Leitsatz (redaktionell)

1. Der Angestellte eines Krankenhauses, der auf behördliche Anordnung zu Arbeiten bei der Bestattung von Leichen unmittelbar nach Kampfhandlungen herangezogen worden ist, kann Anspruch auf Versorgung geltend machen, wenn er sich dadurch die Verschlimmerung eines älteren Leidens zugezogen hat.

2. Das Berufungsgericht ist grundsätzlich verpflichtet, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen; eine Rückverweisung an die Verwaltungsbehörde ist unzulässig.

3. Die Zulässigkeit der Berufung ist auch bei einer zulässigen Revision von Amts wegen vom Revisionsgericht zB dahin zu prüfen, ob das LSG ausreichend begründet die Wiedereinsetzung des Klägers in den vorigen Stand wegen dessen Krankheit gewährte.

 

Normenkette

SGG § 67 Fassung: 1950-12-20; BVG § 1 Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1950-12-20, § 5 Abs. 1 Buchst. b Fassung: 1953-09-03; SGG § 57 Fassung: 1953-09-03, § 103 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 8. Oktober 1954 wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger war von 1928 bis 1946 Pförtner am St. Hildegard-Krankenhaus in Berlin. Sein Antrag vom 2. Oktober 1950 auf Gewährung von Versorgung wurde mit Bescheid des Versorgungsamts (VersorgA.) II Berlin vom 4. April 1952 abgelehnt. Der Einspruch des Klägers wurde mit der Entscheidung des Landesversorgungsamts (LVersorgA.) Berlin vom 16. Februar 1953 zurückgewiesen, weil der Kläger keinen militärischen oder militärähnlichen Dienst geleistet habe. In seiner Klage, mit der er die Aufhebung dieser Entscheidung und die Gewährung von Versorgung begehrte führte der Kläger aus, daß er unfreiwillig und auf höhere militärische Anweisung besonders schwere Arbeiten, insbesondere die Bestattung von Leichen, habe ausführen müssen. Dadurch habe er sich die Verschlimmerung seines in der Jugend entstandenen Leidens (Folgezustände einer Osteomyelitis der Wirbelsäule) zugezogen. Seine Klage wurde mit Urteil des Versorgungsgerichts (VersorgG.) Berlin vom 16. Juni 1953 abgewiesen. Auf die erst nach Ablauf der Berufungsfrist am 21. Januar 1954 eingelegte Berufung des Klägers gewährte das Landessozialgericht (LSG.) dem Kläger die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und erließ am 8. Oktober 1954 folgendes Urteil:

"Unter Abänderung des Urteils des VersorgG. Berlin vom 16. Juni 1953 und Aufhebung der Verwaltungsvorentscheidungen wird die Sache nach Maßgabe der folgenden Entscheidungsgründe an die Versorgungsbehörde zurückverwiesen."

Dem Wiedereinsetzungsantrag gab das LSG. auf Grund des § 67 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statt, weil der Kläger infolge schwerer Krankheit verhindert gewesen sei, die Berufungsfrist einzuhalten. Den Versorgungsanspruch des Klägers hielt das LSG. "grundsätzlich" gemäß § 1 Abs. 2 in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchst. b des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) für begründet. Da jedoch bisher weder die Art noch der Grad der Verschlimmerung des Leidens des Klägers geprüft worden sei, erschien es dem LSG. zweckmäßig und zulässig, die Sache zur "Nachholung der ärztlichen Nachprüfung" an die Verwaltungsbehörde zurückzuverweisen. Die Revision wurde wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Frage, ob die Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde möglich sei, zugelassen.

Gegen das am 30. November 1954 zugestellte Urteil hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 17. Dezember 1954, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG.) am 20. Dezember 1954, Revision eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 14. Januar 1955, eingegangen beim BSG. am 17. Januar 1955, begründet. Er hat beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen die Entscheidung des VersorgG. Berlin vom 16. Juni 1953 zurückzuweisen.

Er führt dazu aus, daß eine Zurückverweisung an die Versorgungsbehörde nicht zulässig sei. Eine Rechtsverletzung des LSG. liege auch darin, daß der Tenor des angefochtenen Urteils auf den Inhalt der Entscheidungsgründe verweise. Ferner seien die Entscheidungsgründe in sich widerspruchsvoll. Sie ließen nicht erkennen, welchen Sachverhalt das LSG. für erwiesen erachtet und bei Anwendung des § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG zugrunde gelegt habe. Das LSG. hätte auch den Versorgungsanspruch des Klägers nicht "grundsätzlich" für bestehend ansehen dürfen, ohne vorher festzustellen, daß tatsächlich ein schädigendes Ereignis eingetreten ist. Schließlich rügt der Beklagte auch eine unrichtige Anwendung des § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG. Der Kläger sei zu den schweren Arbeiten als Bediensteter des Krankenhauses, nicht aber auf Grund von behördlichen Maßnahmen im unmittelbaren Zusammenhang mit Kampfhandlungen zu Arbeitsleistungen herangezogen worden.

Der Beklagte war in der mündlichen Verhandlung, von welcher er unter Hinweis auf § 110 Satz 2 SGG benachrichtigt worden war, nicht erschienen.

Der Kläger hat beantragt,

die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen,

hilfsweise, unter Aufhebung des Urteils des LSG. vom 8. Oktober 1954 und des Urteils des VersorgG. Berlin vom 10. Juni 1953 sowie des Einspruchsbescheides des LVersorgA. Berlin vom 16. Februar 1953 und des Bescheides des VersorgA. II Berlin vom 4. April 1952 den Beklagten dem Grunde nach zu verurteilen, dem Kläger vom 1. Oktober 1950 ab Versorgung für die Verschlimmerung seines Leidens (Handgelenkversteifung am rechten Unterarm, schwere Dauerschäden beider Beine mit erheblicher Behinderung der Gehfähigkeit, Lähmungserscheinungen an Blase und Mastdarm) zu gewähren und die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Er ist der Ansicht, daß das LSG. die Sache an die Versorgungsbehörde zurückverweisen durfte. Das Urteil des LSG. sei als Grundurteil im Sinne des § 130 SGG aufzufassen, bei dem lediglich offen geblieben sei, ob und in welchem Maße sich das Leiden des Klägers durch die Heranziehung zu Aufräumungsarbeiten verschlimmert habe und ob diese Verschlimmerung eine einfache oder eine richtunggebende gewesen sei. Im übrigen sieht der Kläger durch den Hinweis der Urteilsgründe auf die Bekundung des Zeugen Z als genügend festgestellt an, daß der Kläger auf behördliche Anordnung zu Aufräumungsarbeiten unmittelbar nach Kampfhandlungen herangezogen worden sei. Auf diesen Sachverhalt habe das LSG. mit Recht den § 5 Abs. 1 Buchst. b in Verbindung mit § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG angewendet.

Die Revision ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG) und ist durch die Zulassung im angefochtenen Urteil statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie mußte Erfolg haben.

Unabhängig von dem Vorbringen des Beklagten mußte das angefochtene Urteil schon deshalb aufgehoben werden, weil jedenfalls nach den bisher getroffenen Feststellungen die Berufung gegen das Urteil des VersorgG. Berlin vom 16. Juni 1953 unzulässig war. Die Zulässigkeit der Berufung ist auch bei einer zulässigen Revision von Amts wegen vom Revisionsgericht zu prüfen, weil von dieser Prozeßvoraussetzung das gesamte weitere Verfahren nach Einlegung der Berufung, also auch das Verfahren in der Revisionsinstanz, abhängt. Hängt die Zulässigkeit der Berufung von der Wiedereinsetzung ab, so hat das Revisionsgericht selbständig zu prüfen, ob die Voraussetzungen dafür gegeben sind (vgl. RGZ. 159 S. 84; BGHZ. 4 S. 395, 6 S. 370 und Lindenmaier-Möhring, § 559 ZPO Nr. 1 u. Nr. 3). Das LSG. hat dem Kläger die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 SGG gewährt, weil der Kläger wegen schwerer Krankheit an der Einhaltung der Berufungsfrist ohne Verschulden verhindert war. Keine Bedenken bestehen im vorliegenden Fall, die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung nach § 67 SGG zu beurteilen, sofern das Hindernis erst im Jahre 1954 fortgefallen ist. Obwohl die Berufungsfrist bereits vor dem Inkrafttreten des SGG (1.1.1954) abgelaufen war, wurde der Rechtsstreit erst nach diesem Zeitpunkt und nach Wegfall des Hindernisses durch die Einlegung der Berufung des Klägers am 21. Januar 1954 beim LSG. anhängig. Der Wiedereinsetzungsantrag war nämlich in der Berufungsschrift gestellt worden und sollte wohl damit begründet werden, daß der Kläger an der Wahrung der Berufungsfrist durch die bis in das Jahr 1954 sich erstreckende Krankheit verhindert war. Nach den im Urteil des BSG. vom 24. Mai 1955 (BSG. 1 S. 44) ausgesprochenen Grundsätzen, denen der erkennende Senat beitritt, ist das neue Verfahrensrecht, d. h. der § 67 SGG, für die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag maßgebend.

Der Senat hält aber die Ansicht des LSG. nach den bisher getroffenen Feststellungen nicht für begründet, daß der Kläger ohne Verschulden verhindert war, die Berufungsfrist einzuhalten. Allein die Feststellung des LSG., daß der Kläger durch ärztliches Attest glaubhaft gemacht habe, er sei schwer krank gewesen, genügt nicht, um ein Verschulden des Klägers auszuschließen. Die Krankheit des Klägers würde ihn nur dann entschuldigen, wenn er durch die Krankheit auch verhindert war, durch eine andere Person rechtzeitig Berufung einlegen zu lassen (vgl. Peters-Sautter-Wolff, § 67 SGG Anm. 7). Die Annahme der schuldlosen Verhinderung allein auf das vom Kläger vorgelegte ärztliche Attest zu gründen, erscheint dem erkennenden Senat nicht gerechtfertigt. Das Attest spricht nur von einer Ruhebedürftigkeit und Schonung infolge schwerer Krankheit, ohne darüber Auskunft zu geben, ob der Kläger so hinfällig war, daß er auch nicht durch einen Bevollmächtigten, etwa seine Ehefrau, Berufung einlegen konnte. Ferner ist auch das Attest, das von der schweren Krankheit des Klägers bis zum Anfang des Monats Februar 1954 spricht, durch das eigene Verhalten des Klägers insoweit widerlegt, als der Kläger die Berufungsschrift bereits am 7. Februar 1954 selbst unterzeichnet hat. Schließlich war auch zu berücksichtigen, daß der Kläger selbst in seinem Schriftsatz vom 7. Januar 1954 eine längere Bettruhe und in seinen Schriftsätzen vom 7. April 1954 und 22. Mai 1954 die späte Auffindung des Zeugen Z als Entschuldigungsgrund für seine verspätete Berufungseinlegung anführt. Unter diesen Umständen hielt der Senat es nicht für glaubhaft gemacht, daß der Kläger ohne Verschulden an einer rechtzeitigen Einlegung der Berufung verhindert war. Die Wiedereinsetzung ist dem Kläger jedenfalls nach den bisherigen Feststellungen zu Unrecht vom LSG. bewilligt worden. Das angefochtene Urteil des LSG., das auf dieser Wiedereinsetzung beruht, mußte daher aufgehoben werden. Dem Senat erschien es nicht tunlich, selbst eine Entscheidung in dieser Frage zu treffen. Dazu hätte es weiterer Beweiserhebungen, insbesondere einer Vernehmung des Arztes Dr. Kellner darüber bedurft, ob der Kläger so schwer krank war, daß er auch durch seine Ehefrau nicht rechtzeitig Berufung einlegen konnte. Diese Aufklärung ist aber tunlich dem ortsnahen LSG. zu überlassen. Die Sache war daher gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Das LSG. kann, falls es die Berufung weiterhin für zulässig halten sollte, seine bisherige Entscheidung nicht aufrechterhalten. Der Beklagte hat mit Recht gerügt, daß die Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde unzulässig ist. Der Kläger hat mit der Klage wie mit der Berufung die Aufhebung der ihn beschwerenden Verwaltungsbescheide und die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung einer Leistung gemäß § 54 Abs. 4 SGG begehrt. Wie bereits der 9. Senat in seinem Urteil vom 6. Dezember 1955 (BSG. 2 S. 94) entschieden hat, dem der erkennende Senat sich anschließt, ist das LSG. gemäß §§ 103, 153 SGG als Tatsacheninstanz verpflichtet, einen bisher nicht genügend aufgeklärten Sachverhalt selbst von Amts wegen soweit zu erforschen, daß es über den Leistungsanspruch entscheiden kann. Entgegen den Vorschriften des früheren Verfahrensrechts kennt das SGG eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörden nicht, sondern nur eine Zurückverweisung an ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit unter ganz bestimmten Voraussetzungen (§ 159 Abs. 1 Nr. 1 bis 3, § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die im angefochtenen Urteil ausgesprochene Zurückverweisung der Sache an die Versorgungsbehörde war daher unzulässig. Demgegenüber trifft die Ansicht des Klägers, daß das angefochtene Urteil als ein gemäß § 130 SGG zulässiges Grundurteil anzusehen sei, nicht zu. Trotz der Unklarheit der Urteilsformel und der Entscheidungsgründe läßt sich dem Urteil soviel entnehmen, daß das LSG. eine Verurteilung des Beklagten dem Grunde nach nicht aussprechen wollte, sondern lediglich eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde, weil es seine Befugnis hierzu aus § 54 Abs. 1, § 130 SGG ableiten zu können glaubte. Das LSG. muß also, falls es zu einer Sachentscheidung kommen sollte, selbständig den Sachverhalt feststellen, um über die Anträge der Beteiligten entscheiden zu können. Es wird sich bei seiner Entscheidung für die Anwendung des § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG nicht mit der Feststellung begnügen dürfen, der Kläger habe nach seinem eigenen glaubhaften Vortrag und nach der Bekundung des Zeugen Zeiger Aufräumungsarbeiten auf Grund behördlicher Maßnahmen unmittelbar nach Kampfhandlungen ausgeführt. Das LSG. wird bei Anwendung dieser Vorschrift insbesondere feststellen müssen, welche von den wechselnden Darstellungen des Klägers über die Anordnung der Leichenbestattung es als erwiesen betrachtet, da der Kläger im Laufe des Verfahrens von einem "Befehl", von einem "höheren militärischen Befehl", von einem "Befehl eines Polizeioffiziers oder Luftschutzführers in graublauer Uniform", von einem "Befehl eines Offiziers der Wehrmacht" und von einem "Befehl eines Luftschutzoffiziers" gesprochen hat. Der Senat hält es für erheblich, nach dieser Richtung eindeutige Feststellungen zu treffen, da von diesen Feststellungen abhängig sein kann, ob es sich bei dem vom Kläger behaupteten Befehl zur Leichenbestattung um eine "behördliche Maßnahme" im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG handelt.

Die Kostenentscheidung muß dem abschließenden Urteil vorbehalten bleiben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324685

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