Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 01.08.1956)

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 1. August 1956 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

I.

Der Kläger beantragte am 17. September 1952, ihm Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren. Das Versorgungsamt (VersorgA.) Rottweil lehnte den Antrag durch Bescheid vom 1. Oktober 1954 ab. Den Widerspruch wies das Landesversorgungsamt (LVersorgA.) Baden-Württemberg in Stuttgart durch Bescheid vom 23. Juni 1955 zurück. Der Widerspruchsbescheid, der am 25. Juni 1955 unter “Einschreiben” zur Post gegeben wurde, enthält folgende Belehrung:

“Gegen diesen Widerspruchsbescheid ist binnen eines Monats nach Zustellung die Klage beim Sozialgericht in Reutlingen, Karlsplatz 1, zulässig. Die Klageschrift ist in doppelter Ausfertigung einzureichen, sie soll die Beteiligten und den Streitgegenstand bezeichnen und einen bestimmten Antrag enthalten.”

Mit der am 23. August 1955 eingegangenen Klage beantragte der Kläger, den Widerspruchsbescheid aufzuheben und ihm Rente zu gewähren. Das Sozialgericht (SG.) Reutlingen wies die Klage durch Urteil vom 22. Februar 1956 als unzulässig ab, weil der Kläger die Klagefrist versäumt habe. Auf die Berufung des Klägers hob das Landessozialgericht (LSG.) Baden-Württemberg in Stuttgart durch Urteil vom 1. August 1956 das Urteil des SG. Reutlingen vom 22. Februar 1956 auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG. zurück: Der Kläger habe die Klagefrist nicht versäumt; ihm sei keine den gesetzlichen Erfordernissen entsprechende Belehrung über den Rechtsbehelf erteilt worden; die Belehrung enthalte nicht den Hinweis, daß die Klage zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle erhoben werden könne; es könne daher dahingestellt bleiben, ob die Belehrung auch deshalb den gesetzlichen Erfordernissen nicht entspreche, weil sie nicht auf die in § 91 SGG genannten Möglichkeiten hinweise. Die Revision ließ das LSG. zu. Das Urteil wurde dem Beklagten am 13. August 1956 zugestellt. Er legte am 12. September 1956 telegrafisch Revision ein und beantragte, das Urteil des LSG. Baden-Württemberg in Stuttgart vom 1. August 1956 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG. Reutlingen vom 22. Februar 1956 zurückzuweisen. Durch Schriftsatz vom 25. September 1956, eingegangen am 27. September 1956, begründete er die Revision: Die Belehrung in dem Widerspruchsbescheid genüge, um die Klagefrist in Lauf zu setzen; es sei nicht erforderlich, einen Hinweis darauf, daß die Klage auch zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des SG. erhoben werden könne, und auf die in § 91 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erwähnten Möglichkeiten für die Klageerhebung in die Belehrung aufzunehmen.

Der Kläger beantragte, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist zulässig; eine Revision ist auch dann formgerecht im Sinn des § 164 Abs. 1 Satz 1 SGG eingelegt, wenn sie auf telegrafischem Wege eingelegt worden ist; für das sozialgerichtliche Verfahren gilt insoweit nichts anderes als für den Zivilprozeß, die Arbeitsgerichtsbarkeit und das Verfahren der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. BSG. 1 S. 243 [245], 5 S. 3, 4); § 164 Abs. 2 Satz 1 SGG ist beachtet.

Die Revision ist aber unbegründet; das LSG. hat die Klage zu Recht für zulässig gehalten; der Kläger hat die Klagefrist nicht versäumt.

Nach § 87 Abs. 1 und 2 SGG ist die Klage, wenn ein Vorverfahren stattgefunden hat, binnen eines Monats nach Zustellung des Widerspruchsbescheids zu erheben. Im vorliegenden Fall gilt der Widerspruchsbescheid als am 28. Juni 1955 zugestellt (vgl. § 4 VwZG). Die Klage ist beim SG. am 23. August 1955 eingegangen. Die Frist für die Erhebung der Klage hat aber mit der Zustellung des Widerspruchsbescheids nicht zu laufen begonnen, weil der Kläger in dem Widerspruchsbescheid über die Zulässigkeit der Klage nicht richtig belehrt worden ist. Nach § 85 Abs. 3 Satz 2 SGG muß der Widerspruchsbescheid eine Belehrung über die Zulässigkeit der Klage, die einzuhaltende Frist und den Sitz des zuständigen Gerichts enthalten. Die Versorgungsverwaltung hat den Kläger zwar darüber belehrt, daß gegen ihren Widerspruchsbescheid Klage zulässig ist, daß sie binnen eines Monats nach Zustellung (Frist!) zu erheben ist und daß sie beim SG. Reutlingen (Sitz des zuständigen Gerichts!) einzulegen ist; die Belehrung sagt aber nicht, in welcher Form die Klage zu erheben ist. Zwar ist in § 85 Abs. 3 Satz 2 SGG nicht ausdrücklich gesagt, daß die Beteiligten auch hierüber zu belehren sind; die Belehrung “über die Zulässigkeit der Klage” kann aber keinen anderen Inhalt haben als die Belehrung “über den Rechtsbehelf” (§ 66 Abs. 1 SGG). Zwar weichen die beiden Vorschriften in ihrem Wortlaut insofern voneinander ab, als in § 66 Abs. 1 SGG von Belehrung “über den Rechtsbehelf” gesprochen wird, während in § 85 Abs. 3 SGG von der Belehrung “über die Zulässigkeit der Klage” die Rede ist. Daraus können jedoch Unterschiede in den Anforderungen an den Inhalt der Belehrung nicht hergeleitet werden. Beide Vorschriften verfolgen denselben Zweck und haben dieselbe rechtliche Bedeutung. Ein Rechtsbehelf im Sinne des § 66 SGG ist auch die Klage. Von den zu § 66 SGG entwickelten Grundsätzen ist deshalb auch auszugehen, wenn geprüft wird, ob die Belehrung in einem Widerspruchsbescheid richtig ist.

Eine Rechtsbehelfsbelehrung ist richtig, wenn sie vollständig ist; sie ist vollständig, wenn die Beteiligten über alle für sie wesentlichen Einzelheiten des Rechtsbehelfs unterrichtet werden; eine Belehrung über ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf ist mehr als eine bloße Bezeichnung des Rechtsmittels oder Rechtsbehelfs (BSG. 1, S. 195). Zu den wesentlichen Einzelheiten, über die die Beteiligten belehrt werden müssen, gehört auch die für den Rechtsbehelf vorgeschriebene Form. Nach § 90 SGG “ist” die Klage schriftlich “oder ” zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des SG. zu erheben. Für die Vollständigkeit einer Rechtsbehelfsbelehrung ist es erforderlich, aber auch ausreichend, daß sie die Beteiligten auf den Regelweg weist, auf dem der Rechtsbehelf einzulegen ist (BSG. Beschluß vom 4. 10. 1956 SozR. Nr. 5 zu SGG § 161). Die beiden Möglichkeiten, die § 90 SGG erwähnt, stellen zwei Alternativen des Regelweges dar; sie stehen selbständig nebeneinander und sind deshalb durch das Wort “oder” verbunden. Eine Rangfolge derart, daß nur die schriftliche Klage den Regelweg darstelle, läßt sich aus dem Gesetz nicht ableiten. Vielmehr ergibt sich die Gleichwertigkeit der beiden Wege aus dem Aufbau des Gesetzes. Im Gesetz sind zuerst die Regelwege für die Einlegung eines Rechtsbehelfs oder Rechtsmittels aufgezeigt, und zwar in § 90 SGG für die Klage und in § 151 Abs. 1 SGG für die Berufung; erst dann werden in § 91 SGG für die Klage und in § 151 Abs. 2 SGG für die Berufung auch noch andere Möglichkeiten zur wirksamen Einlegung eines Rechtsbehelfs geschaffen. Über diese “Auch-Möglichkeiten” brauchen die Beteiligten nicht belehrt zu werden (BSG. Beschluß vom 4.10.1956 SozR. SGG § 161, Nr. 5; BSG. Urteil vom 24.7.1957 SozR. Nr. 15 zu SGG § 66; Urteil vom 14. 1. 1958 – 11/8 RV 97/57 –). Der Senat hat deshalb in seinem Urteil vom 14. Januar 1958 – 11/8 RV 97/57 – entschieden, die Rechtsmittelbelehrung eines sozialgerichtlichen Urteils brauche nicht den Hinweis zu enthalten, daß die Berufung “auch” zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des SG. eingelegt werden könne. Die Erhebung der Klage zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des SG. stellt aber, wie aus § 90 SGG folgt, keine “Auch-Möglichkeit” dar, sondern weist auf eine der beiden Formen des Regelweges hin. Deshalb ist die Belehrung im Widerspruchsbescheid nur vollständig, wenn sie beide in § 90 SGG zugelassene Formen der Klageerhebung enthält. Es erübrigt sich, darauf einzugehen, daß der fehlende Hinweis auf die “Auch-Möglichkeit” für die Erhebung der Klage, wie sie in § 91 SGG eingeräumt ist, die Richtigkeit der Belehrung nicht berührt (vgl. Urteil des BSG. vom 14. 1. 1958, 11/8 RV 97/57).

Erfüllt hiernach die Belehrung in dem Widerspruchsbescheid nicht die Voraussetzungen des § 85 Abs. 3 Satz 2 SGG, so ist auch die Klagefrist nicht in Lauf gesetzt worden und die Klage somit nicht verspätet gewesen. Das LSG. hat daher mit Recht das Urteil des SG. aufgehoben und den Rechtsstreit zur sachlichen Entscheidung zurückverwiesen. Die Revision des Beklagten ist deshalb unbegründet; sie ist zurückzuweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 797379

BSGE, 16

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge