Leitsatz (redaktionell)
Bei einer dem persönlichen Lebensbereich zuzuordnenden Verrichtung können betriebliche Faktoren für den Unfallversicherungsschutz bedeutsam sein, wenn sie sich auf den Unfallhergang unmittelbar auswirken; das ist zB dann der Fall, wenn sich der Versicherte wegen betrieblich bedingter Eile im privaten Bereich verletzt.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 14. März 1968 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin ist als Taxiunternehmerin bei der Beklagten gegen Arbeitsunfall versichert. Sie versieht den Telefondienst und erledigt die Buchführung in ihrem Wohnhaus in B G S 16; ihr Ehemann ist in dem Unternehmen als Fahrer beschäftigt.
Am Vormittag des 1. September 1966 erlitt die Klägerin dadurch einen Unfall, daß sie auf dem Weg von der Toilette zu ihrem Büroraum, der durch die dazwischenliegende Küche führt, über die Türschwelle zwischen Toilette und Küche stolperte und bei dem Versuch, sich am Türpfosten festzuhalten, mit der rechten Hand zwischen die Tür und den Türpfosten geriet; dabei kam es zu einem Grundgliedbruch des rechten Kleinfingers, der zur Arbeitsunfähigkeit der Klägerin führte.
In ihrer Unfallanzeige und bei ihrer Vernehmung durch das Stadt- und Polizeiamt B gab die Klägerin an, das Telefon habe ständig geläutet, als sie sich auf der Toilette aufgehalten habe; sie habe deshalb schnell das Telefon erreichen wollen und sei dabei über die Türschwelle gestolpert. Die Beklagte forderte die Klägerin zunächst auf, Angaben für den Bezug von Verletztengeld zu machen und lehnte sodann durch Bescheid vom 24. November 1966 Entschädigungsleistungen mit der Begründung ab, die Klägerin habe im Unfallzeitpunkt lediglich die Absicht gehabt, durch Entgegennahme eines Telefonanrufs betrieblich tätig zu werden; dazu sei es jedoch nicht gekommen, weil sie sich bereits kurz nach Verlassen der Toilette verletzt habe; hierbei sei sie nicht versichert gewesen.
Das Sozialgericht (SG) Bremen hat durch Urteil vom 1. August 1967 die Klage abgewiesen, weil sich der Unfall in der ausschließlich dem persönlichen Lebensbereich der Klägerin zuzurechnenden Küche ereignet habe.
Die Klägerin hat demgegenüber im Berufungsverfahren die Auffassung vertreten, es sei rechtlich unerheblich, daß sich der Unfall in der Küche ereignet habe. Entscheidend sei vielmehr, daß sie den Unfall auf einem Weg erlitten habe, der betrieblich veranlaßt gewesen sei, weil er der Entgegennahme eines Telefonanrufs im Büroraum gedient habe. Da eine andere Toilette in der Wohnung nicht zur Verfügung gestanden habe, sei diese auch von den Fahrern ihres Unternehmens benutzt worden.
Das Landessozialgericht (LSG) Bremen hat die Beklagte durch Urteil vom 14. März 1968 antragsgemäß verurteilt, der Klägerin aus Anlaß des Unfalls Leistungen aus der Unfallversicherung in gesetzlichem Umfang zu gewähren. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Der Weg der Klägerin, auf dem sich der Unfall ereignete, sei zwar durch den ihrem unversicherten persönlichen Bereich zuzurechnenden Aufenthalt in der Toilette veranlaßt worden; er habe aber auch mit der versicherten Tätigkeit im Zusammenhang gestanden, weil er der Fortsetzung der betrieblichen Tätigkeit im Büro gedient habe. Um wieder in das Büro zu gelangen, habe die Klägerin durch die Küche gehen müssen. Diesen Weg hätten auch immer die Taxifahrer der Klägerin benutzen müssen, wenn sie die Toilette hätten aufsuchen wollen. Deshalb könne der Weg vom Büroraum zur Toilette und zurück nicht mehr dem ausschließlich persönlichen Bereich der Klägerin zugerechnet werden, er diene während der Arbeitszeit rechtlich wesentlich auch den Zwecken des Geschäftsbetriebes. Die Klägerin habe, da sich der Unfall in diesem Bereich ereignete, unter Versicherungsschutz gestanden.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet:
Der Umstand, daß die Klägerin beim Verlassen der Toilette auf der Türschwelle zu ihrer Küche verunglückt sei, ohne in diesem Zeitpunkt bereits eine betriebliche Tätigkeit zu verrichten, stehe dem Versicherungsschutz entgegen. Die Feststellung des LSG, der Weg zwischen Toilette und Büroraum durch die Küche diene wesentlich auch den Zwecken des Geschäftsbetriebes der Klägerin, beruhe auf unzureichenden tatsächlichen Ermittlungen; dem Akteninhalt sei nicht zu entnehmen, daß die Klägerin außer ihrem Ehemann noch andere Fahrer in ihrem Unternehmen beschäftige; darüber hinaus habe das LSG keine Feststellungen darüber getroffen, in welchem Umfang die Privattoilette der Klägerin von etwa vorhandenen sonstigen Betriebsangehörigen benutzt werde. Es sei anzunehmen, daß die Kläger ihr Unternehmen lediglich als kleinen Familienbetrieb führe; deshalb sei auch zu bezweifeln, ob die Klägerin mit der Entgegennahme von Telefonanrufen überhaupt eine ernsthafte Arbeitstätigkeit verrichtet habe. Offensichtlich habe das LSG unter dem Eindruck gestanden, daß sich die Klägerin durch das Läuten des Telefons veranlaßt gesehen habe, die Toilette in besonderer Eile zu verlassen, und sie deshalb zu Fall gekommen sei; hierfür lägen jedoch keine Anhaltspunkte vor; es sei vielmehr anzunehmen, daß im Unfallzeitpunkt für die Klägerin ein Fahrer zur Ausführung von eiligen Aufträgen überhaupt nicht telefonisch erreichbar gewesen sei; bei dem geringen Umfang des Unternehmens habe es sich wohl nur um telefonische Aufträge handeln können, die erst in einem späteren Zeitpunkt ausgeführt werden sollten. Im übrigen habe das LSG in medizinischer Hinsicht nicht aufgeklärt, ob der Klägerin wegen der Verletzungsfolgen ein Rentenanspruch zustehe.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache nach § 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie macht geltend, es sei zwischen den Beteiligten von Anfang an unstreitig gewesen, daß sie ein größeres Taxiunternehmen betreibe und eine größere Anzahl von Fahrern beschäftige; ferner habe die Beklagte bisher auch nicht bestritten, daß sie - die Klägerin - wegen des läutenden Telefons besonders schnell die Toilette verlassen und dabei der Unfall sich ereignet habe.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Das LSG hat im Ergebnis mit Recht angenommen, daß die Klägerin am 1. September 1966 in ihrer Wohnung einen unter Versicherungsschutz stehenden Arbeitsunfall (§ 548 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) erlitten hat.
Entgegen der Auffassung der Revision konnte das LSG davon ausgehen, daß die Klägerin, die als Taxiunternehmerin bei der Beklagten gegen Arbeitsunfall versichert ist, mit der Entgegennahme von Telefonanrufen in dem in ihrer Wohnung gelegenen Büro sowie mit der telefonischen Weiterleitung von Aufträgen an ihre Fahrer eine ihrem Unternehmen zuzurechnende betriebliche Tätigkeit verrichtete. Das Revisionsvorbringen, der Telefondienst könne nicht als eine rechtlich wesentliche Arbeitstätigkeit gewertet werden, gründet sich auf die Annahme, es habe sich bei dem Taxiunternehmen um einen "kleinen, familienmäßig aufgezogenen Betrieb" gehandelt, in welchem der Ehemann der Klägerin als einziger Fahrer beschäftigt und zudem für eilige Aufträge telefonisch nicht erreichbar gewesen sei. Dem stehen jedoch die tatsächlichen Feststellungen des LSG entgegen, die insoweit mit durchgreifenden Verfahrensrügen nicht wirksam angegriffen worden sind. Das LSG konnte das Vorbringen der Klägerin, ganztägig im Telefondienst tätig gewesen zu sein und mehrere Fahrer beschäftigt zu haben, ohne Verstoß gegen Verfahrensvorschriften als glaubhaft ansehen und seiner Entscheidung zugrunde legen, da der Akteninhalt dem nicht entgegenstand und die Beklagte die Angaben der Klägerin nicht in Zweifel gezogen hatte.
Nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des LSG unterbrach die Klägerin am Unfalltag den Telefondienst im Büro, das sich in einem Raum ihrer Privatwohnung befindet, und begab sich durch die Küche in die daran angrenzende Toilette; als das Telefon klingelte, verließ sie die Toilette wieder, um im Büro den Anruf entgegenzunehmen; dabei stolperte sie über die Türschwelle zwischen Toilette und Küche, versuchte sich am Türpfosten festzuhalten, geriet mit der rechten Hand zwischen die Tür und den Türpfosten und brauch sich den rechten Kleinfinger.
Befinden sich - wie hier - Betriebs- und Wohnräume innerhalb eines Gebäudes, so steht nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats ein Versicherter auf dem Weg von der Wohnung zur Aufnahme einer betrieblichen Tätigkeit grundsätzlich nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, solange er den rein persönlichen Lebensbereich noch nicht verlassen hat (vgl. BSG 11, 267; 12, 165; SozR Nr. 20 zu § 543 RVO aF; vgl. auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-7. Aufl., S. 480 w mit weiteren Nachweisen). Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß das Aufsuchen der Toilette mit dem unversicherten, persönlichen Lebensbereich der Klägerin zusammenhing; anders als im Regelfall bei einem auf der Betriebsstätte beschäftigten Arbeitnehmer war die Klägerin durch ihre Anwesenheit in dem in der Wohnung gelegenen Büro nicht gezwungen, die Notdurft an einem anderen Ort zu verrichten, als sie dies von ihrem häuslichen Bereich aus getan haben würde (vgl. Urteil vom 31.5.1967 - 2 RU 218/64 - mit weiteren Nachweisen). Allerdings mußte die Klägerin den Rückweg zum Büro, auf dem sie den Unfall erlitt, auch deshalb zurücklegen, weil sie ihre nur kurz unterbrochene betriebliche Tätigkeit fortsetzen wollte. Diese ursächliche Beziehung des Weges zur versicherten Arbeitstätigkeit erhält nach der Auffassung des LSG neben der durch den Zweck des Weges bedingten ursächlichen Beziehung zum unversicherten, persönlichen Lebensbereich rechtlich wesentliche Bedeutung durch den Umstand, daß der Weg auch immer von den Fahrern der Klägerin benutzt werden mußte, wenn sie die Toilette aufsuchen wollten. Mit Recht hat jedoch die Revision demgegenüber geltend gemacht, daß die Feststellungen des LSG den Umfang der Benutzung der Toilette und die Häufigkeit des hierbei durch die Küche zurückzulegenden Weges für betriebliche Zwecke nicht ausreichend erkennen lassen. Die Annahme, die Klägerin habe den Unfall an einem Ort erlitten, der wesentlich auch zu betrieblichen Zwecken benutzt werde, setzt voraus, daß diese betriebliche Benutzung nicht nur selten oder gelegentlich stattfindet (vgl. BSG 11, 267; Urt. v. 30.7.1968 - 2 RU 155/66 -; Brackmann, aaO, S. 480 w mit weiteren Nachweisen). Den Feststellungen des LSG ist lediglich zu entnehmen, daß die Fahrer der Klägerin, wenn sie die Toilette aufsuchen wollten, immer den Weg durch die Küche der Klägerin nehmen mußten; es ist jedoch nicht ersichtlich, ob diese Fälle häufig oder nur gelegentlich auftraten.
Aus anderen Gründen stellt sich die Entscheidung des LSG aber dennoch als zutreffend dar. Betriebliche Umstände können bei einer an sich dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnenden Verrichtung für den Unfallversicherungsschutz bedeutsam sein, wenn sie sich auf den Unfallhergang unmittelbar auswirken. Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 26. Juni 1970 (2 RU 126/68) auf seine Rechtsprechung hingewiesen, nach der bei der Einnahme einer Mahlzeit während einer Arbeitspause ein Beschäftigter ausnahmsweise dem Versicherungsschutz unterliegen kann, wenn er genötigt ist, sich hierbei besonders zu beeilen (vgl. BG 1965, 273; Breithaupt 1969, 755). Zum Versicherungsschutz auf Wegen innerhalb eines Hauses, in dem sich Wohnung und Betriebsstätte befinden, hat es der Senat in früheren Entscheidungen zunächst offengelassen, ob bei dem Übergang von einer privaten zu einer betrieblichen Tätigkeit dem Umstand Bedeutung beizumessen ist, daß der Versicherte durch besondere Umstände gezwungen ist, die beabsichtigte Tätigkeit in einem bestimmten Zeitpunkt und möglicherweise in Hast oder Eile auszuführen (vgl. BSG 11, 265, 269; SozR Nr. 20 zu § 543 RVO aF). Im Urteil vom 26. Juni 1970 (2 RU 126/68) hat der Senat sodann den Versicherungsschutz für den Unfall einer in der Metzgerei ihres Ehemannes mithelfenden Ehefrau, den diese nach dem Aufsuchen der in ihrer Wohnung gelegenen Toilette im Badezimmer erlitten hat, mit der Begründung angenommen, daß die Verletzte nach dem Händewaschen schnell wieder in den - räumlich von der Wohnung getrennten - Laden gehen wollte, wo sie dringend zur Bedienung von Kunden benötigt wurde.
Eine solche unmittelbare betriebliche Einwirkung auf den Unfallhergang hat auch im vorliegenden Fall bestanden: Die Klägerin hat die Toilette in Eile verlassen, weil sie das Telefon im Büro läuten hörte und den Anruf entgegennehmen wollte; sie stolperte über die Türschwelle und zog sich dabei die Verletzung zu. Dieser von der Klägerin geschilderte und den Feststellungen des LSG zu entnehmende Geschehensablauf ist unter den Beteiligten unstreitig gewesen. Die Revision hat demgegenüber durchgreifende Verfahrensrügen nicht erhoben. Das LSG hat danach im Ergebnis zu Recht angenommen, daß die Klägerin dem Unfallversicherungsschutz unterlag.
Entgegen der Auffassung der Revision konnte das LSG nach Lage dieses Falles die Voraussetzungen für den Erlaß eines Grundurteils - das Bestehen eines Entschädigungsanspruchs in einer Mindesthöhe - als gegeben ansehen.
Die Revision war danach zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen