Entscheidungsstichwort (Thema)
Erwerbsunfähigkeitsrente. Berufsunfähigkeitsrente. Rentenentziehung. Rentenumwandlung. Verweisbarkeit. Sachaufklärungspflicht
Orientierungssatz
1. Vor der Entziehung einer Erwerbsunfähigkeitsrente wegen einer Änderung der Verhältnisse hat das Gericht zu prüfen, ob nicht zumindest noch Berufsunfähigkeit vorliegt und die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit somit in eine Rente wegen Berufsunfähigkeit umgewandelt werden muß.
2. Versicherte, die aufgrund ihres Gesundheitszustandes nur in der Lage sind, halbschichtig bis weniger als vollschichtig zu arbeiten, können grundsätzlich auf das gesamte Arbeitsgebiet der Bundesrepublik verwiesen werden, Ausnahmen sind aber möglich unter sozialen und gesundheitlichen Gesichtspunkten. Liegen hierfür Anhaltspunkte vor, hat das Gericht zu prüfen, ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt. Unterläßt es dies, verletzt es seine Sachaufklärungspflicht (SGG § 103).
Normenkette
AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 103; AVG § 63 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1286 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 63 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 16.09.1970) |
SG Nürnberg (Entscheidung vom 25.04.1968) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 16. September 1970 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Die im Jahre 1919 geborene, seit 1940 verheiratete Klägerin war nach Besuch der Handelsschule von 1936 bis 1946 und vom Juli 1953 bis März 1954 als Stenotypistin beschäftigt gewesen. 1961 mußte ihr wegen eines Carzinoms die linke Brust abgenommen werden. Außerdem wurde eine längere Strahlenbehandlung durchgeführt, auch erwies sich eine Nachoperation als erforderlich. Sie bezog deshalb zunächst Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit vom 26. August 1961 an. Durch Bescheid vom 28. August 1964 wurde ihr wegen Zustandes nach Mamma-Amputation mit Zeichen einer intensiven Röntgenbestrahlung und wegen einer Herzmuskelschädigung nach Herzmuskelentzündung Rente wegen dauernder Erwerbsunfähigkeit bewilligt. In der Folgezeit veranlaßte die Beklagte mehrfach Nachuntersuchungen. Aufgrund des Gutachtens des Chirurgen Dr. A in N vom 9. November 1967 entzog sie schließlich durch Bescheid vom 24. November 1967 die Rente mit Ablauf des Monats Dezember 1967, weil die Klägerin nicht mehr berufs- oder erwerbsunfähig sei.
Auf die hiergegen erhobene Klage holte das Sozialgericht (SG) Nürnberg ua ein Gutachten von dem Medizinaldirektor und Facharzt für Neurologie Dr. M in A ein. Er kam zu dem Ergebnis, bei ihrem sonst guten Allgemeinzustand könne die Klägerin noch einfache Arbeiten in geschlossenen Räumen im Sitzen mit Unterbrechungen bis zu vier Stunden täglich verrichten. Daraufhin wies das SG die Klage durch Urteil vom 25. April 1968 ab, weil die Rentenentziehung berechtigt gewesen sei.
Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) holte auf die dagegen eingelegte Berufung nochmals Auskünfte der behandelnden Ärzte sowie zwei weitere Gutachten ein, eines von dem Facharzt für innere Krankheiten Dr. B in N vom 22. Januar 1970 und ein weiteres von dem Chirurgen Dr. G in Nürnberg vom 13. Juli 1970. Beide hielten die Klägerin für fähig, als Stenotypistin oder als Angestellte wenigstens vier Stunden täglich zu arbeiten. Durch Urteil vom 16. September 1970 wies das LSG sodann die Berufung der Klägerin, die nunmehr Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. Januar 1968 begehrte, zurück. Die Änderung in den Verhältnissen, die zur Entziehung der Rente berechtigten, längen hier darin, daß das Carzinom nach menschlicher Voraussicht abgeheilt sei. Infolge dieser Änderung sei die Klägerin auch nicht mehr berufsunfähig. Zwar bestünden bei ihr als Folgen der Behandlung eine endgradige Bewegungseinschränkung des linken Schultergelenkes und eine geringe chronische Weichteilverdickung des linken Armes sowie teilweise empfindliche Narben an der linken Brustseite, ferner ein sogenanntes Cervikalsyndrom (Veränderungen der Halswirbelsäule) mit Muskelhärten und Empfindlichkeiten von Sehnenansätzen am Ellenbogengelenk des rechten Armes sowie eine Herzmuskelschädigung. Durch diese Gesundheitsstörungen werde jedoch die Fähigkeit der Klägerin nicht in Frage gestellt, wenigstens vier Stunden in ihrem versicherten Beruf als Angestellte zu arbeiten. Diese Auffassung hätten alle mit der Sache befaßten Sachverständigen vertreten. Die Klägerin könne mit dem Rest ihres Erwerbsvermögens noch wenigstens die Hälfte dessen verdienen, was eine vergleichbare gesunde Versicherte zu erzielen in der Lage sei, also Einkünfte verdienen, die Berufsunfähigkeit ausschlössen (§ 23 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -). Zwar vermöge sie nur mehr halbschichtig tätig zu sein. Indessen sei sie nach ihrem Beruf auf das allgemeine Arbeitsfeld der Bundesrepublik zu verweisen. Solchen Versicherten stünden jedoch, wie der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) ausdrücklich entschieden habe (BSG 30, 189), Teilzeitarbeitsplätze in genügender Anzahl offen, auf denen sie den Rest ihres Erwerbsvermögens verwerten könnten. Die Klägerin sei deshalb nicht berufsunfähig (BSG aaO). Den von ihr im Berufungsverfahren erhobenen Einwendungen habe der Senat durch seine weitere Sachaufklärung Rechnung getragen, insbesondere durch Anhörung des Gutachters Dr. G. Zwar habe dieser eingeräumt, daß das Cervikalsyndrom zu einer Knochenhautentzündung des rechten Armes und damit zu einer zeitlich begrenzten Arbeitsunfähigkeit als Stenotypistin führen könne. Damit sei jedoch nach den abschließenden Feststellungen dieses Arztes die Fähigkeit der Klägerin nicht in Frage gestellt, auf die Dauer wieder wenigstens vier Stunden täglich in ihrem Beruf zu arbeiten.
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen. Die Klägerin hat gleichwohl dieses Rechtsmittel eingelegt und beantragt,
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1. |
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das angefochtene Urteil und das Urteil des SG Nürnberg vom 25. April 1968 aufzuheben, |
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2. |
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die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 24. November 1967 zu verurteilen, ihr, der Klägerin, über den 31. Dezember 1967 hinaus Dauerrente wegen fortwährender Berufsunfähigkeit zu gewähren, |
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zu anderweitiger Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Revision rügt in formeller Hinsicht zunächst Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Das LSG habe keinerlei Ermittlungen darüber angestellt, ob es für die Klägerin geeignete Arbeitsplätze mit einer Arbeitszeit von vier Stunden täglich im Raum N in ausreichender Zahl überhaupt gebe. In Wahrheit habe sich das LSG auf eine abstrakte Prüfung der Berufsunfähigkeit beschränkt und die Prüfung der konkreten Erwerbsmöglichkeit, ob nämlich für die Klägerin geeignete, dem allgemeinen Wettbewerb zugängliche Arbeitsplätze vorhanden seien, unterlassen. Weiter habe das LSG § 128 Abs. 1 Satz 2 SGG verletzt. Für seine Behauptung, die Klägerin könne mit dem Rest ihres Erwerbsvermögens noch wenigstens die Hälfte dessen verdienen, was eine vergleichbare gesunde Versicherte zu erzielen in der Lage sei, habe das LSG keine Gründe angegeben. Schließlich sei auch noch § 128 Abs. 2 SGG verletzt worden. Das LSG habe das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen einfach unterstellt, ohne die Klägerin vorher von dieser Absicht zu unterrichten, und ihr dadurch jede Möglichkeit genommen, sich zu diesem für sie entscheidungserheblichen Punkt zu äußern.
In sachlich-rechtlicher Hinsicht wird Verletzung der §§ 63, 23 AVG gerügt.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
II.
Die Revision muß zur Aufhebung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Vorinstanz führen.
Ist die Revision, wie im vorliegenden Fall, nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen, so ist sie nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG gerügt ist, der auch tatsächlich vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Im übrigen ist bei der Prüfung der Frage, ob ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG vorliegt, von der sachlich-rechtlichen Beurteilung des Berufungsgerichts auszugehen und nicht von der wahren Rechtslage, da anderenfalls das angefochtene Urteil bereits sachlich nachgeprüft würde, bevor feststünde, ob die Revision überhaupt statthaft ist.
Das LSG hatte aufgrund des in der Berufungsinstanz gestellten Antrages (§§ 156, 123 SGG) zu prüfen und hat dies auch getan, ob die Klägerin, nachdem sich ihr Zustand gebessert hatte und insbesondere geklärt war, daß ihre Krebserkrankung nach menschlicher Voraussicht endgültig geheilt ist, nicht weiterhin wenigstens berufsunfähig im Sinne des § 23 Abs. 2 AVG ist. Im Falle noch bestehender Berufsunfähigkeit wäre die völlige Rentenentziehung nach § 63 Abs. 1 Satz 1 AVG nicht berechtigt gewesen, vielmehr hätte die bisherige Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in eine solche wegen Berufsunfähigkeit umgewandelt werden müssen (§ 63 Abs. 1 Satz 3 AVG). Das LSG ist dabei von der Rechtsprechung des Großen Senats (GS) des BSG ausgegangen, wie sie in seinem Beschluß GS 4/69 vom 11. Dezember 1969 (BSG 30, 167 ff) niedergelegt ist.
Der GS hat zwar entschieden, daß Versicherte, die nur in der Lage sind, halbschichtig bis weniger als vollschichtig zu arbeiten, grundsätzlich auf das gesamte Arbeitsgebiet der Bundesrepublik verwiesen werden können, und daß bei weiblichen Teilzeitarbeitskräften, insbesondere bei den sogen. Dienstleistungsberufen, davon ausgegangen werden kann, daß der Arbeitsmarkt im allgemeinen nicht verschlossen ist. Die Grundsätze dieser Entscheidung, die für den Bereich der Arbeiterrentenversicherung ergangen sind, finden, wie der erkennende Senat mit Urteil vom 18. März 1970 (SozR RVO § 1247 Nr. 21) für den zur Erwerbsunfähigkeit ergangenen Beschluß GS 2/68 vom 11. Dezember 1969 (BSG 30, 192 ff.) bereits entschieden hat, grundsätzlich in der Angestelltenversicherung ebenfalls Anwendung.
Der GS hat aber bei der Frage der Verweisbarkeit auf das ganze Bundesgebiet auch Ausnahmen zugelassen. Diese müssen nach seiner Rechtsprechung bei halbschichtiger bis zu vollschichtiger Tätigkeit in einem größeren Umfange als bei vollschichtiger Tätigkeit angenommen werden (BSG 30, 167, 187). Dem Vorliegen von Ausnahmegründen wird aber besonders sorgfältig in den Fällen nachzugehen sein, in denen gerade noch eine halbschichtige (nur bis vier Stunden täglich) Tätigkeit zumutbar ausgeübt werden kann und der Gesundheitszustand des Versicherten Anlaß zu besonderer Prüfung gibt.
Ein solcher Fall liegt hier vor. Die Klägerin kann nach den Feststellungen des LSG nur noch vier Stunden täglich berufstätig sein. Ihr Gesundheitszustand, insbesondere das Cervikalsyndrom mit Muskelhärten und Empfindlichkeiten von Sehnenansätzen im Ellenbogengelenk des rechten Armes führen außerdem immer wieder zu krankheitsbedingten Arbeitsunterbrechungen und engen damit ihre Einsatzfähigkeit im besonderen Maße ein.
Bei dieser Sachlage hätte das LSG prüfen müssen, ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, der es verbietet, die Klägerin aus sozialen und gesundheitlichen Gründen auf das ganze Bundesgebiet zu verweisen. Das LSG hat hierzu jedoch keine Feststellungen getroffen und ist damit seiner gesetzlichen Ermittlungspflicht (§ 103 SGG) nicht nachgekommen.
Damit hat die Klägerin mindestens einen auch tatsächlich vorliegenden wesentlichen Verfahrensmangel mit Erfolg gerügt. Die Revision erweist sich deshalb schon aus diesem Grunde als statthaft, so daß sich eine Erörterung darüber, ob auch die vorgebrachten Rügen einer Verletzung des § 128 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 SGG hätten Erfolg haben müssen, erübrigt.
Die Revision ist auch begründet, da sich nicht ausschließen läßt, daß bei einer Erörterung und Aufklärung der für die Klägerin in Betracht kommenden Verweisungs- und Einsatzmöglichkeiten Umstände zur Sprache gekommen wären, die zu einem anderen Ergebnis geführt hätten. Deshalb ist nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG zu verfahren. Sollte das LSG nach erneuter Prüfung zu dem Ergebnis kommen, daß eine Verweisung der Klägerin auf das Arbeitsfeld des Bundesgebietes nicht zulässig ist, so wird es festzustellen haben, ob für sie der Teilzeitarbeitsmarkt des Wirtschaftsgebietes N nicht praktisch verschlossen ist.
Darüber könnte die Bundesanstalt für Arbeit in N ausreichend Auskunft erteilen.
Bei seiner abschließenden Entscheidung wird im übrigen das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen