Leitsatz (amtlich)

Bezeichnet die Versorgungsverwaltung die Schädigungsfolgen nur unklar und gibt sie damit mehreren Deutungen über den Umfang ihrer Feststellung ("Anerkennung") Raum, so geht dies zu ihren Lasten; die Verwaltung muß es dann gegen sich gelten lassen, wenn die Feststellung so ausgelegt wird, wie sie bei Würdigung aller Umstände verstanden werden muß, auch wenn die Verwaltung eine "Anerkennung" in diesem Umfang nicht gewollt hat.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Bei der Neufeststellung nach BVG § 86 Abs 3 können Fehler des Umanerkennungsbescheides bei der Beurteilung der als Schädigungsfolgen anerkannten Gesundheitsstörungen, soweit diese Fehler auf die unterbliebene ärztliche Untersuchung zurückzuführen gewesen sind, berücksichtigt werden.

2. Das Versorgungsamt ist aber, soweit über den ursächlichen Zusammenhang noch vorhandener Gesundheitsstörungen mit dem Wehrdienst bereits nach früherem Recht entschieden worden ist, nach BVG § 85 an diese Entscheidung gebunden.

 

Normenkette

BVG § 1 Fassung: 1950-12-20, § 86 Abs. 3 Fassung: 1956-06-06, § 85 Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Februar 1958 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger bezog auf Grund eines Bescheids des Versorgungsamts N vom 27. November 1929 wegen "Beschwerden nach Brustschuß, eingeheilter Fremdkörper in der Bindehaut des Augapfels rechts" eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 30 v.H. Im Mai 1947 beantragte er, ihm Versorgung nach dem Bayerischen Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte vom 26. März 1947 (KBLG) zu gewähren. Die Landesversicherungsanstalt (LVA.) O, Abteilung Körperbeschädigte, holte ein Gutachten des Dr. med. L ein; in diesem Gutachten vom 31. Mai 1949 hieß es: "Abgesehen von einer leichten Oberfeldfibrose links und einer geringen Bronchitis waren klinisch und röntgenologisch keine Erscheinungen an der Lunge festzustellen, die man mit dem Brustschuß in Zusammenhang bringen könnte. Unter Einbezug des Reizzustandes am rechten Auge kann eine MdE. von 30 v.H. anerkannt werden." Darauf erließen am 9. Juni 1949 die LVA. einen vorläufigen Bescheid und das Versorgungsamt N am 15. Dezember 1950 einen endgültigen Bescheid nach dem KBLG. Als Schädigungsfolgen wurden anerkannt: "1. Beschwerden nach Brustschuß, 2. eingeheilter Fremdkörper an der Bindehaut des rechten Auges"; dem Kläger wurde eine Rente nach einer MdE. um 30 v.H. gewährt.

Am 16. August 1951 wurden die Versorgungsbezüge des Klägers - zunächst ohne ärztliche Untersuchung - nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) festgestellt; es wurden dieselben Schädigungsfolgen anerkannt und die Rente nach demselben Grad der MdE. gewährt wie bisher. Im Mai 1953 wurde der Kläger durch den Facharzt für innere Medizin Dr. S und durch den Augenarzt Dr. B untersucht und begutachtet. Dr. S vertrat die Auffassung, von der gesamten MdE. um 30 v.H., die bei dem Kläger festgestellt worden sei, entfielen nur 5 v.H. auf Schädigungsfolgen; die Tbc-Erkrankung (inaktive Oberfeldfibrose, Spitzenschwiele links) sei nach der Lage des Schußkanals nicht durch die Brustschußverletzung gefördert worden; für das Lungenemphysem mit der Begleitbronchitis sei die Schußverletzung ebenfalls nicht verantwortlich zu machen. Darauf erließ das Versorgungsamt den Bescheid vom 3. Juni 1953; es übernahm darin die bisher anerkannten Schädigungsfolgen, entzog dem Kläger jedoch die Rente mit Ende August 1953, weil eine MdE. in einem rentenberechtigenden Grade nicht mehr vorliege; den Bescheid stützte es auf § 86 Abs. 3 BVG.

Die Klage wies das Sozialgericht Nürnberg mit Urteil vom 17. November 1954 ab. Die Berufung wies das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) mit Urteil vom 26. Februar 1958 zurück: Als Schädigungsfolgen seien nur "Beschwerden nach Brustschuß" anerkannt gewesen; die Lungen-Tbc. (Oberfeldfibrose links) und die Bronchitis seien in dem Bescheid vom 15. Dezember 1950 nicht als Schädigungsfolgen angeführt worden; diese Gesundheitsstörungen habe der Beklagte daher bei der Neufeststellung der Rente nach dem BVG nicht berücksichtigen müssen; sie seien auch, wie die ärztlichen Gutachten ergeben hätten, nicht Schädigungsfolgen; der auf § 86 Abs. 3 BVG gestützte Bescheid sei daher rechtmäßig.

Das LSG. ließ die Revision zu.

Das Urteil wurde dem Kläger am 29. Mai 1958 zugestellt. Der Kläger legte am 10. Juli 1958 Revision ein und beantragte,

das angefochtene Urteil und die Vorentscheidungen aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm über den 1. September 1953 hinaus eine Rente nach einer MdE. von 30 v.H. zu gewähren,

hilfsweise,

das Urteil des LSG. aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Er begründete die Revision - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 29. August 1958: Das LSG. habe die §§ 85, 86 Abs. 3 BVG unrichtig angewandt; bei der Neufeststellung seiner Versorgungsbezüge nach dem BVG seien die Tbc. und die Bronchitis zu Unrecht nicht als Schädigungsfolgen gewertet worden; diese Gesundheitsstörungen seien in dem Bescheid vom 15. Dezember 1950 als Schädigungsfolgen anerkannt gewesen.

Der Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft, sie ist auch frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden, sie ist sonach zulässig. Die Revision ist auch begründet.

Angefochten ist der "Neufeststellungsbescheid" vom 3. Juli 1953; durch diesen Bescheid hat der Beklagte dem Kläger die Versorgungsrente mit Ende August 1953 entzogen. Der Beklagte hat damit den Bescheid vom 16. August 1951 (Umanerkennungsbescheid), durch den er dem Kläger eine Rente nach einer MdE. von 30 v.H. bewilligt hat, als rechtswidrig angesehen und ihn als fehlerhaft zurückgenommen (vgl. hierzu BSG. 7 S. 8 (11) mit weiteren Hinweisen). Zu prüfen ist, ob die Rücknahme, die der Beklagte auf § 86 Abs. 3 BVG gestützt hat, rechtmäßig gewesen ist.

Die Rente des Klägers ist durch den Bescheid vom 16. August 1951 ohne ärztliche Nachuntersuchung unter Übernahme des bisherigen Grades der MdE. nach dem BVG festgestellt ( umanerkannt ) worden; der Beklagte hat sie daher nach der Übergangsvorschrift des § 86 Abs. 3 BVG neu feststellen dürfen; diese Neufeststellung ist nicht von einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG abhängig gewesen. Bei dieser Neufeststellung nach § 86 Abs. 3 BVG hat der Beklagte zwar Fehler des Umanerkennungsbescheides bei der Beurteilung der als Schädigungsfolgen anerkannten Gesundheitsstörungen, soweit diese Fehler auf die unterbliebene ärztliche Untersuchung zurückzuführen gewesen sind, berücksichtigen dürfen; er hat die Rentenbewilligung dementsprechend ganz oder teilweise zurücknehmen dürfen; er hat auch den Umanerkennungsbescheid insoweit zurücknehmen dürfen, als früher anerkannte Schädigungsfolgen nicht mehr bestanden haben (BSG., Urteil vom 4.2.1959, SozR. Nr. 5 zu § 86 BVG); er ist aber, soweit über den ursächlichen Zusammenhang noch vorhandener Gesundheitsstörungen mit dem Wehrdienst bereits nach früherem Recht entschieden worden ist, nach § 85 BVG an diese Entscheidung gebunden gewesen, d.h. er hat solche Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen werten und bei der Feststellung der Rente berücksichtigen müssen, selbst wenn neue medizinische Unterlagen ergeben haben, daß sie in Wirklichkeit keine Schädigungsfolgen sind.

Zu Recht hat der Kläger geltend gemacht, der angefochtene "Neufeststellungsbescheid", der zur Rentenentziehung geführt hat, habe insofern auf einer unrichtigen Rechtsanwendung beruht, als darin ein Teil der festgestellten Leiden, nämlich die inaktive Tbc. und die Bronchitis, nicht als Schädigungsfolgen gewertet worden sei. Das LSG. hat zu Unrecht angenommen, diese Gesundheitsstörungen seien nicht als Schädigungsfolgen anerkannt gewesen, da sie in dem Bescheid des Beklagten nach dem KBLG nicht angeführt worden seien; in diesen Bescheiden seien nur "Beschwerden nach Brustschuß" als Schädigungsfolgen angegeben. Das LSG. hat insoweit den Inhalt und die Tragweite des KBLG-Bescheids nicht zutreffend gewürdigt (vgl. BSG., Urteil vom 12.3.1958, SozR. Nr. 92 zu § 162 SGG). Die Feststellung der Schädigungsfolgen in diesen Bescheiden ist allerdings unklar und unbestimmt. Die Bezeichnung "Beschwerden nach Brustschuß" weist nur auf einen bestimmten schädigenden Vorgang hin, sie besagt nicht, welche organischen Veränderungen oder Krankheitserscheinungen als Folge einer mechanisch-traumatischen Einwirkung vorgelegen haben und als Schädigungsfolgen erfaßt werden sollen. Bei dieser Sachlage ist der Inhalt und die Tragweite der "Anerkennung" durch Auslegung zu ermitteln, d.h. aus den Umständen des Einzelfalles zu bestimmen; dabei sind alle Unterlagen, auch die ärztlichen Diagnosen und Gutachten, die der Anerkennung zugrunde gelegen haben, zu berücksichtigen (BSG. 3, 47 (48, 49)). Im vorliegenden Fall hat der Anerkennung der "Beschwerden nach Brustschuß" nach dem KBLG das Gutachten des Dr. L vom 31. Mai 1949 zugrunde gelegen. Dr. Lauchs hat bei dem Kläger keine Krankheitserscheinungen festgestellt, die auf den Brustschuß zurückgeführt werden könnten, außer einer leichten Oberfeldfibrose und einer geringen Bronchitis; er hat hinzugefügt, daß unter Einbezug des Reizzustandes des rechten Auges eine MdE. von 30 v.H. "anerkannt" werden könnte. Der leitende Amtsarzt hat in einem Prüfungsvermerk erklärt, daß er damit einverstanden sei. Darauf hat der Beklagte, ohne weitere medizinische Tatsachen festzustellen oder Unterlagen heranzuziehen, nicht nur in dem vorläufigen Bescheid vom 9. Juli 1949, sondern auch in dem endgültigen Bescheid nach dem KBLG vom 15. Dezember 1950 weiterhin "Beschwerden nach Brustschuß" als Schädigungsfolgen anerkannt. Diese Anerkennung kann sich nur auf Krankheitserscheinungen bezogen haben, die Dr. L festgestellt und als Folgen des Brustschusses bezeichnet hat, andernfalls hätte sie überhaupt keinen Sinn gehabt; als solche Folgen hat er aber allein die leichte Oberfeldfibrose und die geringe Bronchitis in Betracht gezogen. Zwar ist es richtig, daß die Leidensbezeichnung "Beschwerden nach Brustschuß" auf die Erstanerkennung nach altem Versorgungsrecht (RVG) zurückgegangen ist, der Beklagte hat aber im Versorgungsverfahren nach dem KBLG prüfen dürfen und müssen, ob und inwieweit noch Gesundheitsstörungen vorgelegen haben, die weiterhin als Schädigungsfolgen festzustellen gewesen sind. Der Beklagte hat dies auch getan, indem er "zur Feststellung der erlittenen Körperbeschädigungen und in Durchführung des KBLG" ein ärztliches Gutachten des Dr. L eingeholt hat. Wenn der Beklagte nach der Feststellung dieses Arztes, daß nur eine leichte Oberfeldfibrose und eine geringe Bronchitis mit dem Brustdurchschuß in Zusammenhang gebracht werden könnten und daß sonstige Gesundheitsstörungen - abgesehen von dem ebenfalls anerkannten Reizzustand des rechten Auges - nicht vorliegen, weiterhin "Beschwerden nach Brustschuß" als Schädigungsfolgen anerkannt und bewertet hat, so muß angenommen werden, daß diese Anerkennung die von Dr. L bezeichneten Gesundheitsstörungen eingeschlossen hat. Wenn der Beklagte diese Gesundheitsstörungen nicht den "Beschwerden nach Brustschuß" hat zurechnen wollen - wofür im übrigen kein Anhalt gegeben ist - so hätte er dies ausdrücklich feststellen müssen; hierzu hat nach dem Gutachten des Dr. L besondere Veranlassung bestanden; er hätte jedenfalls in dem endgültigen KBLG-Bescheid vom 15. Dezember 1950, gegebenenfalls nach weiterer Aufklärung des medizinischen Sachverhalts, die unklare Leidensbezeichnung durch eine genaue Feststellung der Schädigungsfolgen ersetzen müssen oder feststellen müssen, daß keine Schädigungsfolgen mehr bestehen. Wenn aber der Beklagte es - ohne zwingenden Grund - bei der unklaren Bezeichnung der Schädigungsfolgen belassen und damit mehreren Deutungen über den Umfang der Anerkennung Raum gegeben hat, so geht dies zu seinen Lasten; die Versorgungsverwaltung muß es dann gegen sich gelten lassen, wenn die Anerkennung so ausgelegt wird, wie sie bei Würdigung aller Umstände verstanden werden muß, auch wenn die Versorgungsverwaltung die Tragweite der Anerkennung bei Erlaß des Bescheids vielleicht nicht übersehen oder eine Anerkennung in diesem Umfang nicht gewollt hat.

Das LSG. hat daher davon ausgehen müssen, daß auch die (inaktive) Tbc. und die Bronchitis als Schädigungsfolgen nach dem KBLG anerkannt gewesen sind, es hat daher diese Gesundheitsstörungen, die nach seinen Feststellungen noch bestanden haben, in dem Umfang, in dem sie anerkannt gewesen sind, bei der Neufeststellung der Rente nach dem BVG als Schädigungsfolgen werten müssen. Die Annahme des LSG., durch die "Versorgungsleiden" des Klägers werde seit dem 1. September 1953 die Erwerbsfähigkeit nicht um wenigstens 25 v.H. gemindert, beruht auf einem Rechtsirrtum; auf diese Annahme stützt sich aber die Entscheidung des LSG., daß der auf § 86 Abs. 3 BVG gestützte Rücknahmebescheid rechtmäßig sei. Ob er es tatsächlich ist, d.h. ob sich auch bei der Bewertung der (inaktiven) Tbc. und der Bronchitis, soweit sie anerkannt gewesen sind, nichts an dem Ergebnis ändert, daß die MdE. "wegen der anerkannten Schädigungsfolgen" keine 25 v.H. beträgt und damit ein Rentenanspruch nicht mehr besteht, vermag das BSG. nicht zu entscheiden; insoweit bedarf es noch tatsächlicher Feststellungen.

Die Revision ist danach begründet. Das Urteil des LSG. ist aufzuheben. Die Sache ist an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil des LSG. vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 57

NJW 1960, 264

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge