.
II
Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Zwar kann nach § 1531 Satz 1 RVO ein Träger der Sozialhilfe, der nach gesetzlicher Pflicht einen Hilfsbedürftigen für eine Zeit unterstützt, für die dieser einen Anspruch aufgrund der RVO hatte, bis zur Höhe dieses versicherungsrechtlichen Anspruchs nach den §§ 1532 bis 1537 RVO Ersatz verlangen; die gewährten Unterstützungen sind dabei nach § 1533 RVO aus den ihnen entsprechenden Leistungen der Krankenkasse zu ersetzen. Ob diese Voraussetzungen hier erfüllt sind und die Beklagte deshalb verpflichtet war, dem Beigeladenen auch über den 30. Juni 1974 hinaus Krankenhauspflege zu gewähren, kann der Senat jedoch nicht entscheiden, weil es am der Feststellung von Tatsachen fehlt, die für diese Entscheidung wesentlich sind.
Nach § 184 Abs 1 RVO in seiner seit dem 1. Januar 1974 geltenden und deshalb hier anwendbaren Fassung (vgl § 1 Nr 1 des Leistungsverbesserungsgesetzes vom 19. Dezember 1973; BGBl I 1925) ist Krankenhauspflege zu gewähren, wenn die Aufnahme in ein Krankenhaus erforderlich ist, um die Krankheit zu erkennen oder zu behandeln oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Der Anspruch ruht jedoch nach § 216 Abs 1 Nr 4 RVO für die in § 165 Abs 1 Nr 3 RVO bezeichneten Versicherten (Rentner) und deren anspruchsberechtigte Familienangehörige, solange sie in einer Anstalt, in der sie im Rahmen ihrer Gesamtbetreuung Krankenpflege erhalten, "dauernd zur Pflege untergebracht" sind. Der Senat hat bereits in seinem vom LSG genannten Urteil vom 10. Oktober 1978 (BSGE 47, 83 = SozR 2200 § 216 RVO Nr 2) darauf hingewiesen, daß § 216 Abs 1 Nr 4 RVO als Ausnahmevorschrift eng auszulegen ist. Deshalb handelt es sich auch bei einer stationären Unterbringung auf Dauer nicht stets um einen "Pflegefall" iS dieser Vorschrift, der Leistungsansprüche gegen die Krankenkasse nicht begründet oder zum Ruhen bringt. Allerdings ist die Krankenkasse dann nicht leistungspflichtig, wenn die Anstaltspflege des Rentners oder seines Familienangehörigen nur noch um ihrer selbst willen erfolgt. Dagegen ist eine Pflegefall nicht schon dann anzunehmen, wenn eine ärztliche Behandlung nicht mehr mit dem Ziel der Besserung und Heilung des Leidens und der Beendigung der Unterbringung durchgeführt wird; denn auch die anderen medizinischen Gründe, die die Krankenkasse zur Krankenhauspflege verpflichten, schließen das Vorliegen eines Pflegefalles aus. Ein solcher liegt mithin auch dann nicht vor, wenn zwar eine Heilung oder auch nur Besserung des Leidens nicht mehr zu erwarten ist, die Behandlung aber eine Verschlimmerung verhüten, das Leben verlängern oder lediglich Krankheitsbeschwerden lindern soll. Soweit die Einweisung in ein Krankenhaus oder die Fortdauer des stationären Aufenthalts aus diesen medizinischen Gründen erfolgt, kann sich deshalb der Krankenversicherungsträger nicht unter Berufung auf die Ruhensbestimmung des § 216 Abs 1 Nr 4 RVO seiner nach § 184 RVO bestehenden Verpflichtung zur Krankenhauspflege entziehen (vgl das bereits genannte Urteil des Senats vom 10. Oktober 1978 sowie sein ebenfalls zur Veröffentlichung vorgesehenes Urteil vom 25. Januar 1979 - 3 RK 83/78 -).
Bei der Abgrenzung der Anstaltspflege iS des § 216 Abs 1 Nr 4 RVO von der Krankenhauspflege iS des § 184 Abs 1 RVO wird mithin im allgemeinen ohne Rücksicht auf die Dauer der Unterbringung darauf abzustellen sein, ob die erforderlichen Pflegemaßnahmen lediglich dem Zweck dienen, einem Zustand der Hilflosigkeit zu begegnen, oder ob sie als Teil einer ärztlichen Behandlung dieser untergeordnet sind. Was insoweit bei dem Beigeladenen in der streitigen Zeit vorlag, läßt sich vorerst nicht entscheiden. Das LSG hat seinem Urteil insbesondere ein Gutachten zugrundegelegt, das von dem Chefarzt des Krankenhauses erstellt worden ist, in dem sich der Beigeladene befindet und das letztlich von der Klägerin unterhalten wird. An einem von dritter, unbeteiligter Seite erstellten ärztlichen Gutachten fehlt es bisher. Das LSG wird deshalb ein solches Gutachten beiziehen und die entsprechenden Feststellungen treffen müssen.
Da der Beigeladene ua an einem chronischen Alkoholismus leidet, wird das LSG bei seiner neuen Entscheidung auch zu beachten haben, daß seit der mit Wirkung vom 1. Oktober 1974 erfolgten Einführung des § 184 a RVO (§ 21 Nr 9 Reha-AnglG vom 7. August 1974, BGBl I 1881) Alkoholentziehungskuren sowohl zum Leistungsbereich der Kranken- als auch zu dem der Rentenversicherung gehören. Wie der Senat bereits entschieden hat, sind deshalb seither bei Versicherten, die gleich dem Beigeladenen Ansprüche nicht nur gegen die Krankenversicherung, sondern auch gegen die Rentenversicherung geltend machen können, außer dem krankenversicherungsrechtlichen auch die rentenversicherungsrechtlichen Tatbestände zu prüfen und danach ist zu ermitteln, ob ihnen (auch) Leistungen der Rentenversicherung zustehen. Dabei kommt dem § 184 a RVO insofern besondere Bedeutung zu, als diese Vorschrift klarstellt, daß für eine Behandlung mit Unterkunft und Verpflegung in Kur- oder Spezialeinrichtungen die Träger der Krankenversicherung nur subsidiär hinter den Trägern der Rentenversicherung leistungsverpflichtet sind. Ist somit eine Rehabilitationsmaßnahme als Behandlung iS des § 184 a RVO zu werten, so hat dafür der Träger der Rentenversicherung einzustehen, selbst wenn es sich dabei nur um eine im pflichtgemäßen Ermessen des Versicherungsträgers stehende Leistung handelt. Maßnahmen zur Bekämpfung einer krankhaften Trunksucht lassen sich mithin seither weder ausschließlich dem Bereich der Krankenversicherung noch ausschließlich dem der Rentenversicherung zuordnen, sondern betreffen eine Aufgabe, die beiden Versicherungszweigen zugeteilt ist. Welcher Versicherungsträger zur Durchführung einer Rehabilitations-(Teil-)maßnahme jeweils zuständig ist, richtet sich dabei nach der Art der Maßnahme, weshalb es im Einzelfall jeweils einer genauen Prüfung aller Umstände bedarf, um die Zuordnung zu dem einen oder dem anderen Versicherungszweig zutreffend vornehmen zu können (vgl hierzu im einzelnen Urteil des Senats vom 15. Februar 1978 - 3 RK 29/77 - BSGE 46, 41, 43, 45/46 = SozR 2200 § 184 a RVO Nr 1; siehe dazu auch die sogenannte "Sucht-Vereinbarung" zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und dem Verband Deutscher Rentenversicherungsträger vom 20. November 1978 in BKK 1979, 58).
Schließlich erweckt das vom LSG bestätigte Urteil des SG mit der Formulierung seines Tenors ("Die Beklagte ist verpflichtet, ..." statt "Die Beklagte wird verurteilt, ...") den Eindruck, als habe das Gericht über eine Verpflichtungsklage entscheiden wollen. Das LSG wird deshalb bei seiner neuen Entscheidung zu berücksichtigen haben, daß es sich bei der Geltendmachung von Ersatzansprüchen der Rechtsträger des öffentlichen Rechts untereinander nicht um eine Verpflichtungsklage, sondern um eine echte Leistungsklage (§ 54 Abs 5 SGG) handelt (vgl Peters-Sautter-Wolff, Komm zur SGb 4. Aufl, 30. Nachtr, § 54 Anm 5 Buchst a und b, Anm 6 Buchst a und c).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen